Voller geht immer2,85 Millionen Studierende im Wintersemester 2017/18
An einigen Hochschulen wird es sogar noch voller …
Mit historischen Rekorden verhält es sich wie mit Champagner. Kriegt man den ständig aufgetischt, schmeckt das Zeug bald ziemlich gewöhnlich. Wenn, wie jedes Jahr im November, das Statistische Bundesamt die neuen Studierendenzahlen bekanntgibt, beschleicht einen schon vorab ein Anflug von Langeweile. Nicht schon wieder ein „Allzeithoch“, das gefühlt hundertste in Serie – Gähn.
Wirklich aufputschend wirkt auch die aktuelle Wasserstandmeldung vom Dienstag nicht. Nach „ersten vorläufigen Ergebnissen“ der Wiesbadener Datensammler sind im laufenden Wintersemester 2017/18 rund 2.847 Millionen Studentinnen und Studenten an Deutschlands Hochschulen eingeschrieben – und damit abermals so viele wie nie zuvor. Verglichen mit dem Wintersemester 2016/17 stieg die Zahl um 40.800 oder 1,5 Prozent. Bis auf Nordrhein-Westfalen (NRW), Sachsen-Anhalt (beide minus 0,8 Prozent) und Thüringen (minus 1,5 Prozent) haben alle anderen Bundesländer entweder zugelegt oder wie im Fall Sachsen das Vorjahresniveau gehalten.
Tabelle: Studierende an Hochschulen in Deutschland
Jahr | Studierende1 | Studien- anfänger | Studien- anfängerquote3 |
20172 | 2.847.821 | 505.406 | 56,0 |
2016 | 2.807.010 | 509.760 | 56,7 |
2015 | 2.757.799 | 506.580 | 58,2 |
2014 | 2.698.910 | 504.882 | 58,3 |
2013 | 2.616.881 | 508.621 | 58,5 |
2012 | 2.499.409 | 495.088 | 55,9 |
2011 | 2.380.974 | 518.748 | 55,6 |
2010 | 2.217.604 | 444.719 | 46,0 |
2009 | 2.121.190 | 424.273 | 43,3 |
2008 | 2.025.742 | 396.800 | 40,3 |
2007 | 1.941.763 | 361.459 | 37,0 |
2006 | 1.979.445 | 344.967 | 35,6 |
Quelle: Statistisches Bundesamt, Vorläufige Schnellmeldungsergebnisse Hochschulstatistik, Wintersemester 2017/2018
1 Die Studierendenzahl bezieht sich auf das Wintersemester, das in das jeweils folgende Jahr reicht.
2 Vorläufige Zahlen
3 Anteil der Studienanfänger an der Bevölkerung des entsprechenden Geburtsjahres. Es werden Quoten für einzelne Geburtsjahrgänge berechnet und anschließend aufsummiert (sog. „Quotensummenverfahren“). Bevölkerung auf Basis früherer Zählungen, ab 2012 wurden Daten des Zensus 2011 berücksichtigt.
Doch kein Abbau Ost?
Das ist wenigstens eine „kleine Sensation“: Eigentlich war für sämtliche ostdeutschen Flächenländer mit einem Rückgang zu rechnen gewesen. Hintergrund sind neben der anhaltenden Abwanderungsbewegung aus Ostdeutschland politische Vorgaben, die Kapazitäten zurückzufahren. So will etwa der Freistaat Sachsen laut Hochschulentwicklungsplan bis 2025 ein Siebtel seiner Studienplätze abbauen. Hochschulen, die dem nicht nachkommen, müssen sogar nachträglich staatliche Zuschüsse zurückerstatten. Offenbar haben sich längst nicht alle Unis daran gehalten. Vor zwölf Monaten hatten noch vier der fünf neuen Bundesländer Einbußen verzeichnet.
Die größten Zuwächse verbuchen Hamburg mit 6,2 Prozent, Hessen und Schleswig-Holstein mit 3,9 Prozent, Berlin mit 3,8 Prozent, Bayern mit 3,5 Prozent und Bremen mit 3,4 Prozent. Im Mittelfeld rangieren Mecklenburg-Vorpommern mit einem Plus von 2,6 Prozent, Niedersachsen mit 2,3 Prozent und das Saarland mit 1,9 Prozent. Brandenburg (plus 0,1 Prozent), Baden-Württemberg (plus 0,3 Prozent) und Rheinland-Pfalz (0,8 Prozent) weisen nur geringfügige Steigerungen auf.
Der Abstieg von NRW, das im Vorjahr noch zur Spitzengruppe gehörte, erklärt sich durch eine veränderte Methodik bei der Erfassung von Privathochschulen. Verfügen die Einrichtungen über Zweigstellen in anderen Bundesländern, werden die betreffenden Studierenden neuerdings dort erfasst. Zieht man nur die staatlichen Hochschulen in Betracht, hat die Zahl der Studierenden sogar leicht angezogen. Zwar ließen die Einschreibungen an den Universitäten um 0,4 Prozent nach. Dafür studieren an den Fachhochschulen 1,6 Prozent und an den Kunst- und Musikhochschulen 3,5 Prozent mehr Menschen als noch vor zwölf Monaten.
Drei-Millionen-Marke in Reichweite
Immerhin ein Trend hat sich verfestigt. Die Zahl der Studienneulinge ist im zweiten Jahr in Folge rückläufig. Mit insgesamt 509.400 Ersteinschreibungen im Studienjahr 2017 waren es 0,1 Prozent weniger als im Vorjahr. Für den Vergleichszeitraum 2015/2016 hatten die Statistiker einen Schwund in derselben Größenordnung ermittelt. Geht es in diesem Schneckentempo weiter, muss man sich noch über Jahre auf insgesamt wachsende Studierendenzahlen einstellen. Solange weiterhin weniger Menschen die Hochschulen – mit oder ohne Abschluss – verlassen, als Neueinsteiger dazukommen, könnte der Bestand in wenigen Jahren die Drei-Millionen-Marke knacken.
Bezeichnenderweise bewegt sich die reale Entwicklung weiterhin über den Vorausberechnungen der Politik. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hatte in ihrer aktuellsten Prognose für den Zeitraum von 2014 bis 2025 für 2016 mit einem letzten Aufbäumen der Anfängerzahlen auf 506.000 kalkuliert. Danach wäre dann mit einem „allmählichen“ Abschmelzen zu rechnen. Tatsächlich verschätzt sich die KMK seit inzwischen mehreren Jahren ziemlich grob und es wäre an der Zeit, eine neue Prognose nachzulegen.
Hochschulpakt läuft aus
Das erscheint umso dringlicher, als schon im Jahr 2020 der sogenannte Hochschulpakt zur Finanzierung zusätzlicher Studienplätze ausläuft. Auch mit dem sogenannten Qualitätspakt Lehre ist in drei Jahren Schluss. Über eine Fortsetzung der Programme ist längst nicht entschieden. Wegen der absehbaren Hängepartie bei der Bildung einer neuen Bundesregierung wird die Zeit immer knapper. Alarm schlägt deshalb Kai Gehring von der Bundestagsfraktion der Grünen: „Nach dem Studierendenberg rauschen die Zahlen nicht wieder zu Tal, sondern wir bewegen uns auf einer ausgedehnten Hochebene“, erklärte er am Dienstag. Bund und Länder müssten den Hochschulpakt „fortsetzen, endlich verstetigen und besser ausstatten“. Der Nachfolgepakt sollte „das feste und dauerhafte Fundament einer besseren Grundfinanzierung der Hochschulen bundesweit bilden“.
Ähnlich äußerte sich Oliver Kaczmarek von der SPD-Bundestagsfraktion. „Wir wollen einen neuen Hochschulpakt, der auf Dauer angelegt ist und systematisch die Qualität der Lehre an allen Hochschulen sichert. Die Hochschulen brauchen eine langfristige Finanzierungsperspektive, um sicher planen zu können.
Ein Prof für 99 Studis
Erhöhter Handlungsbedarf besteht auch angesichts steigender Schülerzahlen. Das Statistische Bundesamt hat jüngst einen Anstieg bei den Neueinschulungen um 0,6 Prozent vermeldet. Auch für die kommenden Jahre rechnen Forscher mit immer mehr ABC-Schützen. Laut Bertelsmann-Stiftung ist die Politik auf den Boom nicht vorbereitet, kurz- und mittelfristig wären „Zehntausende zusätzliche Lehrer und Klassenräume“ erforderlich.
Aus Schülern werden bekanntlich irgendwann Studierende. Bräuchte es also nicht auch für die alsbald massenhaft neue Professoren und Seminarräume? Oder will man weitermachen wie bisher? Im bundesweiten Durchschnitt betreute 2005 ein Professor 62 Studenten. 2015 waren es schon knapp 73 Studenten. Schlusslicht ist NRW mit einem Verhältnis von 1:99. Auf Rekordniveau bewegen sich auch die Abbrecherquoten. Fast ein Drittel aller Studienneulinge verlässt die Hochschulen ohne Studienabschluss, was wiederum ursächlich mit der miserablen Betreuungssituation zu tun hat. Was, wenn weiterhin mehr junge Menschen an die Hochschulen strömen, als es die politisch Verantwortlichen wahrhaben wollen? Soll dann ein Prof für 200 Studenten zuständig sein und jeder zweite sein Studium hinschmeißen?
Anwesenheitszwang
Nur mehr Geld ins System zu pumpen, ist nicht der Ansatz der NRW-Regierung. Priorität hat für die parteilose Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, die Teilnahme an Lehrveranstaltungen wieder verbindlich zu machen – womit sie suggeriert: Die Studenten sind schuld an der Hochschulmisere. Die rot-grüne Vorgängerregierung hatte vor drei Jahren ein generelles Verbot der Präsenzpflicht durchgesetzt. Die seit fünf Monaten amtierende schwarz-gelbe Koalition will den Passus wieder aus dem Landeshochschulgesetz kippen. Künftig solle es den Hochschulen überlassen bleiben, ob sie die Anwesenheit ihrer Studierenden kontrollieren oder nicht. Mit einer ähnlichen Regelung, zumindest für bestimmte Seminare, liebäugeln auch die neuen Regenten von CDU, FDP und Grüne in Schleswig-Holstein.
Man kann über das Thema ernsthaft reden. Wie weit soll die Freiheit beim Studieren gehen oder sollte sie per se grenzenlos sein? Müssen Politik und Rektoren angesichts der Kosten für einen Studienplatz nicht ein Auge darauf haben, dass Student ein Maximum an Lernertrag herausholt? Sind Zwang und Gängelung nicht die falschen Berater, wenn es darum geht, den für sich persönlich richtigen Weg durchs Studium zu finden? Oder brauchen nicht manche notwendig einen Tritt in den Hintern, weil sie mit zu viel „Selbstbestimmung“ nichts geregelt kriegen? Könnten mehr Druck und Zwang vielleicht ein Betrag dafür sein, die immens hohen Abbrecherquoten zu drücken – im Sinne aller Beteiligten: der Unis, der Politik, der Wirtschaft und der Betroffenen selbst?
Diskussion zur Unzeit
Über all diese Fragen lässt sich diskutieren, allerdings in „normalen“ Zeiten. Mit Blick auf den seit etlichen Jahren herrschenden Ausnahmezustand an Deutschlands Hochschulen kommt die Diskussion zur Unzeit. Wenn sich zum Semesterstart hunderte Teilnehmer im Hörsaal drängeln und Dutzende auf dem Hosenboden Platz nehmen: Kann man diesen verübeln, dass sie beim nächsten Mal lieber wegbleiben? Wenn das Seminar komplett überfüllt ist und man sich in einer zwölfköpfigen Referatsgruppe tummeln muss: Darf man da nicht mit gutem Grund die Nase voll haben? Wer vier Wochen nach Studienbeginn immer noch nach einer bezahlbaren Bleibe auf dem leergefegten Wohnungsmarkt sucht: Soll derjenige den Besichtigungstermin sausen lassen, weil er sonst sein Kolloquium verpasst?
Man kann die Sache sogar umdrehen. Bestünde an deutschen Hochschulen ein flächendeckendes Präsenzgebot, wären die Zustände noch unzumutbarer, als sie es in weiten Teilen ohnehin schon sind. Man stelle sich vor, sämtliche Studierende, die sich heute die „Freiheit“ nehmen, nur sporadisch zu erscheinen oder sich gar nicht mehr blicken zu lassen, würden demnächst zwangsweise bei jedem Seminar und jeder Vorlesung auf der Matte stehen. Die jungen Leute bekämen dann quasi täglich aufs Brot geschmiert, dass für sie gar nicht genug Platz da ist und sie eigentlich nicht willkommen sind. Der Frust, den viele heute in sich hineinfressen, könnte damit absehbar zunehmen und, weil im größeren Kollektiv wahrgenommen, womöglich gar in Protest gegen die Verhältnisse umschlagen.
Antreten zum Protest!
Die Möglichkeit des Fernbleibens nimmt also in Wahrheit Druck aus dem Kessel und verschafft den politisch Verantwortlichen sogar Spielräume, die Probleme des in der Breite unterfinanzierten Hochschulsystems weiter auf die lange Bank zu schieben. Ohne substanzielle Verbesserungen der Lehrbedingungen, bei der räumlichen, personellen und technischen Ausstattung, sowie der sozialen Infrastruktur und Versorgung mit Wohnraum, geht eine Präsenzpflicht nach hinten los. Die Missstände behebt man damit nicht, sie verschärfen sich im Gegenteil und treten noch offener zu Tage. Während umgekehrt gilt: Bei optimalen Studienbedingungen, bei überschaubaren Seminaren und bester Betreuung, kommt Student gerne und freiwillig. Dann bedarf es auch keiner Anwesenheitspflicht und Studienabbrüche gäbe es am Ende bestimmt auch weniger. (rw)