Homeoffice statt HörsaalDigitalisierung von Uni und Schule
Digitalisierung der Bildung: So wohl nicht … aber wie?
Digitalisierung der Bildung: Wer will das warum?
Studis Online: In unserem Gespräch wird es auch darum gehen, wie doof oder klug Smartphones, Tablets und Computer sind, bzw. wie dumm oder schlau sie uns Menschen machen, die wir uns ihrer bedienen. Fangen wir mit dem Menschen und FDP-Vorsitzenden Christian Lindner an, der sich im Bundestagswahlkampf mit dem Spruch „DIGITAL FIRST. BEDENKEN SECOND.“ plakatieren ließ. Sollte man sich um diesen Herrn nicht doch besser sehr vordringlich Sorgen machen?
Ralf Lankau: Würde er sein Plädoyer wirklich ernst meinen, müsste man sich in der Tat um seine geistige Gesundheit sorgen und ihn postwendend als nicht zurechnungsfähig aus dem Verkehr ziehen. Wer die notwendige Reflexion über die Folgen von Digitaltechnik, also die klassische Technikfolgenabschätzung ausblenden will, kann weder politisch noch als Person ernst genommen werden. Andererseits passt das ins Bild. Deutschland ist im Digitalfieber: Digital-Agenda, Digitalgipfel, Digitalpakte. Die Art, wie diese Technik propagiert und abgefeiert wird, hat etwas von Heilslehre und einem Fetisch. Und auf dieser populistischen Pro-Digital- Welle, die von der IT-Wirtschaft und ihren Lobbyisten losgetreten wurde, reitet eben auch Lindner.
Also doch nur Berechnung, keine Dummheit?
Lindner ist nicht dumm. Es geht ihm um Aufmerksamkeit und darum, sich als Politmarke aufzubauen, getreu dem neoliberalen Selbstvermarktungsmotto: Mein Wahlkampf, mein Mandat, meine Karriere. Das Ego und die Karriere Einzelner stehen im Mittelpunkt, nicht politische Fragen und sozialverträgliche Lösungen. Und das heißt dann eben auch: Für das Erreichen der eigenen Ziele, darf man gerne auch das politische System beschädigen, koste es, was es wolle.
Die Digitalisierung soll den Steuerzahler ja einiges kosten. Nehmen wir nur den angekündigten sogenannten DigitalPakt#D, mit dem Bund und Länder Deutschlands Schulen flächendeckend mit modernster IT- und Breitbandtechnik ausstatten wollen. Das Projekt soll mal eben fünf Milliarden Euro verschlingen. Es wäre zu hoffen, dass der Bewilligung solcher Summen eine eingehende Kosten-Nutzen-Analyse vorausgeht. Wie ist das in diesem Fall?
Eine Kosten-Nutzen-Analyse gab es so wenig wie eine auch nur annähernd realistische Kalkulation. Fünf Milliarden Euro in fünf Jahren, das klingt nach viel Geld. Bei 33.500 allgemeinbildenden Schulen wären das pro Einrichtung und Jahr knapp 30.000 Euro. Nimmt man alle 44.000 Schulen, dann landet man bei etwas mehr als 22.000 Euro. Es gibt eine Studie der Bertelsmann-Stiftung mit zwei Szenarien. Im ersten teilen sich fünf Schüler einen Computer oder ein Tablet. Dabei ergäben sich nach den Berechnungen Ausgaben zwischen 538 Millionen und 1,03 Milliarden Euro pro Jahr. Im zweiten Fall hätten alle Schüler ein Endgerät. Dann wäre man schon bei 1,82 Milliarden bis 2,62 Milliarden Euro pro Jahr.
Der Deutsche Industrie und Handelskammertag (DIHK) hat gerade vorgerechnet, dass alleine die Berufsschulen pro Jahr 500 Millionen Euro beanspruchen, also 2,5 Milliarden in fünf Jahren und damit schon die Hälfte vom Digitalpakt. Ein Kostenrahmen weit über dem von fünf Milliarden Euro ergibt sich aus einer Kalkulation des Städtetags Baden-Württemberg. Die Erstausstattung für die Schulen im Südwesten würde demnach mit mindestens 1,8 Milliarden Euro in zwei Jahren zu Buche schlagen. All die Bespiele zeigen: Das mit den fünf Milliarden Euro ist Augenwischerei.
Wie verhält es sich mit dem Nutzen? Politik und Wirtschaft bauen ja darauf, dass sich die Digitalisierungsoffensive auf lange Sicht rentieren wird, etwa in Gestalt besser qualifizierter Schulabgänger, Lehrlinge und Studierender. Gibt es dafür irgendwelche belastbaren Belege?
Unser Interviewpartner Ralf Lankau, Jahrgang 1961, ist Professor für Mediengestaltung und Medientheorie an der Hochschule Offenburg. Er leitet dort die grafik.werkstatt an der Fakultät Medien und Informationswesen, forscht zu Experimenteller Medienproduktion in Kunst, Lehre und Wissenschaft und publiziert zu Design, Kommunikationswissenschaft und (Medien-) Pädagogik. Lankau betreibt das Projekt „futur iii – digitaltechnik zwischen freiheitsversprechen und totalüberwachung“ und ist Mitinitiator des „Bündnisses für humane Bildung – aufwach(s)en mit digitalen Medien“. Von Lankau erschien Anfang Oktober im Beltz-Verlag: „Kein Mensch lernt digital: Über den sinnvollen Einsatz neuer Medien im Unterricht“
Eben nicht und das macht den Ansatz vollends absurd. Schon die berühmte Metaanalyse „Visible Learning“ des neuseeländischen Pädagogen John Hattie, hat gezeigt, dass Rechner und Software in Schulen nichts bringen. Eine PISA-Sonderauswertung der OECD-Studie „Students, Computers and Learning“ ergab, dass die in den vergangenen zehn Jahren getätigte Investitionen in die IT-Ausstattung der Schulen keine nennenswerten Verbesserungen der Schülerleistungen in Lesekompetenz, Mathematik oder Naturwissenschaften erbrachten.
Selbst in einer Telekom-Studie steht, was auch bei Hattie zu lesen ist: „Die verstärkte Nutzung digitaler Medien führt offensichtlich nicht per se zu besseren Schülerleistungen. Vielmehr kommt es auf die Lehrperson an.“ Andreas Schleicher, OECD-Direktor für Bildung, formulierte es in einem Interview mit einer australischen Zeitung so: „Wir müssen es als Realität betrachten, dass Technologie in unseren Schulen mehr schadet als nützt.“
Aber woher nehmen die Bundesregierung und mit ihr fast der ganze Politikbetrieb bis hinein in die Reihen der politischen Linken die Überzeugung her, dass Bildung und digitale Medien wie selbstverständlich zusammengehören? Normalerweise vertrauen doch Union, FDP, Grüne und SPD auf die Urteilsfähigkeit der OECD – gerade auch im Nachgang des deutschen PISA-Desasters.
Ich würde das nicht Überzeugung nennen. Claus Pias hat in seiner „Kurzen Geschichte der Unterrichtsmaschinen“ das Scheitern der Geräte im Unterricht aufgezeigt. Verdient hat an dieser Lerngutprogrammierung, den Lehrstoffdarbietungsgeräten und Robbimaten aber immer jemand. In der Diskussion zeichnen sich im Wesentlichen zwei Lager ab. Wer mit der Digitalisierung von Schulen und Unterricht Geld verdienen will – Hard- und Softwareanbieter, IT-Dienstleister, App-Entwickler, Medienpädagogen oder Lehrmittelanbieter –, plädiert für den möglichst frühen Einsatz von Digitaltechnik in der Schule oder sogar schon in der Kita. Early-High-Tech-Strategie nennt meine Kollegin Paula Bleckmann das.
Wer hingegen Kinderärzte, Kognitionswissenschaftler, Suchtforscher oder Pädagogen fragt, bekommt als Einstiegsalter zehn bis zwölf Jahre genannt. Diese am Kindeswohl und den natürlichen Entwicklungsstadien orientierten Berufsgruppen favorisieren die High-Touch-Strategie. Damit ist die unmittelbare, reale Welterfahrung mit allen Sinnen und die direkte Beziehungserfahrung gemeint. Wer weiß, dass die ersten zehn Lebensjahre für die Entwicklung eines Menschen entscheidend sind, wird einschätzen können, ob Absatzmärkte für Digitaltechnik darüber bestimmen sollten, ab welchem Alter die Geräte in der Schule eingesetzt werden oder doch besser die leibliche und geistige Gesundheit der Kinder.
Soll heißen: Die Politik bezieht hier ziemlich deutlich die Position der Industrie?
Ja, hier haben die IT-Lobbyisten ganze Arbeit geleistet. Es gibt ja keinen Politiker mehr, der nicht auf dem Digitalisierungszug mitfährt. Das ist kollektives Brainwashing. Bildung, Gesundheit, Verkehr, Wissenschaft, überall gilt die „Heilslehre des Digitalen“, überall werden die BUZZwords – Disruption, Innovation, Startups – übernommen. Schauen Sie sich die Kampagnen, Websites und Arbeitspapiere aus den Ministerien an und die der IT-Unternehmen. Da weiß man gar nicht mehr, wer was geschrieben hat.
Wissen wenigstens Sie, wer aus der IT-Wirtschaft wem aus der Politik wie zuarbeitet – und umgekehrt?
Nehmen wir den 10. Nationalen IT-Gipfel in Saarbrücken 2016. In dessen Vorfeld hatte Bundesbildungsministerin Johanna Wanka den Digitalpakt#D zum ersten Mal angekündigt. Parallel dazu publizierte die Scheer Holding GmbH in Kooperation mit dem Feldafinger Kreis das „Saarbrücker Manifest“. Dessen Initiator und Mitautor August-Wilhelm Scheer hat zusammen mit Frau Wanka den Vorsitz der formal vom BMBF gegründeten IT-Gipfel-Plattform „Digitalisierung in Bildung und Wissenschaft“ inne, die den Digitalpakt#D verantwortet. Der zweite Autor ist Leiter des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Dieses bietet „intelligente Lösungen für die Wissensgesellschaft“ an, die Grundlage für automatisierte und personalisierte Lernmanagementsysteme, wie sie in Schulen und Betrieben eingesetzt werden sollen. Die Plattform selbst versammelt Vertreter aller großen IT-Firmen und Verbände: von Bitkom, der Gesellschaft für Informatik (GI) über Microsoft bis SAP, Telekom und Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik (HPI).
Das HPI hatte bereits eine funktionierende Schul-Cloud im Angebot, noch ehe über deren pädagogischen Nutzen diskutiert oder rechtliche Fragen zum Datenschutz geklärt worden wären. Die Politik wurde auf dem Gipfel sogar aufgefordert, den Datenschutz neu zu regeln, damit keine „Innovationen“ verhindert oder auch nur verzögert würden. Die Bundeskanzlerin formulierte dann auch brav: Restriktiver Datenschutz könne „heute nicht die generelle Leitschnur sein für die Entwicklung neuer Produkte“. Und der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel befand mal eben, „dass wir uns endgültig verabschieden müssen von dem klassischen Begriff des Datenschutzes“.
Digitalisierung der Lehre schon in der Grundschule oder noch früher?
Sie sprachen es an: Fast die versammelte Zunft der Kinderärzte wendet sich gegen Bestrebungen, Tablets und Smartphones im Schulbetrieb einzusetzen und warnt vor „deutlichen gesundheitlichen und psychologischen Beeinträchtigungen“ der Heranwachsenden. Daran sollte doch eigentlich nicht einmal der Industrie gelegen sein. Die braucht doch Arbeitskräfte, die wenigstens unfallfrei bis zehn zählen können …
Es ist schizophren. Das Sucht- und Steuerungspotenzial der digitalen Medien ist höher als bei jedem anderen Medium. Die freundliche Erklärung wäre die, dass die Befürworter nicht darüber reflektieren, da sie selbst mit diesen Geräten und Diensten arbeiten und glauben möchten, Kinder und Jugendliche müssten früh lernen, damit umzugehen. Andere plappern die Digitalpropaganda einfach nach, die ja omnipräsent ist. Ohne Smartphone oder auch nur ohne Netz halten sich viele für gar nicht mehr lebensfähig.
So wie die ganzen Teenager, die immer und überall auf ihr Display stieren. Greift es nicht zu kurz, solche Phänomene nur unter dem Aspekt „Sucht“ zu verhandeln, wie es etwa die Drogenbeauftragte der Bundesregierung macht? Mit ein paar Hunderttausend Internetjunkies kann sich die Gesellschaft doch gut arrangieren. Aber was ist mit den Millionen anderen, auch erwachsenen Menschen, für die Facebook, Twitter und WhatsApp längst fest zum Leben gehören?
Zunächst ein Wort zum üblichen Umgang mit Sucht. In der Prävention wird über Drogen und Alkohol aufgeklärt, ohne Drogen zu verteilen oder Alkohol auszuschenken. Im Verkehrsunterricht lernen Kinder richtiges und sicheres Verhalten im Straßenverkehr, ohne mit acht oder zehn Jahren den Führerschein zu machen. Wieso klärt man also nicht in der Schule zunächst über die Gefahren der neuen Medien und darüber auf, wie diese funktionieren, und macht sich erst dann an die Praxis, wenn die Schüler reif dafür sind? Deshalb müssen Präventionsexperten an die Schulen und Jugendschutzbeauftragte der Polizei. Schließlich gibt es kein Kindernetz und die Erwachsenenwelt ist immer nur einen Klick entfernt.
Ich sprach davon, dass beim Thema viele Ahnungslosigkeit im Spiel ist. Es gibt aber auch die weniger freundliche Interpretation: Wenn man Hänschen an Bildschirm und Computerstimme früh gewöhnt, folgt Hans der synthetischen Stimme später von ganz alleine. Das ist zwar inhuman, entspricht aber der Humankapitaltheorie, wonach Menschen nach Bedürfnissen und Bedarf der Industrie in Lernfabriken zugerichtet werden. Übrigens nur die Kinder der anderen. Die eigenen Kinder schicken die wohlhabenden IT-Entwickler und Startup-Gründer im Silicon Valley vorwiegend in Montessori-Kindergärten und Waldorfschulen – ohne Computer.
Dann lieber weiter mit Tafel, Kreide und Stuhlkreis. Leute wie Sie sind heute als technophob, rückwärtsgewandt und als Antimodernisierer verrufen. Stört Sie das?
Weil ich vor etwas warne, das unseren Kindern schadet? Smartphones und Tablets sind keine Lehrmittel, sondern elektronische Geräte der Unterhaltungsindustrie, mit denen man surfen, chatten und chillen, aber kaum konzentriert arbeiten kann. Die App-Anbieter tun auch alles, damit man möglichst oft und lange online ist. Smartphones sind der Traum jedes Werbepsychologen und Marketingers: Man kann live miterleben und mitspeichern, was Menschen rund um die Uhr so tun, wo sie sind, mit wem sie kommunizieren, was sie im Netz suchen oder machen. Tablets und Smartphones sind Dauerüberwachungsinstrumente und die Daten der heutigen Nutzer die Ausgangsbasis dafür, die Angebote und Steuerungsmechanismen zu optimieren. Wir erleben derzeit das weltweit größte Experiment am lebenden Objekt. Die Nutzer selbst aber glauben an kostenlose Dienste – einfach genial.
Auch mit den Konzepten Arbeit 4.0 und Industrie 4.0 verbinden sich heutzutage praktisch nur frohe Botschaften und angeblich „riesige Chancen und Potenziale“. Dabei ist absehbar, dass das Ganze auf ein riesiges Arbeits(platz)vernichtungsprogramm hinausläuft. Sollte man den DigitalPakt#D nicht ebenso in diesem Kontext denken?
„Industrie 4.0“ ist ein Schlagwort aus der Hightech-Strategie des BMBF aus dem Jahr 2012 und das Ziel die „intelligente“, das heißt vollständig automatisierte und menschenleere Fabrik. Das lässt sich weiter spinnen: In vollautomatisierten „Lernfabriken 4.0“ wird das „Werkstück Mensch“ von der Kita über Schule und Hochschule bis zur Erwachsenenbildung automatisch von Lernstation zu Lernstation geführt, wo von Algorithmen berechnete Lerneinheiten und Übungen die gewünschten Kompetenzen vermitteln und umgehend abprüfen.
Die Lernenden an Bildschirm oder Display werden dafür kleinteilig psychometrisch mit Kamera und Mikrofon aufgezeichnet, vermessen und ausgewertet. Algorithmen bestimmen aufgrund der Leistungsfähigkeit, Geschwindigkeit, Fehlerquote, Frustrationstoleranz und anderer Parameter die zu erreichenden Lernziele. Die Software prüft, ob die angestrebten Kompetenzstufen erreicht werden, und „empfiehlt“ einen Beruf, ein Studienfach – oder steuert die Lerninhalte nach dem aktuellen Bedarf an Arbeitnehmern.
Das klingt doch sehr stark nach Science-Fiction und dazu reichlich dystopisch. Das ist aber Ihr voller Ernst?
Wir steuern geradewegs darauf zu. Im Moment sind wir in der Testphase. Google, Apple und Co. bieten den Schulen jetzt schon ganze Klassensätze an Hard- und Software kostenlos an und werten die Daten aus. Im nächsten Schritt können Arbeitgeber oder Lobbyisten jeglicher Couleur die Anbieter von Lehrmitteln beauftragten, die jeweils gewünschten Inhalte einzubinden. Nach der Hardware und den Systemen werden die Inhalte privatisiert – die Google-Schools lassen grüßen. Wer sich heute als Schule an solchen Projekten beteiligt, sollte wissen, dass die Softwareanbieter gerade Feldversuche zur Automatisierung des Unterrichts machen, ohne es zu sagen. In Phase eins werden Lehrkräfte geschult, die Kindern beibringen, am Rechner zu arbeiten. In Phase zwei läuft die Beschulung automatisch per Rechner und synthetischer Computerstimme.
Und wo bleiben dabei die Pädagogen?
Lehrerinnen und Lehrer verschwinden einfach – das ist das Ziel. Sie werden ersetzt durch billigere Sozialarbeiter oder Sozialcoaches, ein paar Psychologen für ausrastende Kinder und ansonsten Systemtechniker, die die IT-Systeme am Laufen halten und optimieren. Das lässt sich nachlesen bei Jose Ferreira und seinem System „Knewton“ oder bei Fritz Breithaupt und seiner „Talking Method“: Kinder, Jugendliche, Erwachsene sitzen in Fabrikhallen vor Displays, den Kopfhörer auf und eine synthetische Computerstimme in den Ohren.
Das Irre ist: Das alles wird als Individualisierung vermarktet und ist doch nur die Zurichtung durch Algorithmen. Es ist reiner Frontalunterricht und kleinteilige Kontrolle, wird uns aber als personalisiertes Lernen verkauft. Software kann aber weder personalisieren noch individualisieren. Algorithmen haben keine Vorstellung von einer Person oder einem Individuum, sondern nur von Regelprozessen. Dahinter stehen die Modelle der Kybernetik und des Behaviorismus. Ziel ist es, die Probanden zum vorgesehenen und abprüfbaren Ergebnis zu bringen.
Wenn es wirklich so kommt, wie Sie es beschreiben, dann braucht es künftig ja auch keine Lehrerausbildung mehr und keine Pädagogikprofessoren, keine Hörsäle …
Richtig. Für „Bildung 4.0“ braucht man keine Lehrkräfte, sondern Rechner. Das ist zugleich die wissentliche und vorsätzliche Deqalifizierung von Lehre und Unterricht als Verständigungs- und Verstehensprozess. Aus einem pädagogischen und didaktischen wird nach diesen Modellen ein Produktionsprozess von abprüfbaren und einsetzbaren Kompetenzen.
Digitalisiertes Lernen an den Hochschulen
Wo wir schon bei den Hochschulen sind. Wohin, denken Sie, führt der Weg der altehrwürdigen Alma Mater?
Für die Hochschulen gilt das gleiche wie für die öffentlichen Schulen. Wir erleben eine industriegetriebene Umwandlung von Bildungs- zu Ausbildungseinrichtungen. Statt Allgemeinbildung wird immer stärker auf berufsvorbereitende Kompetenzen und zweckgebundene Berufsbildung umgestellt. „Bildung“ wird zwar als an sich positiv besetzter Begriff überall postuliert, ist aber inhaltlich vollständig entwertet und verzweckt – im Sinne von Selbstoptimierung für den Arbeitsmarkt. Dazu passt das modularisierte Studium, das Abrechnen in ECTS-Punkten und Zeitstunden, Dauerevaluationen und Kennzahlenfixierung. Auch die Uni wird eine automatisierte Lernfabrik – nicht zuletzt, weil die Lehrenden sich weder gegen den Bologna-Prozess noch gegen die betriebswirtschaftlichen Maxime des Total Quality Management (TQM) wehren. Und das, obwohl bekannt sein müsste, dass diese Methoden der produzierenden Industrie für soziale Einrichtungen nicht funktionieren und kontraproduktiv, weil im Wortsinn „asozial“ sind.
Dieser Tage war zu lesen, dass an der Uni Marburg ein Sprachwissenschaftler seine Seminare neuerdings an der Seite eines Roboters abhält. Haben Sie dafür noch Worte?
Was dieser Roboter so kann und macht, ist nur noch albern. Wochenlang wird programmiert und herumexperimentiert, damit dieser Pepper „Guten Tag“ sagen und ihn Studierende fragen können, wann die Klausur ist und wie man sich dafür anmeldet. Schon als Vokabeltrainer ist das Gerät nicht sonderlich effizient, weil jede per Hand geschriebene Lernkarte für den Lernerfolg mehr bringt als ein Bildschirm und eine Computerstimme. Aber für den Rat, sich Lernkarten zu schreiben, bekommt man weder Geld noch Aufmerksamkeit in den Medien.
Für mich ist das ein typisches Beispiel für die „Abschaffung der Hochschulen durch ihre Vertreter“. Hier lässt sich ein Hochschulangehöriger – wissentlich oder nicht – für externe Partikularinteressen instrumentalisieren. Heutzutage bekommt man Forschungsgelder und Drittmittel nur für Pro-Digital-Projekte, nicht für die so notwendige Technikfolgenabschätzung.
Für die Hochschulen in Nordrhein-Westfalen plant die neue und parteilose Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen die Wiedereinführung der Anwesenheitspflicht von Studierenden, welche die rot-grüne Vorgängerregierung im Namen der Studierfreiheit abgeschafft hatte. Die Präsenzuni ist offenbar doch nicht so einfach totzukriegen oder wie beurteilen Sie diese Intervention?
Nach meiner Erfahrung ist die Präsenz für bestimmte Prozesse der Kommunikation und des Dialogs absolut notwendig. Wir können als Dozenten und Studierende nur zusammenarbeiten, wenn alle Beteiligten vor Ort sind und sich aktiv am Lehr- und Lernprozess beteiligen. Bei einem Studium geht es ja nicht nur um Fach-, Bestands- oder Repetitionswissen, sondern um das Lernen als Prozess in einem Fach oder Fächerkanon als Disziplin und dem sozialen Miteinander als Diskurs und Erfahrung. Die wichtigsten Erfahrungen in meinem Studium waren deshalb auch die Begegnungen mit Menschen und ihren Gedanken, Ideen und Vorstellungen.
Davon bliebe wenig übrig, wenn sich Student demnächst nur per PC, Tablet oder Smartphone in den „Hörsaal“ einloggt oder irgendwelche Lernsoftware durchackert.
Für ein reguläres Studium sind die Präsenz auf dem Campus und das soziale und kooperative Miteinander entscheidend. Wer glaubt, sich alles mit Massive Open Online Courses (MOOC) beibringen zu können, sollte es probieren. Es gibt Menschen, die so diszipliniert und zielstrebig sind. Das sind aber Personen, die bereits studiert haben und sich weiterbilden bzw. weiterqualifizieren wollen. Der Anteil der sogenannten Selbstlerner liegt statistisch bei unter fünf Prozent. Ansonsten bewegen sich die Abbrecherquoten bei Onlinekursen zwischen 90 bis 98 Prozent. Das ist sicher keine Alternative zum Präsenzstudium.
Die Präsenzuni hat auch die Qualität, dass Sie Menschen zusammenbringt, während ein Onlinestudium die Menschen physisch und damit wohl auch mental voneinander trennt.
Natürlich vollzieht sich mit dem Vormarsch der digitalen Medien auch ein Prozess der Entkollektivierung, Vereinzelung und Entsolidarisierung. So ist zum Beispiel auch die Funktion dieser MOOC primär eine soziale Selektion, die da lautet: Schau, Du kannst alle Kurse belegen und die Onlineprüfungen machen. Die Prüfungen kosten Geld, aber Du kannst beim Bestehen Zertifikate für Bewerbungen sammeln und zeigen, dass Du willig bist. Die Besten bekommen vielleicht sogar ein Stipendium. Wer es nicht schafft, ist selbst schuld und kann sich nirgends beschweren. Das Versagen wird an das Individuum delegiert. Das ist perfide, weil Onlinekurse kein Studium ersetzen können und auch Studierende an Präsenzunis bei reinen Onlineangeboten scheitern würden.
Meine Erfahrung ist, dass junge Menschen, die direkt von der Schule kommen, die immer noch vielen Freiheiten des Studierens mitunter eher als „Freiheit vom Studieren“ nutzen und erst später begreifen, dass die Freiheiten des Studierens bedeutet, sich selbst zu organisieren, sich selbst Fragen zu stellen und Ziele zu setzen. Ein Studium ist eine Aufforderung zu Selbständigkeit und zunehmender Freiheit durch eigenständiges Arbeiten, Entscheiden, Handeln.
Über Sie ist auch zu erfahren, dass Sie den Einsatz der neuen Medien im Bildungsbetrieb nicht rundweg verteufeln. Unter welchen Bedingungen könnte in Ihren Augen der Gebrauch sinnvoll sein?
Ich verteufele weder alte noch neue Medien. Unterricht ist ohne Medien ja gar nicht möglich. Man muss nur alle Medien im Fokus haben. Was ich kritisiere, ist zweierlei: Zum einen wird der Einsatz digitaler Medien im Unterricht nicht von den Schülern und vom Unterrichten her gedacht, sondern von den Technikanbietern. Das Zweite ist, dass bei allen Onlinemedien durch den permanenten Rückkanal alle Nutzerdaten und Aktionen gespeichert und für Lernprofile ausgewertet werden. Während aber das Speichern von Daten an und zwischen Schulen in den USA verboten ist – dafür gibt es den Children`s Online Privacy Property Act, COPPA – werden Daten deutscher Schülerinnen und Schüler einfach ins Netz gespeist, wenn man Dienste wie Google, Facebook oder WhatsApp nutzt.
Aber auch in geschlossenen und verschlüsselten Netzen wie der Hasso-Plattner-Schul-Cloud werden Schülerdaten ausgewertet. Wir brauchen daher als erstes verbindliche juristische Regeln, wie mit Schülerdaten umgegangen werden darf, wer darauf Zugriff hat, für welche Zwecke, wie lange. Ich plädiere dafür, Daten Minderjähriger grundsätzlich weder tracken noch auswerten zu dürfen. Wir wollen doch keine Lernkontrollsysteme installieren, oder?
Was wäre eine für Sie wünschenswerte Alternative?
Um Informationstechnik in Schulen einsetzen zu können, braucht ist eine ganz andere Philosophie: Datensparsamkeit und Dezentralisierung mittels lokaler Netze, lokale Server, verschlüsselter Datenübertragung zwischen kooperierenden Schulen, Hacker-Projekte und Workshops für Medienprojekte statt Learning Analytics. Wir sollten Lernsoftware eher wie Schulbücher oder andere Lehrmittel einsetzen. Wer will, kann damit lernen und üben. Aber niemand kontrolliert und protokolliert, wer welche Bücher wie lange liest.
Wir brauchen zweitens eine eigene technische Infrastruktur, um keine US-Dienste nutzen zu müssen. Das heißt konkret: Schulen vom Netz, bis wir unsere Hausaufgaben gemacht haben. Und auch danach sollten wir die Rechner so konfigurieren, dass an den Schulen nur dort mit ihnen gearbeitet werden kann, wo es fachlich und didaktisch sinnvoll ist – aber eben offline, mit lokal installierter Software, ohne Netzanbindung. Dann funktionieren zwar die Geschäftsmodelle der Lehrmittelanbieter nicht mehr, aber das ist nicht mein Problem als Pädagoge.
Das hieße dann auch, Schluss mit dem Digitalpakt#D, bevor es richtig damit losgegangen ist?
Natürlich. Das ist ein Fünfjahresplan mit Zwangsdigitalisierung und Zwangsweiterbildungen für Lehrkräfte, mit Vorgaben an die Rektorate, Digitaltechniken verpflichtend einzusetzen und mit Eingriffen in die Methodenfreiheit der einzelnen Lehrkraft. Das hat den Charme autoritärer und zentralistischer Systeme, als die man Digitalmonopole ja auch sehen kann.
Wir erleben seit Langem, dass Schulen systematisch und vorsätzlich unterfinanziert sind, um sie anfällig für solche Lockangebote zu machen. Wer Schulen unterstützen will, muss es den Schulen überlassen, wofür das Geld ausgegeben wird – Musikinstrumente, Sportgeräte, Bücher oder auch Hardware, um daraus Rechner zu bauen. Statt Zentralisierung und Steuerung braucht es Lokalisierung und Ausrichtung an den Bedürfnissen vor Ort. Dann entsteht Vielfalt, dann sind Schulen wieder soziale Lernorte statt Lernfabriken und Zurichtungsanstalten.
(rw)