Karlsruhe prüft Wartezeiten für MedizinanwärterKlage gegen Vergabeverfahren bei Medizin
Die Warteschlangen beim Medizinstudium sind (zu) lang … ist das verfassungswidrig?
Studis Online: Vor über fünf Jahren haben Sie Studis Online ein Interview aus Anlass des 40. Jahrestages des sogenannten Numerus-Clausus-Urteils gegeben, welches das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am 18. Juli 1972 gefällt hatte. In dem Gespräch war seinerzeit auch die Rede davon, dass die Karlsruher Richter „alsbald“ per Grundsatzurteil über die Regularien bei der Vergabe von Medizinstudiengängen zu befinden hätten. Demnächst ist es endlich soweit. In der Vorwoche hat das höchste deutsche Gericht per Pressemitteilung den mündlichen Verhandlungstermin in der Sache auf den 4. Oktober datiert. Wieso hat sich die Angelegenheit am Ende doch so lange hingezogen?
Wilhelm Achelpöhler: Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen (VG), das bundesweit für alle Klageverfahren gegen die Stiftung für Hochschulzulassung zuständig ist, hatte erstmals vor fünf Jahren das Bundesverfassungsgericht angerufen, weil es der Ansicht war, dass das Vergabeverfahren verfassungswidrig sei. Keine fünf Monate später befand Karlsruhe, die Vorinstanz hätte ihren Vorlagebeschluss nicht ordentlich begründet. Zum Beispiel fehle es an der Auseinandersetzung mit Urteilen anderer Gerichte oder der rechtswissenschaftlichen Literatur. Dabei gibt es gar keine anderen Gerichte oder Aufsätze oder Bücher, die bis dahin mit dem Vergabeverfahren befasst gewesen wären. Wir haben dann trotzdem weiter in Gelsenkirchen gegen „Hochschulstart“ geklagt. Und zwei Jahre später, also 2014, haben die VG-Richter das Bundeverfassungsgericht erneut angerufen. Diesmal mit einem 100seitigen Vorlagebeschluss, der die traurige Wirklichkeit des Numerus Clausus in aller Ausführlichkeit beschreibt.
Haben Sie angesichts dieser Vorgeschichte große Hoffnung, dass sich Karlsruhe jetzt wirklich ernsthaft mit der Materie auseinandersetzen will?
Davon gehe ich aus. Dafür spricht etwa, dass das Bundesverfassungsgericht alle oberen Bundesgerichte und verschiedene Verbände um eine Stellungnahme zu dem Vorlagebeschluss gebeten hat.
Worum geht es konkret bei den zu behandelnden Klagen?
Eine Klägerin hat 2009 ihr Abitur mit der Note 2,0 gemacht und sich gleich um einen Studienplatz für Humanmedizin beworben – erfolglos. Seitdem wartet sie auf einen Studienplatz. In der Zwischenzeit hat sie eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin gemacht, aber das wird bei der Vergabe von Studienplätzen nicht berücksichtigt. Der andere Kläger hat sein Abitur 2010 mit 2,6 gemacht, auch er hat sich erfolglos beworben und in der Wartezeit eine Ausbildung zum Rettungssanitäter und Rettungsassistenten gemacht. Auch er wartet und wartet.
Mit welchen Aussichten?
Das kann man nicht wissen, weil sich die Lage immer weiter zuspitzt. Wer sich im Oktober 1999 beworben hatte, der konnte nach vier Semestern einen Studienplatz bekommen. 2012 waren es dann schon zwölf Wartesemester, zuletzt im Sommersemester 2017 sogar 15.
Das Verwaltungsgericht hat diese Zustände als nicht mehr verfassungsgemäß erklärt, deshalb ja auch der Anruf des Bundesverfassungsgerichts. Was, wenn Karlsruhe die Einschätzung bestätigt?
Schon vor 45 Jahren hatte Karlsruhe erklärt, dass sich „ein absoluter Numerus Clausus, der zum Ausschluss eines erheblichen Teils hochschulreifer Bewerber vom Studium ihrer Wahl führt, am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren bewegt“. Damals meinten viele, den NC dürfe es nur für eine Übergangzeit geben. Allerdings hatte das Gericht es damals ausdrücklich abgelehnt, den Staat zur Schaffung von mehr Studienplätzen zu verpflichten. Die Frage ist jetzt: Hält Karlsruhe an seiner früheren Rechtsprechung fest, dass jeder mit Abitur zumindest eine Chance auf einen Studienplatz haben muss. Oder arrangiert man sich mit dem nun schon fast 50 Jahre andauernden Missstand? Geht es nur um eine gerechtere Mangelverwaltung oder muss der Staat im Rahmen des Möglichen die Studienkapazitäten ausweiten? Das gegenwärtige Vergabeverfahren jedenfalls ist kollabiert und wird keinen Bestand haben.
Der Schlüssel beim zentralen Vergabeverfahren für die Studiengänge Human-, Zahn- und Tiermedizin sowie Pharmazie sieht ja wie folgt aus: 20 Prozent der Plätze erhalten die Bewerber mit den besten Abiturnoten, 20 Prozent jene mit den meisten Wartesemestern. Die übrigen 60 Prozent vergeben die Hochschulen auf eigene Faust. Nach welchen Kriterien tun die Unis das?
Vielfach allein aufgrund der Note, auf jeden Fall hat sie „maßgeblichen Einfluss“.
Hier setzt die Kritik der VG-Richter an, weil dabei unberücksichtigt bleibt, dass es je nach Bundesland erhebliche Unterschiede bei der Benotung gibt. Ein Abitur aus Thüringen ist durchschnittlich um eine halbe Note „besser“ als eines aus Niedersachsen. Dieser „kleine“ Unterschied kann dann schon mal siebeneinhalb Jahre Warten bedeuten.
Glauben Sie, die Richter können sich zu mehr als nur kleineren Korrekturen durchringen?
Ich kann mir gut vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht verlangt, neben der Wartezeit und der Note andere Kriterien stärker zu berücksichtigen – wie etwa eine entsprechende Berufsausbildung.
1977 hatte Karlsruhe die Grenze zumutbarer Wartezeiten mit der Länge der Regelstudienzeit beziffert. Geht es vielleicht dahin zurück?
Die Wartezeitzulassung drückt ja aus, dass jeder eine Zulassungschance haben soll. Wenn Karlsruhe dabei bleibt, sind 7,5 Jahre sicher unzulässig. Kürzere Wartezeiten sind aber nur machbar, wenn es mehr Studienplätze gibt. Ich bin aber nicht sehr optimistisch, dass das Gericht den Gesetzgeber dahingehend in die Pflicht nimmt. Deshalb halte ich es für wahrscheinlicher, dass die Chance auf den Studienplatz durch die Berücksichtigung anderer Kriterien gewährleistet wird.
Wie groß ist momentan die Kluft zwischen den Kapazitäten bei den Humanmedizinern und dem tatsächlichen Bedarf?
Die Differenz ist enorm. Sie drückt sich zum Beispiel darin aus, dass allein im Jahr 2016 per Saldo 3.810 Ärzte aus dem Ausland angeworben wurden. Für die Ausbildung dieser aus Ländern wie Syrien, Bulgarien oder Rumänien „importierten“ Kräfte hat der deutsche Staat keinen Cent bezahlt. Schließlich kostet ein Studienplatz in Humanmedizin hierzulande 32.000 Euro im Jahr. Rechnet man das hoch, hat Deutschland durch den „Ärzteimport“ im Umfang nur eines Jahres mal eben 800 Millionen Euro gespart. Dass die Bäuerin in Bulgarien keinen Arzt mehr findet, spielt dagegen keine Rolle, auch nicht, dass bisweilen fehlende Sprachkenntnisse den Austausch zwischen Arzt und Patient nicht gerade erleichtern. Im Gegenzug wurden in Deutschland immer mehr Medizinstudienplätze abgebaut. 1990 gab es davon noch 11.037, mit der DDR kamen noch einmal 2.000 dazu. Heute sind es noch 10.804 Plätze, also weniger als zu BRD-Zeiten.
Unser Interviewpartner Wilhelm Achelpöhler ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht und Spezialist für Hochschulrecht. Während seines Studiums war er Studentenvertreter im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA), nach seinem Studium und Referendariat Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Münster. Er ist Partner der Sozietät Meisterernst Düsing Manstetten in Münster, die seit den 1970er Jahren mehrere Tausend Studierende „eingeklagt“ hat.
Das rechnet sich …
Ja, der Abbau von über 2.000 Plätzen bringt eine jährliche Ersparnis von fast 70 Millionen Euro. Dazu kommt noch: Die Kosten der Ausbildung werden zunehmend privatisiert. Derzeit studieren allein in Ungarn rund 2.000 Deutsche Humanmedizin, gegen erhebliche Studiengebühren von 10.000 Euro pro Jahr. Einige Tausend mehr studieren in Österreich, Tschechien, Lettland, Rumänien, Bulgarien. Wer sich das nicht leisten kann, muss eben warten. Die Privatisierung der Ausbildung geht mit der Privatisierung von Krankenhäusern Hand in Hand. Hamburg hat erst seine Krankenhäuser privatisiert, jetzt erledigt dort die Semmelweis Universität Budapest die Ausbildung im klinischen Teil des Studiums. Pro Nase werden dabei 62.400 Euro fällig. Aus staatlichen Krankenhäusern und staatlichen Ausbildungsangeboten werden so private Krankenhäuser mit Studiengebühren. Soviel zur Kritik der politischen Ökonomie des Ausbildungssektors.
Wie konnte es soweit kommen? Geht es wirklich nur ums Geld?
In erster Linie ja. Aber: Rund 1.000 Studienplätze ließen sich ziemlich einfach mit Maßnahmen schaffen, die nichts kosten. Dazu drei Beispiele. Der Anteil der Arbeitszeit, mit der sich Professoren der Lehre widmen müssen, unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland. Mal sind es acht Semesterwochenstunden, mal neun. Das entspricht umgerechnet circa einem Studienplatz pro Jahr und Professor. Zweitens müsste man mit der unsinnigen Umwandlung unbefristeter in befristete Stellen für wissenschaftliche Mitarbeiter aufhören. Eine Umwandlung kostet jedes Jahr ungefähr vier Studienplätze. Und schließlich könnten mehr Krankenhäuser in die praktische Ausbildung eingebunden werden. Denn im zweiten Abschnitt der Ausbildung können die Professoren ihre Lehrverpflichtung meist gar nicht erfüllen, weil es an Patienten fehlt. Gleichzeitig weigern sich aber die Hochschulen, Kooperationsverträge mit Klinken zu schließen.
Warum werden diese Maßnahmen nicht ergriffen?
Der Trend zur Befristung von Arbeitsverhältnissen ist ja nicht nur auf den Hochschulbereich beschränkt und von der Politik zwecks Verbilligung der Arbeitskraft zur „Förderung des Standorts Deutschland“ gewollt. Wenn es nicht mehr Kooperationen mit anderen Krankenhäusern gibt, dann liegt das daran, dass mehr Ausbildung am Patienten auch mehr Zeit für die Lehre und weniger Zeit für anderes bedeuten. Aber die Verwaltungsgerichte lassen das den Hochschulen durchgehen, weil das geltende Recht keinen „Kapazitätsverschaffungsanspruch“ kenne.
Angenommen, Karlsruhe fällt ein vergleichsweise hartes Urteil, das die Politik teuer zu stehen kommt. Werden dann nicht gleich auch wieder die Rufe nach Studiengebühren laut? Nach dem Motto: Was Ungarn macht, sollte Deutschland genauso machen.
Ungarn erhebt die hohen Gebühren ja nur für die deutschsprachige Studiengänge, nicht für die ungarischen. Werden mehr Studierende in Deutschland ausgebildet, dann erhöht das erst einmal die Lebenschancen junger Menschen hier, aber auch die Versorgungsqualität auf dem Land. In manchen Kreisen stammen schon 80 Prozent der Assistenzärzte aus dem Ausland. Mit Studiengebühren hat das aus meiner Sicht gar nichts zu tun. Der Staat kann sich Mehreinnahmen ja durch eine vernünftige Steuerpolitik besorgen. Allein mit dem Geld, das Nordrhein-Westfalen mit dem Ankauf von Steuersünder-CDs eingenommen hat, ließe sich die komplette Ausbildung von über 3.000 Ärzten finanzieren.
Inzwischen sind viele Studiengänge, also auch die nicht zentral vergebenen, mit Zulassungsbeschränkungen belegt. Das geht soweit, dass in manchen Studiengängen Wartezeiten von 20, 30 und mintunter über 60 Semestern aufgerufen werden. Könnte der kommende Karlsruher Richterspruch auch Auswirkungen auf diese Gesamtproblematik haben?
Rekordwartezeit: 64 Semester
Die meisten Wartesemester, die uns begegnet sind, gab es in den letzten Jahren bei einzelnen Studienangeboten der Sozialen Arbeit. An der HAW München werden bei der Variante BASA-Online (Fernstudium) 64 Semester Wartezeit nach dem Hauptverfahren ausgewiesen. Die nebenstehende Erläuterung unseres Interviewpartners gilt hier in besonderem Maße.
Solche Wartezeiten gibt es, wenn es nur wenige Plätze in der Wartezeitquote gibt. Wenn etwa nur 20 Plätze für Studienanfänger da sind, dann kann es sein, dass über die Wartezeit nur zwei Leute zugelassen werden. Das sind dann Bewerber, die nie studiert haben und das Studium als Weiterbildung im Beruf sehen. Aber unabhängig davon: Ein Richterspruch aus Karlsruhe hat sicher allgemeine Bedeutung für alle Studiengänge. Vor 45 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner NC-Rechtsprechung eine „Magna Charta“ des Rechts auf Bildung begründet. Gerade dann, wenn das Gericht nicht nur eine bessere Mangelverwaltung verlangt, sondern den Mangel selbst kritisiert, können alle profitieren. Sonst bleibt eine Bildungspolitik „am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren“ auch die nächsten Jahre ein Dauerzustand.
(rw)
Hinweis: Der Artikel wurde erstmals am 17.08.2017 veröffentlicht und am Tage der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht leicht angepasst.
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