Prädikat NullachtfünfzehnUnis im Zeichen der Noteninflation
Zu gute Noten?
Studis Online: Sie finden also, dass sich an Deutschlands Hochschulen viel zu leicht viel zu gute Noten einheimsen lassen. Sagen Sie das mal den Heerscharen an Gescheiterten, die jedes Jahr zu Tausenden ihr Studium vorzeitig hinschmeißen.
Gerd Grözinger: Ach, eigentlich bin ich gar nicht so skeptisch, das vermitteln zu können. Denn die Aufnahme eines Studiums ist immer auch ein Test, ob man tatsächlich zu dem Fach passt. Ich selbst habe übrigens zwei Mal gewechselt, bis ich das für mich Richtige fand. Und weder im internationalen noch im Vergleich zu den Abbruchquoten bei der beruflichen Bildung stehen die deutschen Hochschulen allzu schlecht da.
Außerdem sagen wir auch gar nicht, dass das Problem darin liegt, dass zu leichte Aufgaben gestellt werden, sondern dass in der Bewertung häufig zu wenig differenziert wird. Und schließlich haben wir nur die Noten der Absolventen betrachtet. Eine Statistik zu den Abbrechern und Wechslern existiert nämlich auch gar nicht.
Wenn Sie in ihrer Studie im Zeitverlauf eine „Noteninflation“ konstatieren, dann schwingt da ja mindestens begrifflich „Abwertung“ mit. Für eine Zweier-Leistung vor 20 Jahren gibt es heute eine 1,5, so wie man fürs Geld von damals heute deutlich weniger bekommt. Ist Ihre Untersuchung da nicht auch eine Abrechnung mit dem akademischen Leistungsverfall?
Noch einmal: Wir können eigentlich nichts über den Inhalt oder das Niveau der Prüfungen sagen, sondern nur: Wenn in Fächern über die Hälfte der Absolventen eine Abschlussnote von 1 aufweisen – bei den Diplom-Noten Biologie und Psychologie war das zuletzt so –, dann hat diese 1 nicht mehr wirklich eine Aussagekraft. Unter diesen Absolventen finden sich aber sicherlich etliche, die keinen Vergleich mit einer früheren Altersgruppe mit einer 1 scheuen müssen, aber vermutlich eben auch andere.
Als Beleg dafür, dass Studierende und Absolventen heute schlicht besser sind als noch vor 20, 30 Jahren, wollen Sie ist Ihre Studie aber auch nicht verstanden wissen?
Unsere Befunde erlauben weder diesen noch den gegenteiligen Schluss. Aber selbst wenn wir entsprechende Informationen hätten, wäre das für unser Herangehen irrelevant. Es geht hier um die sogenannte Bezugsnorm. Sollten Noten die persönliche Entwicklung widerspiegeln oder einen festen Wissenskanon oder sollten sie eine relative Stellung in einer bestimmten Kohorte darstellen. Wir meinen, an Hochschulen kann nur das letztere gelten.
Einmal noch nachgehakt: Läuft das allmähliche Verschwinden von „Leistungsdifferenzierung“, das Sie ja beklagen, nicht in die Richtung einer „Gleichmacherei“ auf am Ende niedrigerem Level?
Die Hochschulforschung sagt, wir haben Studierende mit eher intrinsischer Motivation, die auf Eigenantrieb beruht, und solche mit eher extrinsischer Motivation, die mehr von Äußerlichkeiten bestimmt ist. Die erste Gruppe ist von einer Noteninflation vermutlich weniger betroffen, bei den anderen bin ich mir nicht so sicher. Wenn ich vorwiegend an einer guten Note interessiert bin, diese aber auch mit etwas geringerer Leistung erhalten kann – Warum sich dann besonders anstrengen?
Unser Interviewpartner Gerd Grözinger ist Professor für Sozial- und Bildungsökonomik an der Europa-Universität Flensburg. Von ihm und Mitherausgeber Volker Müller-Benedict, Professor für Forschungsmethoden und Statistik an der Uni Flensburg, war im März im Verlag Springer VS das Buch „Noten an Deutschlands Hochschulen. Analysen zur Vergleichbarkeit von Examensnoten 1960 bis 2013“ erschienen.
Sie sprachen die Fächer Biologie und Psychologie an, in denen ja fast schon traditionell eher milde benotet wird. Wie zeigt sich das im Zeitverlauf?
In der Tat gehört die Psychologie zusammen mit der Biologie zu den Fächern, die im Diplom – und nur bei diesen älteren Abschlüssen haben wir sehr lange Zeitreihen – praktisch nur 1 und 2 vergeben. Trotzdem sehen wir auch hier über die Zeit noch einen Trend der Verbesserung. Der Übergang zum Bachelor-Abschluss wurde dann jedoch genutzt, wieder ein Stück weit in Richtung Normalität bei der Benotung zu gehen. Aber der Master-Abschluss ist dann wieder viel besser und schon erneut auch etwas inflationär. Die beiden letzten Beobachtungen sind übrigens praktisch überall zu sehen: Bachelor-Noten sind schlechter als die bei den Altabschlüssen, Master-Noten dagegen besser.
Wie schätzen Sie das ein?
Ich halte das für problematisch. In der Lehrerbildung mit ihren vielen Absolventen etwa bedeutet das eine erhebliche Verbesserung im Übergang von Staatsexamen zum Master, der ja zum Eintritt in das Referendariat berechtigt. Das heißt aber, die einstellenden Behörden haben nun einen manifesten Informationsverlust, was die Einschätzung der Bewerber angeht.
Haben Sie eine Erklärung dafür, dass einzelne Fächer seit jeher so viel „besser“ abschneiden als andere?
Das können wir gar nicht gut beantworten. Vermutlich sind das vorwiegend Fachkulturen. Dazu kommen Fachspezifika, wie der Anteil eher formaler Prüfungsformen über einen festen Kanon von Wissen.
Während es in anderen Fächern, allen voran in Jura, gerade umgekehrt ist …
Richtig. Jura hat mit dem stark von außen dominierten Staatsexamen tatsächlich eine Sonderstellung.
Ihre Studie ist sehr umfassend und wurde eigens durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Wie sind Sie vorgegangen?
Wir haben drei Dinge getan: Einmal sind wir in Hochschularchive gestiegen und haben für ausgewählte Fächer und Universitäten 138.000 Prüfungsakten seit 1960 ausgewertet. Dann besteht seit 1996 eine amtliche Absolventenstatistik, die auf Individualangaben beruht. Das waren so etwa 5,3 Millionen Fälle. Und schließlich wurden noch Gruppendiskussionen mit Prüfern durchgeführt. So ergaben sich auch unterschiedliche methodische Zugänge, etwa Trendberechnungen im ersten Fall oder Regressionen über mögliche Einflüsse im zweiten.
Welche Fächer haben Sie unter die Lupe genommen?
In den Archiven haben wir die universitären Fächer Jura, BWL, VWL, Deutsch Lehramt, Mathematik Lehramt, Germanistik MA, Mathematik, Soziologie MA, Maschinenbau, Chemie, Biologie, Psychologie betrachtet. In den Gruppendiskussionen entsprechend Germanistik und Mathematik einschließlich Staatsexamen. Und bei der amtlichen Statistik Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemie, Biologie, Mathematik, Jura, Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften, Erziehungswissenschaften, Germanistik, Geschichte, Sozialwesen.
Haben Sie für all diese Fälle eine „Noteninflation“ ermittelt oder gibt es doch Ausnahmen?
Die gibt es durchaus auch. Bei unseren Fächerbetrachtungen im Längsschnitt und ausgewählten Universitäten haben wir keine Noteninflation bei Jura, Maschinenbau, Germanistik und Soziologie gefunden, wohl aber bei den anderen (vgl. Schaubild). Das dabei sichtbare Verhältnis – etwa zwei Drittel verbessern sich im Notenniveau über die Zeit – gilt auch für die kürzere untersuchte Periode mit mehr Fächern und allen Hochschulen.
Haben sich dabei auch Unterschiede zwischen Universitäten und Fachhochschulen ergeben?
Ja, sowohl im Niveau wie im Trend. In den überlappenden Fächern Maschinenbau, Elektrotechnik, Wirtschaftswissenschaften gibt es an den FHs mittlerweile die besseren Noten. Das ist natürlich besonders bei den Bachelor-Abschlüssen sehr problematisch, weil diese Note bei der Zulassung zu einem Master-Studium so bedeutend ist. Noch ein anderer Einfluss zeigt sich in unserer Regressionsanalyse, nämlich dass private Hochschulen mit eigener Notenvergabe durchschnittlich bessere Noten vergeben als staatliche Einrichtungen. Da wir für viele andere Einflüsse kontrollieren, wie etwa das Betreuungsverhältnis, vermuten wir, dass hier schon ein gewisser Tausch Studiengebühren gegen gute Noten stattfindet.
Sie haben im allgemeinen Langzeittrend einer „Verbesserung“ der Noten auch kürzere antizyklische Phasen ausgemacht, in denen für kürzere Zeiträume Abweichungen nach oben und unten erfolgten. Was steckt hinter dem Phänomen?
Bei ungünstiger Arbeitsmarktlage oder Überfüllung in Studiengängen werden die Noten schlechter. Entspannt sich die Situation, gehen auch die Noten wieder nach oben. Aber die Verbesserung ist insgesamt etwas stärker, was in der Summe zu einem Notenanstieg führt. Das ist wie beim Autofahren mit dem Wechsel von Gasgeben und Bremsen. Ist ein Impuls immer ein bisschen stärker als der andere, verändert sich die Durchschnittsgeschwindigkeit.
Und wie erklären Sie sich diese Abweichungen? Haben Professoren und Dozenten also immer die aktuelle Arbeitsmarktsituation im Hinterkopf?
Ziemlich sicher Nein. Aber es kann trotzdem als implizites Wissen wirken. Wir konnten sogar einen statistischen Einfluss der regionalen Arbeitslosigkeit aufzeigen. Aber auch ich hätte – bevor ich das wusste – bestimmt bestritten, dass ich so etwas jemals bewusst in meine Benotungen habe einfließen lassen.
Haben Sie eine andere Erklärung für die Schwankungen?
Wir vermuten, der Widerstand vor allem von Studierenden ist dafür verantwortlich, dass die Noten am Ende wieder zum Trend zurückfinden. Die Leute wissen natürlich so in etwa, wie es mit der Benotung in den Jahren vorher aussah. Und dann stehen sie eben bei den Lehrenden auf der Matte, um sich zu beschweren, wenn es plötzlich mal anders läuft.
Welche Rolle könnten angesichts der allgemeinen „Notenverbesserung“ politische Vorgaben spielen?
Es gibt vielleicht einen gewissen Druck, Durchfallquoten nicht allzu hoch werden zu lassen. Aber die Notengebung interessiert eigentlich niemanden so wirklich in Ministerien oder Hochschulleitungen. Auch die regelmäßigen deskriptiven Darstellungen des Wissenschaftsrats und seine Warnungen vor zu guten Noten in manchen Fächern sind immer ziemlich verpufft.
Es war ja Anfang der 2000er Jahre das große politische Ziel, die Akademikerquote hochzutreiben, was ja dann auch klappte, so sehr, dass die Hochschulen heute komplett überfüllt sind und manch einer über den „Akademisierungswahn“ klagt. Der Trend zu immer besseren Zensuren und Abiturnoten ist ja auch an den Schulen unverkennbar. War es vielleicht eine Voraussetzung, das Abi abzuwerten, damit es mehr junge Leute an die Uni schaffen?
Wir haben auch den Konstanzer Studierendensurvey zu Abiturnoten ausgewertet. Da sieht man eine erhebliche Noteninflation. Sie beginnt jedoch viel früher, nämlich schon in den 1970er Jahren. Das ist aber ein ganz eigenes Thema, das mehr die Schulforschung berührt.
Aber sehen Sie nicht auch einen Zusammenhang zwischen „besseren“ Schul- und „besseren“ Hochschulabschlüssen?
Auf jeden Fall dürften bessere Abiturnoten auch vieles an der Inflationstendenz im Hochschulsektor erklären. Die Studierenden kommen einfach mit einer anderen Erwartungshaltung an. Eine 2,0 wird plötzlich zum Problem, wenn das Abitur eine 1,7 war. Und Dozenten sehen auch an ihren Kindern, was in der Schule üblich ist, und fragen sich natürlich, warum soll ich jetzt die Mühe auf mich nehmen, andere, schlechtere, Bewertungsmaßstäbe durchzukämpfen.
Ihr Kollege Volker Müller-Benedict schreibt in einer Mitteilung Ihrer Universität, Noten führten sich durch die Inflation „irgendwann selbst ad absurdum, denn Leistungsdifferenzierung ist irgendwann nicht mehr möglich“. Wenn Noten aufgrund unterschiedlicher Kulturen nicht vergleichbar wären, „führt das auch zu Ungerechtigkeit“. Die Stimmen, die für die Abschaffung von Noten, angefangen in der Schule, plädieren, werden ja immer lauter. So wollen Sie Ihre Studie aber nicht gedeutet sehen, oder?
Nein. Noten sind von beschränkter Aussagekraft. Wir haben sowohl vermutlich leistungskonforme wie leistungsfremde Einflüsse gefunden. Aber sie abschaffen zu wollen oder nur durch „Bestanden“ oder „Durchgefallen“ zu ersetzen, führt zu drei Problemen: Erstens fehlte den Studierenden die Rückmeldung über ihre Leistungen. Zweitens kommt es bei den stärker extrinsisch Motivierten zu einem Verlust an Motivation, ins Studium mehr als nur das Minimum zu investieren. Und drittens werden dann für Arbeitgeber Ersatzinformationen übermäßig bedeutsam, etwa „hat noch andere Zertifikate erworben“, „hat gleich zwei Auslandsaufenthalte“, „spricht sieben Sprachen“ etc. pp. Das heißt, die Konkurrenz via Differenzierung verlagert sich nur.
Welche Maßnahmen schlagen Sie vor, um der Entwicklung zu begegnen?
Fachkulturen sind schwer zu ändern und Wissenschaft ist zu dynamisch und vielfältig, um standardisierbare Aufgaben hervorzubringen. Was aber geht und gemacht werden sollte, ist mehr Transparenz zu schaffen. Erstens sollten fachbezogene Notendurchschnitte jährlich auf Bundesebene veröffentlicht werden. Zweitens sollten die individuellen Zeugnisse auch Angaben über die Notenverteilung in diesem Fach an dieser Hochschule in diesem Jahr enthalten. Und drittens sollten noch die Noten einzelner Lehrveranstaltungen in den Kollegialorganen besprochen werden. Es wäre auch für die Studierenden von Vorteil zu wissen: Es gibt an meiner Hochschule so eine gewisse allgemeine Vorstellung von Verteilung und Niveau und nicht jede neue Lehrveranstaltung ist wieder eine Wundertüte voller Überraschungen. Mit der Umsetzung dieser drei Vorschläge wäre schon viel gewonnen.
(rw)