Pädagogen braucht das LandFehlgesteuerter Lehrerarbeitsmarkt
In einigen Bundesländern sind LehrerInnen für bestimmte Schularten und -fächer aktuell dringend gesucht.
Wie es nicht funktioniert, zeigt sich exemplarisch in Hessen. Dort leiden aktuell vor allem die Grund- und Förderschulen unter massivem Personalmangel. Damit der Betrieb nicht zusammenbricht, zaubert Kultusminister Alexander Lorz (CDU) immer wieder neue Maßnahmen aus dem Hut. So sollen etwa Quereinsteiger in großem Stil für den Schuldienst gewonnen werden oder ausgebildete Gymnasial-, Haupt und Realschullehrer mit der Aussicht auf eine rasche Verbeamtung zu einer Umschulung animiert werden. Ferner will die Landesregierung Ruheständler zurück in den Beruf locken oder Pädagogen, die kurz vor der Rente stehen, ein längeres Engagement schmackhaft machen.
Aber die Sache funzt nicht so richtig: Im Januar hatte Lorz knapp 2.180 potentielle Kandidaten angeschrieben, wovon sich bislang aber nur 300 zurückgemeldeten. Und davon seien wiederum nicht alle positiv gewesen, teilte das Ministerium dieser Tage mit. Wieviel Kräfte wieder an die Schule zurückkehren wollten, ließe sich derzeit nicht genau sagen. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kommentierte: „Viele Lehrer sind einfach froh, in den Ruhestand gehen zu können“ und wollen „nicht die Troubleshooter für eine verfehlte Einstellungspolitik“ abgeben.
Im Sommer arbeitslos
Kurz&knapp
(Großer) Bedarf
Nach Fächern:
Mathematik, Informatik, Physik, Technik, z.T. auch Musik und Kunst
Nach Schulart:
Grundschule (besonders heftig in Sachsen, Thüringen und Berlin), z.T. Mittelschule; bundesweit Sonder-/Förderpädagogik, Berufsschulen
Nach Bundesland:
Bayern, Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen (jeweils vor allem in den genannten Schularten)
Kaum Bedarf
Deutsch, Geschichte, Geografie, Religion (jeweils vor allem Gymnasium; Religion in Hessen an Gymnasien offenbar durchaus gesucht)
Ohne Gewähr! Und sowieso nur eine Momentaufnahme.
Das trifft es. Denn Hessen ist nicht nur in punkto Lehrermangel „spitze“. Nach Baden-Württemberg belegt es bundesweit auch den zweiten Platz bei der sogenannten saisonalen Arbeitslosigkeit von Lehrkräften. Inzwischen ist es praktisch in allen Bundesländern schlechte Gewohnheit, Nachwuchspädagogen zum Schuljahrsende vor die Tür zu setzen, um sie nach Ablauf der Sommerferien an gleicher Stelle wieder einzustellen – mit Befristung für ein Jahr, versteht sich. Die Zwangspause überbrücken die Betroffenen auf Kosten des Arbeitsamtes bzw. der Beitragszahler, während die Landeskasse geschont wird. 2015 dürften so nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) republikweit rund 7.000 Lehrer in die Ferienerwerbslosigkeit genötigt worden sein.
Neuere BA-Zahlen für Hessen belegen, dass sich die Methode bei der Landesregierung wachsender Beliebtheit erfreut. 2013 gab es noch 759 Leidtragende, danach wurden es mit jedem Jahr mehr, im Vorjahr schließlich 1.102. Wer die Mühle einmal durchgemacht hat, sich von einer Befristung zur nächsten zu hangeln und dazwischen um Arbeitslosengeld zu betteln, nimmt aus der Situation Reißaus, sobald sich die Gelegenheit bietet. Deshalb sollte sich Kultusminister Lorz auch nicht wundern, wenn ihm jetzt Tausende Lehrkräfte fehlen und kein Ersatz aufzutreiben ist. Viele Jungpädagogen werden längst das Weite gesucht haben, dorthin, wo man sie nicht als Sparstrumpf missbraucht. Entsprechend äußerte Wolfgang Greilich von der FDP-Fraktion in Wiesbaden: „Das ist ein schlechtes Signal im Wettbewerb Hessens mit den anderen Ländern um die besten Lehrer.“
Massenhaft Quereinsteiger
„Beste Lehrer“ zu „besten Arbeitsbedingungen“ gibt es indes kaum noch irgendwo. Heute müssen Eltern schon froh sein, wenn man ihren Kindern überhaupt noch einen echten Lehrer vorsetzt. Tatsächlich kann heute so ziemlich jeder unterrichten, der nur irgendetwas studiert hat. Mit dem nötigen Wechselwillen und ein bisschen didaktischem Rüstzeug stehen einem praktisch alle Türen offen. Die Bundesvereinigung der Oberstudiendirektoren an Gymnasien (BDK) hat jüngst in einer Pressemitteilung darauf hingewiesen, wie verbreitet mittlerweile das Phänomen des Quer- und Seiteneinstiegs im deutschen Schulwesen ist. Demnach verfügten von 29.000 neu eingestellten Lehrkräften im Sommer 2016 nahezu zehn Prozent über keine pädagogische Ausbildung.
„Dramatische“ Zustände verzeichnet der Verband Insbesondere an den Grundschulen. So seien in Berlin 40 Prozent, in Brandenburg 36 Prozent und Sachsen sogar 52 Prozent der neuen Kräfte keine examinierten Lehrer. Das wecke „große Befürchtungen um den Bildungsstand des Schülernachwuchses“. Vor allem bei Schlüsselqualifikationen wie Lesen, Schreiben und Rechnen zeichneten sich erhebliche Defizite ab. Auch an den Gymnasien, insbesondere in Mangelfächern wie Mathematik, Informatik, Physik oder Kunst, seien zahlreiche Aushilfslehrer und Quer- oder Seiteneinsteiger im Einsatz, „die nach einem Hochschulstudium auf unterschiedliche Art und Weise pädagogisch nachqualifiziert werden“.
Pädagogikcrashkurs reicht
Keine Frage: Auch Lehrer auf dem zweiten Bildungsweg sind mitunter hervorragende Pädagogen. Der Garant für Qualität in der Breite kann gleichwohl nur eine professionelle Lehramtsbildung mit einem Höchstmaß an pädagogischer Expertise sein. Welche Frau würde sich gerne die Nägel von einem umgeschulten Hufschmied machen lassen? Oder welcher Mann seinen Porsche in die Hände einer gescheiterten Philosophiestudentin geben? Die Beispiele sind überspitzt. Nur muss man sich vor Augen führen: Es geht hier um Kinder, darum, was und wie man ihnen etwas beibringt. Aber die politisch Verantwortlichen tun so, als könnte man deren Ausbildung und Erziehung jedem Hansel überlassen, sofern der sich nur berufen fühlt und einen Crashkurs in Pädagogik vorweisen kann.
„Damit werden ganzen Schülergenerationen pädagogische Fachkräfte vorenthalten“, kritisiert die BDK und weist auf „das grundsätzliche Problem der nachlassenden Attraktivität des Lehrerberufs“ hin. Dessen Profil müsse wieder geschärft und auf das „Kerngeschäft“ ausgerichtet werden. „Der Lehrer ist kein Sozialpädagoge und kein Schulpsychologe“, vielmehr brauche es „multiprofessionelle Teams an den Schulen mit Sozialarbeitern, Psychologen, Integrationshelfern, Verwaltungsassistenten und Lehrern als Bildungsprofis“. Dafür und „um den Schülerinnen und Schülern die ihnen zustehende Lernzeit zu erhalten, müssen „zwingend zusätzliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden“.
Abwerbungswettkampf
Mangelndes Geld ist das eine, vor allem bräuchte es aber: Steuerung. Dass gleich vielerorts der Notstand ausgebrochen ist – in Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Berlin, dazu in allen neuen Bundesländern – kommt nicht von ungefähr. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hatte schon vor mehr als einem Jahrzehnt vor einem mittel- und langfristigen Schwund an Pädagogen infolge einer gewaltigen Pensionierungswelle in der Größenordnung von mehreren Hunderttausend gewarnt. Statt aber quantitativ und qualitativ in die Lehrerausbildung zu investieren und den Beruf attraktiver zu machen, geschah vielerorts das genaue Gegenteil: Den Lehrern wurden noch mehr Aufgaben aufgeladen (Inklusion, Ganztagsbetreuung, Integration von Flüchtlingen), sie müssen mehr Schüler und mehr Stunden pro Woche unterrichten und werden bei alledem – allen voran die Angestellten – vergleichsweise schlecht bezahlt.
Dazu kam noch ein aberwitziger Abwerbungswettkampf: Die Länder versuchen sich seit Jahren, gegenseitig die Pädagogen abzujagen, sei es mittels Gehaltsaufbesserung oder Sofortverbeamtung auf Lebenszeit. Damit mag sich die Versorgung lokal und regional verbessert oder wenigstens stabilisiert haben, dafür rissen dann andernorts neue oder noch größere Löcher auf. Ilka Hoffmann, zuständig für den Bereich Schule im GEW-Hauptvorstand, sieht derzeit die größten Engpässe bei den Grundschulen. Wie sie gegenüber Studis Online erklärte, sei die Lage „besonders prekär“ in Sachsen, „ernst“ sähe es in Thüringen und Berlin aus. „Sonderpädagoginnen und -pädagogen fehlen fast überall“, in vielen Bundesländern würden auch Lehrkräfte für Mathe, Physik und Musik gebraucht. Die Hauptursachen wären das „Fehlen ausreichender Ausbildungskapazitäten“ sowie das Versäumnis, „das Grundschullehramt durch eine bessere Bezahlung attraktiver zu machen“.
Bayern ganz „innovativ“
Anschauungsunterricht in Sachen „Planlosigkeit“ liefert Bayern. Im Freistaat sind zum neuen Schulhalbjahr fast 600 Absolventen fürs Lehramt am Gymnasium bei der Stellensuche leer ausgegangen. Dagegen besteht in allen anderen Schulformen, also Mittel-, Grund-, Förder- und Berufsschulen, akuter Personalmangel. In der Not ist praktisch jedes Mittel recht, wie Mitte März GEW-Sekretär Bernhard Baudler schilderte: „In Eggenfelden wurde einer Schulbegleiterin eine Klassenleitung übertragen. Woanders haben Eltern eine Grundschulstudentin als Unterrichtsvertretung mobilisiert. In einem anderen Regierungsbezirk wurden sogenannte Drittkräfte ohne jeden Lehramtsbezug eingestellt. Andernorts vertreten Förderlehrerinnen die Klassenleiterinnen, was sie eigentlich nicht dürften.“
Als Hauptgrund für die Missstände nannte Baudler das „krampfhafte Festhalten am zergliederten Schulsystem“. Eine nachhaltig wirkende Maßnahme wäre es dagegen, mit der auf Schularten zugeschnittenen Lehrerausbildung Schluss zu machen. Die GEW setzt sich für eine auf Altersstufen ausgerichtete Ausbildung sowie das gleiche Einstiegsgehalt für alle Lehrkräfte ein, unabhängig von der Art der Schule, an der sie unterrichten. Die Staatsregierung setzt dagegen auf die Umschulung von Gymnasial- und Realschullehrern zu Grundschul- und Mittelschullehrern. Das wird laut Baudler „schlecht angenommen, auch weil die Bezahlung an Mittelschulen viel schlechter ist und die Arbeitsbedingungen deutlich verbessert werden müssten“.
Engpässe an Gymnasien
Die Schulartenfixierung bei der Ausbildung samt ungleicher Bezahlung ist ein Manko. Verwerfungen ergeben sich überdies durch die unkoordinierte Fächerwahl. Während etwa Gymnasiallehrer gemäß Kultusministerkonferenz (KMK) in Deutsch, Geschichte, Geografie oder Religion schlechte Karten beim Berufseinstig haben, werden Absolventen der sogenannten MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) oft mit Kusshand genommen. Die BDK geht im Übrigen schon jetzt davon aus, „dass die Lehrerlücke in wenigen Jahren die Gymnasien aller Bundesländer treffen wird“.
Die Fehlsteuerung oder vielmehr die Abwesenheit von Steuerung im bildungsföderalistischen System unterstreicht die KMK in schöner Regelmäßigkeit mit ihrer Prognose zum „Lehrereinstellungsbedarf und -angebot“. In der letzten Fassung vom Juni 2015 liest sich dies wie in sämtlichen Vorgängerversionen so: „Politische Entwicklungen beeinflussen maßgeblich die beiden Größen Angebot und Bedarf.“ Dazu kämen „die in einem ständigen Wandel befindlichen Rahmenbedingungen, welche sich durch unterschiedliche, jeweils landeseigene Beschlüsse oder Entwicklungen im Bereich Bildung (wie z. B. Senkung der Klassenhöchststärke, Inanspruchnahme von Altersteilzeiten, vorzeitiges Ausscheiden der Lehrkräfte vor Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Schuldienst, Befristung von Arbeitsverträgen, Entwicklung des Anteils von Teilzeitbeschäftigung, Veränderung des Regelstundenmaßes der Lehrkräfte, Ausbau der Ganztagsschulangebote oder Einführung des achtjährigen Gymnasiums) manifestieren können“.
Vertretungseltern
Daraus folgt: Solange jedes einzelne Bundesland sein eigenes Ding macht und solange Schul- und Bildungspolitik wie praktisch sämtliche Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge unter dem Kürzungsgebot einer auf Entstaatlichung eingeschworenen neoliberalen Agenda steht, bleibt Unordnung eine feste Größe. Könnte die Politik zum Beispiel nur dahin kommen, sich auf eine bundeseinheitliche Vorgabe zu einigen, was unter „auskömmlicher Unterrichtsversorgung“ zu verstehen ist oder wie viele Schüler eine Lehrkraft maximal betreuen sollte, wäre schon manches gewonnen. Legt jedes Land exklusiv für sich fest, was „gute Schule“ (schlechte Schule) ausmacht, ergeben sich jeweils ganz spezifische, je nach Haushaltslage unterschiedliche und beliebig veränderliche Erforderlichkeiten. Die Messlatte sind dabei allerdings nicht das Kindeswohl sowie beste Lern- und Arbeitsbedingungen für Schüler und Lehrer, sondern „Sachzwänge“ wie die „Schuldenbremse“ oder die „schwarze Null“.
Was dabei rauskommt, zeigt aktuell ein Fall im rheinländischen Langenfeld. An der örtlichen Don-Bosco-Grundschule kümmern sich derzeit 16 Lehrkräfte um 265 Schüler. Weil das hinten und vorne nicht reicht, bat Schulleiterin Christiane Johnen die Eltern in einem Brief, kranke Pädagogen bei Bedarf in Zweierteams zu vertreten. Die Bezirksregierung Düsseldorf pfiff Johnen zurück. Das sei zwar eine kreative Idee, aber rechtlich nicht zu machen. So viel Ordnung muss sein. (rw)