Alles voll – alles still?Über 2,8 Millionen Studierende im Wintersemester 2016/17
Kaum zu glauben, aber an den Hochschulen ist es zum Wintersemester noch etwas voller geworden …
Moin Moin, Grüß Gott, Hereinspaziert. Und ewig grüßt der Uniportier. Gäbe es so einen, käme der aus dem Händeschütteln gar nicht mehr raus. Bei zwei Millionen achthundertsechstausend und dreiundsechzig Gästen macht der Arm irgendwann schlapp. Die Mammutzahl ist keine Erfindung, sie ist echt und taufrisch. Präsentiert hat sie am Freitag das Statistische Bundesamt in Wiesbaden. Demnach tummeln sich derzeit nach ersten, noch vorläufigen Ergebnissen über 2,806 Millionen Studentinnen und Studenten an Deutschlands Hochschulen. So viele wie noch nie.
Hatten die Wiesbadener Datensammler im Vorjahr noch knapp unter 2,8 Millionen Eingeschriebene gezählt, sind es zum laufenden Wintersemester bundesweit 48.300 oder 1,8 Prozent mehr. Bis auf Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt mit Rückgängen zwischen 0,8 und 2,1 Prozent haben sämtliche anderen Länder zugelegt. Die größten Sprünge machten Schleswig-Holstein mit 4,9 Prozent, Niedersachsen mit 3,2 Prozent und Hamburg mit 2,8 Prozent. Danach folgt Nordrhein-Westfalen (NRW), wobei sich das Plus von 2,6 Prozent im größten deutschen Bundesland mit den bei weitem meisten Hochschulen auf schlappe 20.000 Studierende mehr summiert.
Tabelle: Studierende an Hochschulen in Deutschland
Jahr | Studierende1 | Studien- anfänger | Studien- anfängerquote3 |
20162 | 2.806.063 | 505.910 | 55,5 |
2015 | 2.757.799 | 506.580 | 58,2 |
2014 | 2.698.910 | 504.882 | 58,3 |
2013 | 2.616.881 | 508.621 | 58,5 |
2012 | 2.499.409 | 495.088 | 55,9 |
2011 | 2.380.974 | 518.748 | 55,6 |
2010 | 2.217.604 | 444.719 | 46,0 |
2009 | 2.121.190 | 424.273 | 43,3 |
2008 | 2.025.742 | 396.800 | 40,3 |
2007 | 1.941.763 | 361.459 | 37,0 |
2006 | 1.979.445 | 344.967 | 35,6 |
1 Die Studierendenzahl bezieht sich auf das Wintersemester, das in das jeweils folgende Jahr reicht.
2 Vorläufige Zahlen
3 Anteil der Studienanfänger an der Bevölkerung des entsprechenden Geburtsjahres. Es werden Quoten für einzelne Geburtsjahrgänge berechnet und anschließend aufsummiert (sog. "Quotensummenverfahren"). Bevölkerung auf Basis früherer Zählungen, ab 2012 wurden Daten des Zensus 2011 berücksichtigt.
Öde Rekordjagd
Auch für Berlin (2,4 Prozent), Hessen und das Saarland (beide 2,2 Prozent) fällt der Anstieg beachtlich aus. Bremen bringt es auf 1,4 Prozent mehr, während Bayern und Baden-Württemberg einen Anstieg um jeweils 1,2 Prozent verzeichnen. Unter der Ein-Prozent-Marke bleiben Thüringen (0,7 Prozent) und Rheinland-Pfalz (0,5 Prozent). 1,773 Millionen Studierende sind an wissenschaftlichen Hochschulen immatrikuliert (63,2 Prozent), 36.100 an den Kunsthochschulen (1,3 Prozent). Fachhochschulen hatten mit 957.500 einen Anteil von 34,1 Prozent. An Verwaltungsfachhochschulen studieren aktuell 38.900 Menschen (1,4 Prozent).
Die Rekordjagd wird langsam öde. Historische Allzeithochs gibt es inzwischen am laufenden Band. Vom Wintersemester 2007/08 an haben mit jedem Jahr mehr Studierende die Hörsäle bevölkert. Damals waren es noch unter zwei Millionen, heute sind es mal eben 40 Prozent mehr. Viel spannender ist daher die Frage, wann es wieder bergab geht mit den Zahlen. Das allerdings kann noch dauern. Seit Jahren verlassen weniger Studierende – mit oder ohne Abschluss – die Hochschulen als Neueinsteiger dazukommen. Geht es nach diesem Muster weiter, könnte in ein paar Jahren mithin sogar die Drei-Millionen-Marke geknackt werden.
Wacklige Prognosen
Der Trend geht auf alle Fälle in diese Richtung. So haben in diesem Jahr praktisch exakt so viele junge Leute ein Studium aufgenommen wie im Vorjahr, nämlich 505.900. Der Rückgang gegenüber dem Studienjahr 2015 beläuft sich auf mickrige 0,1 Prozent. Damit liegt die Zahl aber immer noch leicht über der aktuellsten Prognose der Kultusministerkonferenz (KMK). Die hatte für das laufende Jahr eigentlich 504.000 Erstsemester erwartet. Danach wäre dann mit einem „allmählichen“ Abschmelzen zu rechnen. In den folgenden zehn Jahren solle der jährliche Zulauf aber weiterhin „deutlich über 450.000“ betragen, selbst für 2025 geht die KMK von 465.000 Studienanfängern aus.
Ob das mal was wird? In der Vergangenheit haben die Kultusminister ihre Vorhersagen wiederholt nach oben korrigiert. Zuletzt sah man sich 2014 zu einer Anpassung genötigt. Für den Zeitraum 2012 bis 2025 hatte man sich um fast eine halbe Million tatsächlicher und absehbarer Neuzugänge verschätzt. Hoppla – die Zukunft ist aber auch schwer zu fassen. In der Zwischenzeit hatte die Politik die Wehrpflicht abgeschafft und aus den Ländern ergoss sich eine Serie doppelter Abiturjahrgänge über die Hochschulen. Dazu schrieben sich mehr ausländische Studierende ein als gemeinhin angenommen. Und das war noch vor der Flüchtlingskrise, von der die KMK vor zweieinhalb Jahren nichts ahnen konnte. In deren Gefolge werden noch einmal reichlich mehr Migranten an die Unis streben. Allein deshalb könnte die jüngste Prognose längst wieder überholt sein.
Wanka taucht ab
Für echte Freude sorgt der Hochschulrun auch nicht mehr, bei den betroffenen Studierenden so wenig wie in der Politik. In den Vorjahren hatte Bundbildungsministern Johanna Wanka (CDU) anlässlich der vorgelegten Zahlen wenigstens anstandshalber einen auf Schönwetter gemacht nach dem Motto: Schaut, wie attraktiv Deutschlands Hochschulen sind. Am Freitag blieb ihre Pressestelle dagegen untätig. Was soll sie auch sagen? Juhu, die Unis platzen aus allen Nähten, aber mehr als die übliche Flickschusterei gibt es nicht.
Darauf hinzuweisen, besorgen schon ihre Kritiker, zum Beispiel die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Die fordert prompt mehr Geld und eine rasches Handeln. „Es ist höchste Zeit, den 2020 auslaufenden Hochschulpakt zu verstetigen und eine Entfristungsoffensive zu starten“, äußerte sich GEW-Vize Andreas Keller. Mit immer neuen befristeten Pakten sei den Hochschulen nicht geholfen. Vor allem müsse man „endlich die im internationalen Vergleich miserablen Betreuungsrelationen an deutschen Hochschulen verbessern“, mahnte der Hochschulexperte.
Ein Prof für 100 Studis
Wie schlimm die Lage ist, zeigt beispielhaft der Blick nach NRW. Im Jahr 2014 kümmerte sich dort ein Professor um im Schnitt 86,78 Studierende. An einigen Unis liegt die Betreuungsquote gar über 100 zu eins. Das geht aus der Antwort der Landesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der FDP hervor. Zum Vergleich: Vor sechs Jahren war an Rhein und Ruhr ein Prof noch für knapp über 70 Hochschüler zuständig. Die Entwicklung sei „eine regelrechte Katastrophe“, bemängelte Angela Freimuth von der FDP-Fraktion. Darauf Wissenschaftsministerin Svenja Schulze (SPD): Die „Kopfzählung“ sage wenig über die Qualität aus, die Kennzahl sei daher „ungeeignet und verzichtbar“. Manch einer wird denken, dasselbe gilt für die Ministerin.
„Dass heute 2,8 Millionen Menschen studieren, ist großartig, aber dass ihre Studienplätze nicht ausfinanziert sind, ist ein Trauerspiel“, teilte am Freitag Nicole Gohlke von der Fraktion Die Linke im Bundestag mit. Kai Gehring, hochschulpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion, appellierte an die politisch Verantwortlichen, „vorausschauender und langfristiger“ zu handeln, „um die Grundfinanzierung der Universitäten und Fachhochschulen zu stärken“. Dazu sollte sich der Bund „dauerhaft“ an der Studienplatzfinanzierung beteiligen, denn es brauche „dringend mehr Plätze und bessere Studienbedingungen, damit Anfänger zu erfolgreichen Absolventen werden und keine Bildungsaufsteiger und Fachkräfte verloren gehen“. Erforderlich seien ferner „moderne Hörsäle, Bibliotheken und Mensen, gute Studienberatung und mehr Raum für studentisches Wohnen“.
HRK fordert Finanzierung auf Dauer
An all dem mangelt es bekanntlich gewaltig. Bisher beschränken sich die Anstrengungen überwiegend darauf, die Studienkapazitäten im Rahmen diverser Pakte (Hochschulpakt, Pakt für Lehre, Pakt gegen Studienabbruch etc.) an die gestiegene Nachfrage anzupassen. Aber schon das geschieht mehr schlecht als recht: Statt Professorenstellen in ausreichender Zahl gibt es einen aufgeblähten Mittelbau, ein „akademisches Prekariat“ aus mies bezahlten und befristet beschäftigten Nachwuchsleuten. Statt guter Betreuung und Beratung gibt es immer mehr junge Menschen, die ihr Studium vorzeitig hinschmeißen. Und mit jedem Student mehr und jedem Dozent zu wenig, werden die Studien- und Lehrbedingungen schlechter.
Insbesondere fehlt es den Maßnahmen an Beständigkeit und Verlässlichkeit. Zusätzliche Mittel werden immer nur für eine beschränkte Dauer freigegeben, so als wäre der Hochschulboom nur ein Betriebsunfall, der sich über kurz oder lang mit ein bisschen Spucke beheben ließe. Die Hochschulen sind diese Haltung leid. Ein zeitlich begrenztes Programm sei „nicht mehr die richtige Antwort“, monierte am Freitag der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Horst Hippler. „Bund und Länder müssen endgültig die Vorstellung ad acta legen, dass es sich bei der großen Nachfrage nach Studienplätzen um ein zu überbrückendes zeitweises Phänomen handelt.“ Sie müssten sich vielmehr „zu einer auf Dauer angelegten, angemessenen Finanzierung durchringen“.
Soziale Infrastruktur unzulänglich
Völlig vernachlässigt wird seit Jahren das, was das Deutsche Studentenwerk (DSW) die „soziale Infrastruktur“ nennt. Diese sei „mit der Studierendenzahl in den vergangenen Jahren nicht mitgewachsen“, beklagte DSW-Präsident Dieter Timmermann in einer Stellungnahme. Sein Verband pocht auf ein Bund-Länder-Programm für den „Ausbau der Wohnheim-, Mensa- und Beratungskapazitäten“ der bundesweit 58 Studentenwerke. „Vor allem der Mangel an preisgünstigem Wohnraum für Studierende in vielen Hochschulstädten ist ein drängendes Problem.“ Hier sei eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern „dringend notwendig.“
Hilfreich wären daneben Studierende, die sich gegen die Zustände auflehnen. Während in den Vorjahren zum Semestersauftakt immerhin vereinzelte, kleinere Proteste wegen überfüllter Hörsäle, fehlenden Wohnraums und überteuerter Mieten stattfanden, gibt es diesmal nichts dergleichen zu berichten – jedenfalls bisher. Man fügt sich offenbar apathisch ins scheinbar Unveränderliche.
Das immerhin wird Ministerin Wanka freuen. Eine am Donnerstag veröffentliche Pressemitteilung ihres Hauses befasste sich mit einer Umfrage zu den Studienbedingungen von behinderten Menschen. Überschrift: „Studieren mit Beeinträchtigung.“ Das hätte freilich auch am Freitag gepasst.
(rw)