Vielfalt statt VWL-EinheitsbreiPlurale Ökonomik für die Unis!
Muss es immer Wachstum geben? Nur mit neuen Ansätzen in der Wirtschaftswissenschaften wäre das wirklich denkbar.
Studis Online: Die Wirtschaftswissenschaften an Deutschlands Hochschulen stehen im Ruf, einseitig den Modellen und Methoden der neoklassischen Theorie verhaftet zu sein. Die durch die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie EconPlus, die in der Vorwoche erschienen ist, liefert erstmals Erklärungen für das Phänomen. Was macht den VWL-Mainstream so dominant an hiesigen Unis?
Christoph Gran: Zunächst einmal geht es um die Art und Weise, wie sich Wissenschaft selbst reproduziert. Als Ökonom lerne ich nur eine bestimmte „Sprache“, diese ist stark in der neoklassischen Theorie verankert und mathematisch geprägt. In dieser Gedankenwelt bewegen sich Studierende und wollen sie später als Wissenschaftler Erfolg haben, verlassen sie diese auch nicht. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen.
Die Studie zeigt aber auch, dass es bei den Lehrenden eine recht hohe Bereitschaft gibt, plurale Inhalte zu vermitteln. Über 77 Prozent der Befragten äußerten die Auffassung, dass es einen Mainstream in der Lehre gibt. 84 Prozent wären tendenziell bereit, ihre Lehre plural auszugestalten und andere ökonomische Theorien und Konzepte aufzugreifen. Wieso machen Sie es dann nicht?
Die Lehrenden sind in ein enges Korsett eingebunden. In den Modulhandbüchern wird stark vorgegeben, welche Inhalte transportiert werden sollen, es gibt zu wenig Personal. Außerdem ist der Pflichtstoff zu umfangreich, um sich nebenbei in plurale Themen einzuarbeiten. Dazu kommt erschwerend, dass die gängigen Lehrbücher sich weitgehend im Mainstream bewegen und über massive blinde Flecken verfügen.
Professoren und Lehrbeauftragte würden also gerne mehr Vielfalt lehren, können es aber einfach nicht. Ist das die Krux?
Genau. Warum soll jemand seine Karrierechancen gefährden, vielleicht sogar Gefahr laufen, verklagt zu werden, weil er sich nicht an die Vorgaben aus den Modulhandbüchern hält. Darüber hinaus gibt es ein ziemlich beschränktes Verständnis davon, was überhaupt Pluralismus ausmacht. Feministische Ökonomik etwa ist den meisten nicht bekannt. Neben den genannten Rahmenbedingungen fehlt vielfach schlicht die Kenntnis pluraler Inhalte.
Was macht die Orientierung am Mainstream für die Gesellschaft in Ihren Augen überhaupt so problematisch?
Wir leben in einer Zeit, die von Wandel und Unsicherheit geprägt ist. Schnelle und „postfaktische“ Antworten finden hier schnell Zustimmung, leider sind diese oft auch mit fremdenfeindlichen und anderen „unpluralen“ Ressentiments aufgeladen. Die Wirtschaftswissenschaften spielen hier leider eine wichtige Rolle, dahingehend dass die Realpolitik, die auf ihren Modellen und Theorien beruht, keine den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts adäquaten Antworten mehr gibt und so indirekt zu gesellschaftlichen Verwerfungen beiträgt.
Können Sie das an Beispielen festmachen?
Unser Interviewpartner Christoph Gran hat an der Universität Oldenburg in Volkswirtschaftslehre (VWL) promoviert und engagiert sich im „Netzwerk Plurale Ökonomik“, dem deutschsprachigen Gründungsmitglied der „International Student Initiative for Pluralism in Economics“ (ISIPE)
Der Umgang mit der Griechenland-Krise, insbesondere die dort praktizierte Privatisierungs- und Austeritätspolitik, die einseitig auf Kürzungen staatlicher Ausgaben setzt, basiert auf derartigen ökonomischen Theorien und Modellen. Oder der Gedanke, dass Freihandel automatisch die Wohlfahrt eines Landes erhöht. In der Realität sieht das aber anders aus: Soziale und ökologische Belange werden Konzerninteressen untergeordnet. Die Menschen in Ländern wie den USA oder Mexiko haben nicht, wie eigentlich versprochen, von den Versprechungen des Nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA profitiert und jetzt kommt Donald Trump und schlägt hieraus sein populistisches Kapital. Auch in Deutschland formiert sich zunehmend Kritik an einer derart verkürzten Freihandelsdoktrin, hier beinhaltet sie jedoch ein deutlich höheres Maß an reflektierter Kritik.
Was wäre die Alternative? Protektionismus?
Wenn soziale und ökologische Standards zu weniger Konsum und Produktion führen, dann ist das kein Protektionismus im Trumpschen Sinne. Es geht nicht darum, sich abzuschotten gegenüber dem Rest der Welt, Nationalismus zu betonen und Mauern zu errichten. Es geht nicht darum, Fortschritt aufzuhalten, sondern darum, Fortschritt neu zu definieren. Und wenn soziale und ökologische Standards weiteres Wachstum verhindern, warum müssen dann die Standards weg?
Also besser gar kein Wirtschaftswachstum mehr? Ist es das, was Sie wollen?
Eine Welt ohne Wirtschaftswachstum ist für 99 Prozent der Ökonomen nicht vorstellbar bzw. gleichbedeutend mit einer Katastrophe – weil eben vorher nicht erforscht wurde, wie eine Volkswirtschaft dann funktioniert. Aus meiner Sicht wäre es aber sehr ratsam, sich damit zu beschäftigen, wie wir als Gesellschaft mit einer Situation ohne Wachstum umgehen. Schließlich gehen die Wachstumsraten in Deutschland und anderen hochindustrialisierten Ländern von Jahrzehnt zu Jahrzehnt runter – das nennt man die sogenannte säkulare Stagnation.
Gleichzeitig ist der Mainstream auf dem ökologischen Auge weitgehend blind, dennoch wirkt er – über seine Wachstumsmodelle – in die Gesellschaft. Wenn Ressourcen und Schadstoffe oder absolute Wachstumsgrenzen in den gängigen makroökonomischen Theorien und Modellen keine Rolle spielen, ist dann der Fortschritt, der sich hieraus ergibt, überhaupt wünschenswert? Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) mag zwar steigen, gleichzeitig nimmt aber auch der schädliche Einfluss auf den Planeten zu. Der Klimawandel schreitet ungebremst voran.
Vielleicht müssen wir uns also zwischen Wachstum und ökologischer Nachhaltigkeit entscheiden. Vor dem Hintergrund, dass der Zusammenhang zwischen BIP und Lebensqualität in hochindustrialisierten Ländern nicht mehr gegeben ist, wäre das vielleicht gar nicht so schlimm. Auch die Armut hat zugenommen, Löhne und Gehälter sind real gesunken. Wo dies doch alles erkennbar ist – Orientieren wir uns dann nicht an der falschen Stellgröße?
Es geht Ihnen also um ein grundsätzliches ökonomisches Umdenken und die Hochschulen sollen voran gehen oder besser noch: vordenken?
Es muss klar werden, wie die Ökonomik mit ihren Modellen und Theorien in die Gesellschaft hineinwirkt und ihr einen bestimmten Entwicklungspfad vorgibt. Der Soziologe und Buchautor Harald Welzer nennt das „mentale Infrastrukturen“. Am Beispiel Wachstum kann man gut verdeutlichen, wie Jahr um Jahr Tausende Studierende mit einem bestimmten Weltbild „aufgeladen“ werden. Später, sei es in der Wissenschaft oder in einem anderen Beruf, tragen sie diese mentale Infrastruktur dann mit sich herum.
Theoretische und methodische „Verbohrtheit“ beim Lehrkörper müsste sich unter den skizzierten Bedingungen ja über Generationen perpetuieren und immer weiter verfestigen. Oder ist das eine zu düstere Sicht der Dinge?
Das trifft es ganz gut. Zum Glück gibt es aber starken Protest dagegen. Bisher vor allem durch Studierende und einzelne Lehrende, aber auch zunehmend in der öffentlichen Debatte in Deutschland und international. Wenn die Lehrenden uns und unsere Kritik kennen, erhöht sich – so ein weiterer Befund der Studie – die Bereitschaft zu pluraler Lehre. Gleichzeitig machen wir die Vielfalt der Denkschulen selber sichtbar, etwa in unserem bald anlaufenden Online-Projekt Exploring Economics.
Was wäre konkret anders an einer pluralen Ökonomik?
Die Frage, was Fortschritt bedeutet, muss neu angegangen werden, und dabei sind andere Indikatoren, etwa Einkommensverteilung, Bildung, Gesundheit oder Ökologie dem BIP vorzuziehen. Für die Wirtschaftswissenschaften bedeutet das eine gewisse Neuorientierung, aber im Grunde sind sich die meisten Ökonomen der Unzulänglichkeiten des BIP bewusst. Das beinhaltet meines Erachtens auch eine Neuorientierung in der Makroökonomik. Die verwendeten Modelle müssen solche Indikatoren beinhalten, insbesondere sollten sie nicht zur Politikberatung verwendet werden, wenn Ressourcen- und Schadstoffströme nicht abgebildet werden. Die Makroökonomik muss sich neu aufstellen und die Bedeutung von absoluten planetaren Grenzen ernst nehmen.
Und was bedeutet das für den Aufbau eines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums?
Wenn wir eine plurale Gesellschaft wollen, brauchen wir auch eine plurale Wirtschaftswissenschaft. Studierende müssen unterschiedliche Theorien und Methoden kennenlernen, sie müssen lernen diese vor dem Hintergrund realer gesellschaftlicher Probleme, etwa dem Klimawandel, anzuwenden. Es geht darum, Kritikfähigkeit, komplexes Denken und eine Offenheit gegenüber unterschiedlichen Weltbildern zu fördern und aktiv zu erlernen.
Und tut sich in dieser Hinsicht gar nichts an den Unis?
Für mutige Universitäten bieten sich große Chancen, aus der großen Mainstreammasse herauszustechen. Unis wie Siegen oder die Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues haben das erkannt. Sie haben damit ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal. Durch solche Experimente entstehen neue Erfahrungen, die sich auf andere Universitäten übertragen lassen. Irgendwann ist der öffentliche Druck dann vielleicht so hoch, dass andere nachziehen müssen.
Aber dauert das nicht sehr lange, vielleicht Jahrzehnte?
In der Tat. Wir reden hier von langfristigen Veränderungen. Die Proteste in Deutschland gibt es „erst“ seit 13 Jahren. Dafür haben wir schon sehr viel erreicht. Angesichts der Unfähigkeit des Mainstreams, bei den komplexen und vielfältigen Krisen unserer Zeit angemessene Antworten zu liefern, und aufgrund des zunehmenden öffentlichen Drucks haben wir aber Rückenwind.
Kommen wir abschließend noch zu den Studierenden. Wollen die heute überhaupt noch etwas von linken Ökonomen wissen, etwa Marx, Keynes oder der Frankfurter Schule?
Durchaus. Es geht aber um mehr. Studierende wollen die ganze Bandbreite an Theorien, Methoden und Fragestellungen kennenlernen und auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen anwenden. Dazu gehören auch feministische Theorien, die Frage nach einer Postwachstumsökonomie oder Postkeynesianismus. Sie wollen auch einen Blick auf die Geschichte des ökonomischen Denkens werfen. Auch wenn das bedeutet, dass sie mehr lesen müssen – für viele Ökonominnen und Ökonomen ist das eine durchaus neue Erfahrung.
(rw)