Überfüllung führt zu Protesten?2,8 Millionen Studierende im Wintersemester 2015/16
So voll war es noch nie an deutschen Hochschulen …
Campus voll, Nase voll. Seit Montag proben Hunderte Studierende der Universität in Landau den Aufstand. Sie haben zum unbefristeten Streik aufgerufen und halten mehrere Räume besetzt. Die Seminare wären „gnadenlos überfüllt, Dozierende haben keine Ausweichmöglichkeiten und Studierende können ihr Studium nicht in der Regelstudienzeit abschließen“, klagt der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) auf seiner Webseite. Die Rede ist von „miserablen Zuständen“ und einer seit Jahren spürbaren „Verschlechterung der Studienbedingungen“.
Die Universität Koblenz-Landau wurde ab dem Wintersemester 2008/09 geradezu überrannt. Nach damals 12.500 Einschreibungen zählte man 2014/15 mal eben 3.000 mehr. Am südpfälzischen Standort Landau legten die Studierendenzahlen um 1.500 zu und mit aktuell 1.300 Studienanfängern drängen sich jetzt noch mehr Menschen auf engstem Raum. Die Betroffenen haben die Tatenlosigkeit der Verantwortlichen satt. „Immer wenn wir gegenüber Senat, Rektorat und Bildungsministerium um Anhörung bitten, werden wir auf den St. Nimmerleinstag vertröstet“, schreibt der AStA. „Mittlerweile sind wir aber der Meinung, dass wir die Umstände nicht länger hinnehmen dürfen.“
Wachsender Unmut
Unmut gibt es auch anderorts, zum Beispiel an der Leibniz Universität Hannover. Dort schlagen Studierendenvertreter wegen „massiver Probleme im Lehrbetrieb“ Alarm. Die Leute müssten „immer wieder auf den Treppenstufen der Hörsäle oder auf dem Fußboden der Seminarräume“ sitzen. Lehrveranstaltungen, die mit zehn bis 20 Teilnehmern gut besucht wären, müssten „teilweise mit über 100 zurechtkommen“. Eine intensive Auseinandersetzung mit komplexen Inhalten sei so „natürlich nicht möglich“, bezieht der AStA Stellung. Die Schuld sieht Öffentlichkeitsreferent Bodo Steffen in einer verfehlten Personalpolitik und dem „Rückbau nicht rentabler Studiengänge“.
2010 zählte die Uni Hannover noch circa 21.000 Studierende, inzwischen sind es knapp 27.000. Im selben Zeitraum wuchs der Lehrkörper aber lediglich um elf Prozent, wovon das Gros auf wissenschaftliche Mitarbeiter in prekären Beschäftigungsverhältnissen geht. Jan Heinemann, Mitglied im Fakultätsrat der Philosophischen Fakultät und im Ausschuss Studienreform (ASR) des „freien zusammenschlusses von studentInnenschaften“ (fzs) findet deutliche Worte: „Wir erleben die Pervertierung der unternehmerischen Hochschule. Unter der Ägide von unzureichender Grundfinanzierung, von Kennzahlensteuerung und Auslastungsvorgaben geraten insbesondere die geisteswissenschaftlichen Fächer in Bedrängnis und sind gezwungen, die Betreuungsverhältnisse weiter zu verschlechtern.“
Bundesweit 60.000 mehr Studierende
Voll, übervoll, knallvoll – bei der Beschreibung des Platzmangels in Deutschlands Hörsälen gehen einem langsam die Superlative aus. Nach den neuesten, noch vorläufigen Ergebnissen des Statistischen Bundesamtes vom Mittwoch haben sich zum laufenden Wintersemester bundesweit 2,759 Millionen Studentinnen und Studenten immatrikuliert. Verglichen mit dem Vorjahr waren dies 60.400 oder 2,2 Prozent mehr. Die größten Zuwächse verzeichnen Niedersachen mit 5,4 Prozent, das Saarland mit 3,7 Prozent und Nordrhein-Westfalen (NRW) mit 3,5 Prozent.
Im Westen gingen die Zahlen allein in Rheinland-Pfalz zurück (minus 1,2 Prozent), bei den restlichen Westländern beträgt die Steigerung im Mittel 2,8 Prozent. Ein verhaltener Rückgang lässt sich im gesamten Osten der Republik verzeichnen. Thüringen vermeldet ein Minus von 1,5 Prozent, Mecklenburg-Vorpommern minus 1,3 Prozent, Brandenburg minus 0,9 Prozent, Sachsen minus 0,7 Prozent und Sachsen-Anhalt minus 0,6 Prozent.
Bald drei Millionen?
Den Hauch einer „Entspannung“ deuten lediglich die Kennziffern bei den Studieneinsteigern an. Mit 503.000 Erstsemestern liegt der Wert um 0,2 Prozent unter dem des Vorjahres. Nachhaltige Wirkung hat das freilich nicht. Solange weniger Studierende die Hochschulen – mit oder ohne Abschluss – verlassen, als neue hinzukommen, wird die Gesamtzahl auch in den Folgejahren weiter nach oben gehen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) rechnet noch bis mindestens 2019 mit nahezu konstanten Zuwächsen bei den Studienneulingen um den Dreh von einer halben Million. Erst danach sei mit einem „allmählichen Rückgang auf 265.000“ zu rechnen.
Geht es so weit wie bisher, könnte in zwei, spätestens drei Jahren die Drei-Millionen-Grenze geknackt sein. Aber ist unter solchen Bedingungen ein geregelter Lehrbetrieb überhaupt noch denkbar? Wo es doch heute schon an allen Ecken und Ende quietscht. Zwar wollen Bund und Länder per Hochschulpakt weiterhin allerhand Geld ins System pumpen, um zusätzliche Studienkapazitäten zu schaffen – bis 2023 rund 20 Milliarden Euro.
Billiglösungen
Das hört sich nach viel Geld an, mehr als Billiglösungen sind damit jedoch nicht drin.So belaufen sich die mit dem Pakt finanzierten Studienplätze im Schnitt auf 6.500 Euro jährlich, während sich der Staat einen “Normalstudienplatz“ vor vier Jahren noch im Schnitt 8.700 Euro kosten ließ. Im Jahr 2000 waren es nach Berechnungen des Bildungsforschers Dieter Dohmen 9600 Euro. Nach seinen Befunden hat das „Ausgabenwachstum in den meisten Ländern weder nominal noch real mit dem Anstieg der Studierendenzahlen Schritt gehalten“.
Vor allem setzen die Hochschulen auf preiswertes Personal. Nach einer Analyse des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) kommen heute auf einen Professor 63 Studierende, vor zehn Jahren betrug das Verhältnis noch eins zu 54. Und das ist nur der Durchschnitt. Bei den „normalen“ öffentlichen Hochschulen – stark spezialisierte und private Unis ausgenommen – liegt die Betreuungsrelation sogar bei eins zu 70, mancherorts, muss sich ein Prof um über 100 Studierende kümmern. Dafür gibt es immer mehr wissenschaftliche Mitarbeiter im akademischen Mittelbau – schlecht bezahlt und mehrheitlich mit Kurzeitverträgen ausgestattet.
Hohe Abbrecherquote
Mit der Knauserei leidet natürlich die Qualität. Am Dienstag stellte die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in der Studie „Bildung auf einen Blick 2015“ (hier als PDF) der deutschen Politik ein zwiespältiges Zeugnis aus. Einerseits hat die BRD bei den Studierendenzahlen im internationalen Vergleich mächtig geklotzt, mittlerweile nehmen demnach 59 Prozent eines Altersjahrgangs ein Studium auf. Allerdings halten nur 36 Prozent je Jahrgang bis zu einem erfolgreichen Abschluss durch. Damit gehört Deutschland unter den 34 OECD-Mitgliedstaaten zu den Schlusslichtern.
Von den Bachelor-Anwärtern schmeißen heutzutage fast 30 Prozent vorzeitig das Handtuch, während es bei den traditionellen, im Verschwinden begriffenen, aber finanziell besser aufgestellten Diplom- und Magister-Studiengängen bloß knapp über 23 Prozent sind. Die Politik will sich des Problems annehmen und im Rahmen des Hochschulpakts III Gegenmaßnahmen ergreifen. Aber auch für dieses Vorhaben gilt: Es soll keine zusätzlichen Kosten verursachen, sondern vom ohnehin spärlichen Aufkommen für zusätzliche Studienplätze (besagte 6.500 Euro) abgezweigt werden. Man ahnt schon, dass das nach hinten losgehen muss.
„Attraktive Hochschulen“
Angesichts der vielen Missstände mutet die neueste Jubelbotschaft von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) wie blanker Hohn an. „Der neue Rekordwert zeigt eindrücklich, wie attraktiv unsere Hochschulen sind“, verkündete sie am Mittwoch in Reaktion auf Meldung der Wiesbadener Statistiker. Mit dem Hochschulpakt hätten Bund und Länder „Vorsorge getroffen und finanzieren die zusätzlichen Studienplätze“. Zugleich werde man mit dem „Qualitätspakt Lehre die Studienbedingungen“ verbessern. Und weiter: „Nicht nur die OECD hat gerade dem deutschen Bildungssystem gute Noten ausgestellt, auch drei Viertel der Studierenden sagen laut einer Befragung: Wir studieren gern.“ Für das restliche Viertel heißt das wohl: Pfeif drauf!
Tatsächlich geht die Diskussion langsam in diese Richtung. Den Anfang hatte vor einem Jahr der Philosoph Julian Nida-Rümelin mit seiner These vom „Akademisierungswahn“ gemacht. Dahinter steht die Sorge, dass mit der vermeintlichen Überhöhung der Hochschulbildung eine Vernachlässigung der beruflichen Bildung einhergeht. Ganz von der Hand zu weisen, ist das nicht. Die Frage ist nur, was interessierte Kreise daraus machen. Nida-Rümelins Rechnung ist nämlich mitnichten so plump, wie manche glauben machen wollen, von wegen „weniger Akademiker und mehr Azubis braucht das Land“.
Verflachung von Bildung
Nida-Rümelin beklagt vielmehr die allgegenwärtigen Tendenzen der Normierung, Standardisierung und Verflachung von Bildung im Zeichen von Neoliberalismus und Globalisierung. Dagegen plädiert er für eine inhaltlich begründete Bildungsreform, die sich den technokratischen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte entgegengestellt. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, war einer der ersten, der diesen Ansatz zu einer „Überakademisierung“ verkürzt hat. „Das führt dazu, dass viele studieren, die eigentlich in einer Berufsausbildung besser aufgehoben wären“, äußerte er sich im Frühjahr in der Presse.
Das Stichwort wurde seither gehäufter aufgegriffen, zuletzt veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Studie, die im Kern besagt: Hält der Run auf die Hochschulen an, werden Deutschland über kurz oder lang die Azubis ausgehen. Von solchen Überlegungen ist es nicht mehr weit bis zum Ruf, die Hochschulen dicht zu machen, etwa auf dem Weg verschärfter Zulassungsregeln oder der Wiedereinführung von Studiengebühren.
Gute Bildung kostet
Dabei ginge es auch anders. Man finanziert die Hochschulen auskömmlich aus, statt nur Löcher zu stopfen und die deutsche Wirtschaft wertet die Berufsausbildung durch ein breiteres Angebot an gut bezahlten Lehrstellen auf. Zur Not hilft die Politik mit einer Zwangsabgabe für nicht ausbildungswillige Unternehmen nach. Dazu kommen Mehrinvestitionen in Kitas und Schulen, um Schüler besser auf Beruf und Studium vorzubereiten. Das alles kostet viel Geld, aber es wäre gut angelegt. Und mittelfristig ließe sich so auch der Run auf die Hochschulen bremsen. Leider ist Politik nicht so visionär in Zeiten von „Schuldenbremse“ und „schwarzer Null“.
Und so kann man sich schon heute auf die nächste „Bestmarke“ in einem Jahr freuen und die Linkspartei ihre aktuelle Pressemitteilungzur Wiederverwendung speichern. „Es fehlt an unbefristetem und adäquat bezahltem Lehrpersonal, an der Ausstattung von Bibliotheken und Hörsälen und an bezahlbarem studentischen Wohnraum“, heißt es darin. „Unter diesen Bedingungen ist ein gutes Studium nicht mehr möglich. Da hilft auch die Politik der befristeten Pakte der Regierung nicht mehr weiter. Es braucht endlich eine verlässliche, bedarfsgerechte Ausfinanzierung der Hochschulen und das Ende sachgrundloser Befristungen des Lehrpersonals, damit für die 2,8 Millionen Studierenden ein gutes Studium gewährleistet werden kann.“
(rw)