Ferngesteuert auf KnopfdruckProf-Bewertung per App in Echtzeit
Vom kanadischen Medientheoretiker Herbert Marshall McLuhan stammt der Satz: „The new electronic interdependence recreates the world in the image of a global village.“ Wenn dem so ist und die Welt heute dank Internet auf Dorfgröße zusammengeschnurrt ist, müsste in einem Hörsaal locker Platz für eine Millionen-Metropole sein. Da kann es schon mal hoch hergehen und der Vortragende mit seinem Sprechorgan nicht bis ins hinterste Ohr durchdringen. Zumal dann nicht, wenn selbiges auch noch am Handy lauscht.
Lautstärke, Geschwindigkeit und Intensität mit dem Smartphone regulieren. Per „aestimo“ könnten Studierende die Vorlesung mitbestimmen.
Aber Abhilfe ist in Sicht. Der Bremer Mathematikprofessor Jörg Buchholz hat eine Technik ersonnen, mit dem sich das Gegen-Wände-Anreden ein für alle Mal erledigen dürfte. Das Wunderding hört auf den Namen „aestimo“, ist ein „Echtzeit-Online-Evaluationsprogramm“ und gibt Studierenden die Macht, ihren Dozenten fernzubedienen. Wie das geht, steht in einer Medienmitteilung des Informationsdienstes Wissenschaft (idw) vom Dienstag. Darin wird zunächst das Problem benannt. „Als Lehrende bzw. Lehrender an einer Hochschule hat man es vielleicht auch schon erlebt: Während einer Lehrveranstaltung lässt die Aufmerksamkeit bei den Studierenden nach und es wird unruhig.“
So weit, so schlecht – jetzt die Lösung. Mit „aestimo“ könnte man „während der Vorlesung oder dem Seminar via Smartphone oder Tablet online Rückmeldung geben, ob die Lautstärke genau richtig ist oder nicht, ob die Ausführlichkeit zu knapp oder zu großzügig bemessen ist oder ob die Vortragsgeschwindigkeit vielleicht geändert werden sollte“. Das pfiffige Tool hat Buchholz nicht alleine ausgeklügelt, sondern in Koproduktion mit einem Master-Studenten. Vielleicht stammt von dem auch die Idee mit der Ampel. Demnach erhalte „die Professorin bzw. der Professor (…) unmittelbar die Rückmeldung in den Farben rot, gelb und grün auf dem Smartphone und kann gegebenenfalls flexibel reagieren“.
Dabei sei die Symbolik für die Rückmeldung „bewusst einfach gehalten“, erfährt man weiter und das macht auch Sinn. Denn wer weiß schon, wie laut oder leise man bei orange oder lila zu sprechen hat? Wie bei Mehrfacheingaben fünf oder mehr Farbwünsche auf einmal – also polyphon – zu erfüllen sind? Und was, wenn bei den Studierenden alle fünf Minuten das Hörvermögen wechselt? Irgendwo hört es mit der menschlichen „Flexibilität“ eben auf. Zumindest solange die Technik nicht reif dafür ist. So mussten die Macher auch mit der „Beschränkung auf zunächst drei Bewertungskategorien“ den „begrenzten Darstellungsmöglichkeiten auf einem Smartphone Rechnung“ tragen. „Die Anzahl der Kategorien kann freilich jederzeit erweitert werden“, so Buchholz. „Zu laut, zu schnell, zu ausführlich“ könnte also erst der Anfang sein. Womöglich heißt es schon bald: „Zu öd, zu crazy, zu viel Inhalt“.
Aber das ist Zukunftsmusik. Zunächst muss „aestimo“ seine Tauglichkeit im Hier und Jetzt beweisen. Der Start zum Wintersemester an der Hochschule Bremen (HSB) sei schon mal „vielversprechend“ verlaufen, ist Buchholz guter Dinge. Das Angebot könne jeder Lehrende „unabhängig vom eigenen Fachgebiet einsetzen“ und werde kostenfrei zur Verfügung gestellt. Über Nachahmer ist bisher nichts bekannt. Womöglich hat ja manch einer Berührungsängste, weil Sorge, als Hampelmann auf Knopfdruck an Autorität einzubüßen. Oder es hält sich immer noch hartnäckig die Meinung, von Studierenden verlangen zu können, bei einem Vortrag aufmerksam zuzuhören, statt mit dem Smartphone noch mehr Unruhe zu stiften.
Wahrscheinlich sind solche Spitzfindigkeiten aber einfach nur technikfeindlich. McLuhan hat den zu seinen Lebzeiten nur zu ahnenden Vormarsch der digitalen Medien als große Verheißung für die Menschheit beschworen und wurde damit zum geistigen Wegbereiter für Microsoft, Facebook und Google. Zu Weltberühmtheit gelangte sein Aphorismus „the medium ist the message“, was frei übersetzt so viel bedeutet wie: Vergesst die Inhalte oder – wieder mit McLuhan – „wir formen unser Werkzeug und danach formt unser Werkzeug uns“. Ein ferngesteuerter Professor ist da nur logisch.
(rw)