Drogenbeauftragte ganz entspanntErhebung zu Hirndoping bei Studierenden
Hirndoping – auch einige Studierende versuchen sich daran.
Kennt man ja, die Sache mit dem Wasserglas. Für den einen ist es halb voll, für den anderen halb leer. Wie man über etwas urteilt, kann von vielem abhängen: den eigenen Erfahrungen, der aktuellen Stimmungslage, vor allem aber vom persönlichen Standpunkt. So hält es die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlena Mortler (CSU), für eine gute Nachricht, dass von Deutschlands Hochschülern „nur“ sechs Prozent auf Hirndoping setzen, um im Studienalltag zu bestehen. Denn wenn 94 Prozent nicht zu illegalen Substanzen oder rezeptpflichtigen Medikamenten greifen würden, dann sei dieses Ergebnis „erfreulich“, gab sie am Mittwoch per Pressemitteilung zum Besten.
20 Prozent mehr in vier Jahren
Eher beiläufig und ganz kurz und knapp ist darin erwähnt, dass die Quote 2010 noch fünf Prozent betragen hat. Dabei ist ein Sprung um einen Prozentpunkt nicht gerade ein Pappenstiel. Bezogen auf den Ausgangswert entspricht das einer Steigerung um satte 20 Prozent. Noch eindrücklicher wirken die absoluten Zahlen: Stimmen die Befunde des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), dann hätten im Wintersemester 2010/11 rund 111.000 von 2,2 Millionen Studierenden Psychopharmaka eingenommen. 2014/15 wären es dagegen schon knapp 162.000 unter nahezu 2,7 Millionen Hochschülern gewesen. Das sind mal eben 51.000 mehr und bei Nichtberücksichtigung der veränderten Relation ein Plus von 45 Prozent.
Zurück zum Wasserglas. Anfang Juli hatte die Techniker Krankenkasse (TK) in ihrem „Gesundheitsreport 2015“ und der begleitenden Umfrage „TK-CampusKompass“ die Quote der Studierenden, die sich Psychopillen haben verordnen lassen, mit 4,7 Prozent beziffert. (Im Unterschied dazu bezieht die DZHW-Erhebung auch den illegalen Drogenkonsum mit ein.) Ganz anders als die Drogenbeauftragte nannten die Studienautoren die Daten allerdings „in der Summe erschreckend“. Auch die TK hat die Entwicklung im Zeitverlauf untersucht, allerdings bis zurück zum Jahr 2006. Seither hat sich die Zahl der „legalen“ Hirndoper demnach mehr als verdoppelt (plus 125 Prozent). Für TK-Vorstandschef Jens Baas ist das „eine deutliche Zunahme an Verordnungen von Psychopharmaka“ – und nichts nach dem Motto „halb so wild“.
Kein Piep vom Gesundheitsminister
Zugegeben – ganz so tief hängt CSU-Frau Mortler die Angelegenheit auch nicht. Sie meint, man dürfe sich mit der Entwicklung „nicht zufrieden geben“, und verweist auf das vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderte Hilfsangebot dein-masterplan.de. Dort erhalte man Informationen unter anderem zur Stressreduktion und in einem Chatroom könnten sich Betroffene persönlich beraten lassen. Die Einnahme von Drogen oder die unsachgerechte Anwendung von Medikamenten stelle „immer ein erhebliches Risiko“ dar und sei letztlich Betrug am Gehirn, ließ sich die Ministerin zitieren und weiter: „Diese Botschaft gehört in die Köpfe und kein Hirndoping.“ Komisch nur: Wenn der Regierung das so wichtig ist, warum hat sich Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) dann mit keiner Silbe und keiner Zeile zur eigenen Auftragsstudie geäußert?
Hätte er das getan, wäre dem Thema ganz gewiss mehr mediale Aufmerksam zuteil geworden. So haben sich seiner in erster Linie Fachpublikationen angenommen und das auch nicht mit größtem journalistischen Eifer. Das Onlineportal der Deutschen Apothekerzeitung (DAZ) hat einfach die offiziellen Verlautbarungen abgeschrieben und mit der unkritischen Schlagzeile versehen: „Hirndoping an Unis nimmt leicht zu“. Passend dazu befand auch apotheke-adhoc.de zur Tragweite des Problems, „weit verbreitet ist diese Praxis unter deutschen Studenten nicht“.
Run auf Soft-Enhancer
Dabei ist die DZHW-Studie fürwahr keine Beruhigungspille. Zum Beispiel steht darin geschrieben, dass immer mehr Studierende zu sogenannten Soft-Enhancern greifen, Stoffe also, die ebenso Leistungssteigerung versprechen, aber frei verkäuflich sind. Dazu zählen etwa Koffeintabletten, Energydrinks, Vitaminpräparate, Schlaf- oder Schmerzmittel sowie entsprechende homöopathische oder pflanzliche Substanzen. Solche Mittelchen mögen bei gelegentlichem Gebrauch nicht schädlich sein, ihr regelmäßiger Konsum kann aber sehr wohl gefährlich und zur Sucht werden. Die Autoren wirken da eher sorglos. In ihrer Pressemitteilung bemerken sie lapidar, der Anteil Soft-Enhancender habe sich „etwas erhöht“.
Das ist eine ziemlich grobe Untertreibung angesichts der Steigerung des Konsumentenkreises von fünf Prozent im Jahr 2010 auf inzwischen acht Prozent. Drei Prozentpunkte entsprechen einem Plus von 60 Prozent bezogen auf den Ausgangswert. Ist dem so, müssten gegenwärtig circa 216.000 Studierende solche Präparate in der Absicht nutzen, damit ihr Studium besser zu bewältigen. Besonders verbreitet ist ihr Konsum laut Studie mit zehn Prozent unter Studentinnen, während der Anteil bei den Männern bei sechs Prozent liegt. In punkto Gehirndoping, das heißt bei der Verwendung illegaler Drogen und verschreibungspflichtiger Medikamente (Neuro-Enhancement), liegen beide Geschlechter gleichauf bei sechs Prozent.
Mit Ritalin zur Normalleistung
Zum Hirndoping werden am häufigsten verschreibungspflichtige Schlaf- bzw. Beruhigungsmittel verwendet (31 Prozent). Ebenfalls recht verbreitet ist der Einsatz von Cannabis (29 Prozent) und Antidepressiva (27 Prozent). Ein Fünftel der Hirndoper greift zum Ritalin-Wirkstoff Methylphenidat (21 Prozent) und/oder zu verschreibungspflichtigen Schmerzmitteln (20 Prozent). Dagegen spielten illegale Drogen wie Kokain, Ecstasy oder Methamphetamine mit zwei bzw. einem Prozent eine vergleichsweise geringe Rolle, konstatieren die Forscher.
Hauptmotivation für den Konsum ist nach ihren Befunden nicht das Erreichen von Ausnahmeleistungen, „sondern der Leistungserhalt, die Sicherstellung der Fähigkeit, überhaupt eine (individuell „normale“) Leistung erbringen zu können“. Am häufigsten gehe es darum, „(ein)schlafen zu können“ (51 Prozent), „Nervosität/Lampenfieber zu bekämpfen“ (42 Prozent) bzw. „wach zu bleiben“ (34 Prozent). In 27 Prozent der Fälle ließen gesundheitliche Gründe und Schmerzbekämpfung die Betroffenen zur Pille greifen. Am meisten wird erwartungsgemäß vor Prüfungen eingeworfen, aber auch genereller Stress ist mit über 50 Prozent unter den Hirndopenden ein entscheidender Faktor. Zu den weiteren Motiven gehören Stofffülle (23 Prozent), Termin- (20 Prozent), Leistungs- und Konkurrenzdruck (22 Prozent).
Hirndoping ist soziales Phänomen
Andere interessante Ergebnisse: Hirndopende sind zumeist ältere Semester, weil der Leistungsdruck mit der Studiendauer zunimmt und im speziellen in der Vorabschlussphase am größten ist. Das erklärt auch den Befund, dass Studierende in den klassischen Diplom- und Magister-Studiengängen doppelt so oft betroffen sind als der Durchschnitt – sie studieren in der Regel einfach länger. Mit Blick auf die Fächergruppen sind Rechts- und Wirtschaftswissenschaftler am empfänglichsten für Psychopillen, angehende Ingenieure sind am wenigsten zugeneigt. Die mit Abstand größte Affinität weisen Tiermedizinstudenten mit einem Anteil von 23 Prozent auf. Hirndoping ist auch ein soziales Phänomen, betroffen sind überproportional viele Kinder mit „nichtakademischem Bildungshintergrund“.
Hohe Dunkelziffer
Den DZHW-Experten ist nicht vorzuwerfen, schlecht geforscht zu haben. Befremdlich mutet allerdings an, was sie aus den gewonnenen Erkenntnissen machen. In ihrer Stellungnahme wird das Problem nämlich ebenfalls heruntergespielt. Studierende griffen „keineswegs unverzagt“ zur Pille, heißt es darin und „im Unterschied zum möglichen Eindruck aus zahlreichen Medienberichten nimmt lediglich ein kleiner Anteil (…) der Studierenden nach eigenen Aussagen verschreibungspflichtige Medikamente oder illegale Drogen“. Nur sind bei einem so sensiblen Thema nicht alle auskunftsfreudig.
Die Krankenkasse DAK hat in ihrem im Frühjahr vorgelegten Gesundheitsreport die Zahl der „geständigen“ Hirndoper am Arbeitsplatz auf drei Millionen taxiert. Unter Berücksichtigung der Dunkelziffer jener, die ihren Konsum aus Scham oder wegen möglicher Konsequenzen besser verschweigen, könnten aber mithin fünf Millionen Beschäftigte betroffen sein. Auch unter Studierenden lässt bestimmt nicht jeder bei der Frage, wie er es mit Drogen hält, gleich die Hosen runter.
Ruhig Blut bei der Regierung
Die DZHW-Erhebung weist einen weiteren blinden Fleck auf. Potenzielle Hirndoper zieht sie gar nicht erst ins Kalkül. Gemäß besagter Umfrage der Techniker Krankenkasse hat 2013 mehr als jeder Fünfte Studierende eine psychische Diagnose gestellt bekommen. Der Kreis der Gefährdeten, jener also, die über kurz oder lang zur Pille greifen könnten, erscheint in diesem Licht ziemlich beträchtlich. Dabei kann der Gebrauch sogenannter Smart-Drugs gerade in jüngerem Alter nach Expertenansicht erhebliche und mitunter bleibende Schäden nach sich ziehen. Der Gesundheitsminister und die Drogenbeauftragte sehen das alles eher entspannt. Sie verkaufen lieber halb volle Gläser. (rw)