Report zur Gesundheit von StudierendenPillenschlucken gegen den Stress
Prüfungen sind Stressauslöser Nummer 1 für Depressionen, Belastungs- oder Angststörungen
Kein Grund zur Panik: Wer in Deutschland studiert, ist nicht gleich ein Fall für den Onkel Doktor. Im Allgemeinen sind Hochschüler gesundheitlich auf der Höhe. 84 Prozent der von der Techniker Krankenkasse (TK) Befragten beurteilen ihr Befinden als „gut“ oder „sehr gut“. Weitere 13 Prozent halten es für „zufriedenstellend“. Lediglich drei Prozent beklagen sich über eine „weniger gute“ oder „schlechte“ Verfassung. Verglichen mit einer TK-Studie von vor zwei Jahren, die Daten von 18- bis 35jährigen Erwachsenen erhob, lässt sich festhalten: Studierenden geht es im Schnitt besser als ihren Altersgenossen in der Gesamtbevölkerung.
Allerdings gibt es durchaus auch besorgniserregende Entwicklungen. Wie aus dem in der Vorwoche veröffentlichten Report hervorgeht, hat inzwischen jeder fünfte Studierende laut ärztlicher Diagnose psychische Probleme. Vier Prozent bekommen sogar Antidepressiva verschrieben, das bedeutet einen Anstieg um 43 Prozent gegenüber dem Jahr 2006. Ab einem Alter von 32 Jahren werden Studierenden beider Geschlechter etwa doppelt so viele dieser Medikamente verordnet wie Erwerbspersonen im gleichen Alter.
„Alt“ studiert ungesund
Für ihre Analyse hat die TK Informationen zu rund 190.000 Studierenden ausgewertet, die 2013 bei ihr versichert waren. In einer früheren Untersuchung aus dem Jahr 2009 war die Quote der Hochschüler mit jährlich mindestens einer psychischen Diagnose um fünf Prozentpunkte geringer ausgefallen.
„Die Zahlen sind in der Summe erschreckend“, befand der TK-Vorstandsvorsitzende Jens Baas bei der Vorlage der Studie vor Pressevertretern in Berlin. Überrascht habe ihn vor allem, wie stark das Alter angehender Akademiker Erkrankungen wie Depressionen, Belastungs- oder Angststörungen begünstige – und wie stark dies auf die Gesundheit durchschlage. „Ab 30 können sie mit Belastungen schwerer umgehen.“ Dann spielten entscheidende Prüfungen, Fragen der Studienfinanzierung und womöglich auch Kinder eine treibende Rolle als Stressfaktoren. Zum Beleg: Gemäß der Erhebung bezeichnen nur drei von zehn Studierenden über 28 Jahren ihr Befinden als „sehr gut“, bei den bis 23jährigen sind es dagegen 42 Prozent, bei den 24- bis 27jährigen noch 40 Prozent.
Rückschlüsse auf die konkreten Erkrankungsursachen erlaubt eine Sondererhebung, die das Institut Forsa im Auftrag der Kasse mit 1.000 repräsentativ ausgewählten Studierenden vorgenommen hat. Befragt wurden diese unter anderem zu ihrem Ernährungs- und Bewegungsverhalten, zum Umgang mit Stress und den digitalen Medien. Ganz oben auf der Liste der Stressauslöser stehen erwartungsgemäß Prüfungen mit 58 Prozent bei Frauen und 46 Prozent bei den Männern. Danach folgen „schwerer/umfangreicher Lernstoff“ (30 bzw. 26 Prozent), „Mehrfachbelastung durch Studium und Jobben“ (34 bzw. 19 Prozent), „Angst vor schlechten Noten“ (33 bzw. 19 Prozent), „die Sorge, keinen Job zu finden“ (29 bzw. 18 Prozent), „finanzielle Sorgen“ (24 bzw. 17 Prozent), „private Konflikte“ (18 bzw. 12 Prozent) sowie „Mehrfachbelastung durch Studium und Familie“ (15 bzw. 8 Prozent).
Frauen sind stressanfälliger
Auffällig ist die größere Stressanfälligkeit des weiblichen Geschlechts. Bei ausnahmslos allen abgefragten Faktoren ergeben sich höhere Zustimmungsraten bei Studentinnen verglichen mit ihren männlichen Kommilitonen – in vier Fällen sogar um mehr als zehn Prozentpunkte. Ein ähnliches Bild ergibt sich folgerichtig bei der Betroffenheit durch gesundheitliche Beschwerden und Erkrankungen. 62 Prozent der Frauen gaben an, innerhalb der letzten zwölf Monate unter Kopfschmerzen gelitten zu haben, aber nur 34 Prozent der Männer. Gewaltige Diskrepanzen zeigen sich auch bei „durch Stress erschöpft“ (54 bzw. 35 Prozent) und „Rückenschmerzen“ (48 bzw. 33 Prozent).
Im Falle von „Schlafproblemen“, „Allergien“, „Magenbeschwerden oder Übelkeit“ „Konzentrationsstörungen“, „häufige Erkältungskrankheiten“, „Tinnitus bzw. Ohrengeräusche“ und „Untergewicht“ sind die Abstände zwischen Frau und Mann zwar geringer, aber immer noch evident. Einzig im Falle von „Übergewicht“ haben die Männer mit zehn Prozentpunkten gegenüber neun bei den Frauen die Nase vorn.
Warum Studentinnen augenscheinlich stärker auf Stress reagieren als Studenten, löst die Studie nicht auf. Die für die Erwerbsbevölkerung weiterhin prägende traditionelle Rollenverteilung, bei der die Familienarbeit noch immer größtenteils bei den Frauen liegt, kommt für die Autoren als Erklärung nicht in Betracht. Bei den Studierenden lasse sich keine zusätzliche Belastung durch Kinder erkennen und weiter: „Studierende mit Kindern sind nicht signifikant erschöpfter als ihre Kommilitonen ohne Nachwuchs“.
Soziologie macht krank
„Nie gestresst“ oder „selten gestresst“ fühlen sich von den Befragten lediglich 22 Prozent. 55 Prozent sagen dagegen, „manchmal“ unter Stress zu stehen, für 23 Prozent trifft dies sogar „häufig“ zu. Im Durchschnitt der Bevölkerung stehen hingegen bloß 57 Prozent „manchmal“ oder „häufig“ unter Strom (gegenüber 78 Prozent unter Studierenden). Dabei hängt der Grad der Belastung auch davon ab, was man studiert. Am besten geht es Studierenden in den naturwissenschaftlichen und Technikfächern (MINT). Von ihnen gaben 17 Prozent an, keinerlei Beschwerden zu haben, was laut Report „sicherlich auch“ durch den niedrigen Frauenanteil bedingt sei.
Bei den Geisteswissenschaftlern wären hingegen nicht einmal zehn Prozent beschwerdefrei. So litten mehr als die Hälfte (55 Prozent) der angehenden Soziologen und Politologen an Kopfschmerzen, 52 Prozent an stressbedingter Erschöpfung und an keiner anderen Fakultät gebe es so viele Allergiker (36 Prozent). Sechs Prozent der Geisteswissenschaftler attestierten sich zudem eine Essstörung. Am gesündesten lebst es sich als angehender Mediziner und Psychologe. 90 Prozent von ihnen sagen von sich, in einer „guten“ bis „sehr guten“ Verfassung zu sein. In den Geisteswissenschaften behaupten das nur 73 Prozent von sich.
Mehr Semester – mehr Pillen
Mit steigendem Semester steigt die Verschreibung von Antidepressiva
In der Umfrage gab jeder Vierte an, der Stressdruck sei schon einmal so hoch gewesen, dass übliche Entspannungsmethoden nicht mehr geholfen hätten. „Knapp die Hälfte von denen hat deshalb professionelle Hilfe in Anspruch genommen“, bemerkte TK-Vorstandschef Baas. Zu den häufigsten Erkrankungen gehören demnach Depressionen, somatoforme Störungen, Anpassungs- und Belastungs- sowie Angststörungen. Nach der Studie bekommen Studierende bis zum Alter von 26 Jahren seltener Antidepressiva als ihre berufstätigen Altersgenossen verschrieben, dann steigt das Volumen an und ab 32 schlucken sie doppelt so viele solcher Pillen wie die Erwerbspersonen.
Eine beträchtlicher Teil sucht zur Stressbewältigung sein Heil im Alkohol: 43 Prozent der männlichen Studierenden trinken laut der Umfrage, um damit dem Stress zu begegnen, bei den Frauen sind es 34 Prozent. 17 Prozent aller Befragten setzen auf Rauchen, sechs Prozent konsumieren Cannabis, vier Prozent nehmen Beruhigungsmittel und zwei Prozent der Männer behelfen sich mit Aufputschmitteln. Unter den unbedenklichen Methoden, mit den Belastungen klarzukommen, liegt das „Spazierengehen“ mit 75 Prozent an der Spitze.
Dahinter kommen „Fernsehen“, „im Internet surfen oder Videosiele spielen“ und „Einkaufsbummel“. Während Frauen zu 52 Prozent beim Shoppen entspannen können, bevorzugen Männer die Ablenkung mit TV, Computer und Smartphone (82 Prozent). Allerdings sehen drei von vieren auch das Suchpotenzial der neuen Medien. Gut die Hälfte gab an, sich dadurch schnell ablenken zu lassen. „Das Problembewusstsein ist da, aber der Generation Smartphone fällt es schwer, sich gut zu entspannen“, meinte dazu Baas.
„Faules Viertel“
Das vielleicht beste Mittel gegen Stress sind Bewegung und Sport. Gut drei Viertel der befragten Hochschüler sind Freunde der körperlichen Ertüchtigung, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. 19 Prozent bezeichnen sich dagegen als „Sportmuffel“, fünf Prozent gar als Antisportler. In der Studie firmiert diese Gruppe als das „faule Viertel“. Für Baas ist es „schon erschreckend, dass nur drei Viertel der Studenten sagen, dass sie Sport für sich als wesentlich ansehen – aber ein Viertel eben nicht.“ Wer selbst in seiner Freizeit noch viel am Computer sitze, habe häufiger gesundheitliche Probleme als andere Studierende, die öfter „offline“ seien.
Stress muss an sich nichts schlechtes sein, im Ernstfall kann er sogar leistungssteigernd wirken. Gefährlich wird es, sobald er zum Dauerzustand wird und die gängigen Bewältigungsstrategien nicht mehr greifen. Krankenkassen und Hochschulen halten mittlerweile vielfältige Angebote vor, um den Betroffenen zu helfen. Dazu zählen beispielsweise Seminare gegen Prüfungsstress oder Entspannungstrainings. Ansonsten gilt: In der Ruhe liegt die Kraft.
(rw)
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