Willkommen im HörsaalAkademische Nothilfe für Flüchtlinge
Das Bild stammt zwar von einer Aktion in Australien – die gezeigte Liste bekannter Flüchtlinge ist aber international.
Studis Online: Täglich gelangen Hunderte, wenn nicht Tausende Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, Libyen, Eritrea oder Somalia nach Europa. Unzählige Menschen sind beim Versuch, das Mittelmeer zu überschiffen, ertrunken. Wer es am Ende bis nach Deutschland schafft und Asyl beantragt, ist in der Regel zum Nichtstun verdammt. Ohne Arbeitserlaubnis dürfen Flüchtlinge weder jobben noch eine Ausbildung machen. Erst nach anderthalb Jahren Aufenthalt fallen diese Einschränkungen für Asylbewerber und geduldete Flüchtlinge weg. Was bedeutet das für die Betroffenen?
Christoph Schwarz: Für viele ist es natürlich verlorene Lebenszeit in einer sehr prekären und verletzlichen Lage. Ich kann an dieser Stelle nur von den Flüchtlingen aus Syrien sprechen, auf die unsere Kampagne Fluechtlingsstipendien.de gemünzt war. Vor Beginn des Bürgerkrieges studierten rund 20 Prozent der Bevölkerung oder befanden sich in irgendeiner Form der Weiterbildung. Rechnet man das einfach einmal auf die Flüchtlingszahlen hoch …
… von welcher Größenordnung muss man dabei ausgehen?
Die Flüchtlinge aus Syrien sind inzwischen die größte Flüchtlingspopulation weltweit: Sieben Millionen Binnenvertriebene und fast vier Millionen internationale Flüchtlinge. Wir reden hier von einer „jungen“ Gesellschaft, in der Menschen unter 25 Jahren die Bevölkerungsmehrheit stellen. Angesichts der besagten 20 Prozent, die sich vor Ausbruch des Bürgerkriegs in Aus- oder Weiterbildung befanden oder ein Studium absolvierten, muss man von rund zwei Millionen junger Menschen ausgehen, für die die Flucht auch eine erzwungene Unterbrechung ihres Studiums auf unbestimmte Zeit bedeutet. Das ist eine Situation, die sich ohne Hilfe von außen nicht ändern wird. Hilfsorganisationen und die UNESCO versuchen zwar, in den Flüchtlingslagern die Grundbildung der Kinder zu garantieren, doch für weiterführende Bildung können sie leider nicht sorgen.
Sie sprachen Fluechtlingsstipendien.de an. Sie waren Mitbegründer dieser Initiative, die sich im Vorjahr in einem Appell an das Auswärtige Amt und den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) dafür eingesetzt hatte, syrischen Flüchtlingen mit einem Stipendienprogramm und Studentenvisas ein Studium in Deutschland zu ermöglichen. Der Aufruf wurde zum Auftakt der Kampagne von über 200 Professorinnen und Professoren unterzeichnet. Am Ende zählte die Kampagne 4.000 Unterstützer. Wie kam es zu dieser Idee?
Unser Interviewpartner Christoph Schwarz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Nah- und Mitteloststudien (CNMS) an der Philipps-Universität Marburg. Im Forschungsnetzwerk Re-Konfigurationen forscht er schwerpunktmäßig zu Jugend im arabischen Raum und Südeuropa, gegenwärtig zu Marokko und Spanien. Zuletzt war von ihm im Verlag Springer VS das Buch „Adoleszenz in einem palästinensischen Flüchtlingscamp: Generationenverhältnisse, Möglichkeitsräume und das Narrativ der Rückkehr“ erschienen. Schwarz war Mitinitiator der Kampagne fluechtlingsstipendien.de, die sich erfolgreich für die Einrichtung von Hochschulstipendien für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien eingesetzt hat.
Meine Kollegin Greta Wagner von der Uni Frankfurt (Main) und ich hatten schon eine Weile mit anderen Freundinnen diskutiert, wie man seine Ressourcen als wissenschaftliche Mitarbeiterin bzw. wissenschaftlicher Mitarbeiter nutzen könnte, um in dieser Situation etwas für Flüchtlinge zu tun. Dann kam die Idee auf, einen Appell für ein solches Stipendienprogramm zu formulieren, damit wenigstens einigen dieser Flüchtlinge eine sichere Einreise nach Deutschland und das Studium hier ermöglicht wird. Die Resonanz aus der Professorenschaft war uneingeschränkt positiv – wir bekamen von vielen Nachfragen, ob sie darüber hinaus noch unterstützen können, viele haben Interviews in den Medien gegeben, um die Einrichtung eines solchen Programms zu unterstützen. Wir hatten in sehr kurzer Zeit 200 Erstunterzeichner zusammen, sind an die Öffentlichkeit gegangen und haben den Aufruf dann geöffnet, so dass dann insgesamt über 4.000 Leute unterschrieben haben.
Tatsächlich blieb Ihr Vorstoß nicht folgenlos …
Richtig. Das Auswärtige Amt hat dem DAAD dann tatsächlich 7,8 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um mit dem Programm „Leadership for Syria“ 100 Stipendien für Flüchtlinge aus Syrien einzurichten.
100 Stipendien – Das klingt nicht gerade nach einem großen Wurf, oder?
Wir hatten nur das Auswärtige Amt adressiert, es sind aber noch eine Reihe anderer Programme von anderen aufgelegt worden. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat in Zusammenarbeit mit dem DAAD und der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Jordanien ein Programm für Drittstaatenstipendien in Jordanien aufgelegt. Unter dem Titel „New Perspectives for Young Syrians and Jordanians“ wird Flüchtlingen und gebürtigen jordanischen Studierenden das Studium an einer Universität vor Ort ermöglicht. Und nicht zuletzt haben diese Programme der Bundesregierung zwei Nachahmer auf Landesebene gefunden: Baden-Württemberg hat 50 Stipendien ausgeschrieben, Nordrhein-Westfalen weitere 21. Letztere richten sich allerdings nur an Flüchtlinge aus Syrien, die sich schon in Deutschland aufhalten. Der DAAD hat außerdem mitgeteilt, er habe die Anzahl seiner regulären Stipendien für Syrerinnen und Syrer verdoppelt.
Hätten sie sich nicht trotzdem größere Anstrengungen erhofft?
Klar, verglichen mit der immensen Anzahl der Flüchtlinge klingt das erstmal nicht nach viel. Aber wir begrüßen natürlich diese Programme und hoffen, dass das keine einmaligen Initiativen bleiben, und dass die dort gesammelten Erfahrungen in weitere Folgeprogramme einfließen, die sich vielleicht auch nicht auf Flüchtlinge aus diesem Konflikt beschränken müssen. Problematisch finden wir allerdings die Ausrichtung und den Titel von „Leadership for Syria“, der doch sehr deutlich auf die Formierung einer künftigen Führungselite zielt. Der DAAD steht natürlich unter bestimmten Sachzwängen: Institutionell muss er nach dem Prinzip handeln „Stipendien für die Besten.“ Der Grundgedanke dabei ist, dass öffentliche Gelder nur in die Personen investiert werden dürfen, die realistische Chancen haben, ihre Studienziele zu erreichen.
Wie lautet dagegen Ihr Ansatz?
Wir hätten uns gewünscht, dass das Programm stärker auf die soziale Situation der einzelnen Bewerberinnen und Bewerber Rücksicht nimmt. Der Appell stellte ja unter dem Motto „Aktiver Flüchtlingsschutz und langfristige Hilfe beim Wiederaufbau“ gerade humanitäre Aspekte in den Vordergrund. Und es waren gerade diese Aspekte, die eine massive Unterstützung an den Universitäten erfuhren, wie die Reaktionen auf den Appell und das durchweg positive Echo in den deutschen Medien zeigen.
Haben Sie also Sorge, die DAAD-Stipendien könnten bei den Falschen ankommen?
Wir denken einfach, die soziale Situation der Bewerberinnen und Bewerber sollte ein eigenes Kriterium bei der Auswahl sein. Wenn man will, dass öffentliche Gelder dahin gehen, wo sie am effektivsten eingesetzt werden, sollten sie auch an jene Flüchtlinge gehen, die sonst gar nicht studieren könnten – weniger an jene, die zwar flüchten mussten, die jedoch finanziell so gut gestellt sind, dass sie auch ohne Stipendium ein Studium finanzieren könnten. In diesem Sinne sollte etwa eine Studentin, die in der prekären und gefährlichen Umgebung eines Flüchtlingscamps wohnen muss, bei annähernd gleichen Leistungen bevorzugt werden vor einem Studenten, der zwar fliehen musste, dessen Familie jedoch prinzipiell über genug Ressourcen verfügt, um das Studium der eigenen Kinder auch ohne Stipendium weiterhin zu finanzieren. Fehlt diese humanitäre Ausrichtung, droht ein solches Programm jene zu fördern, die schon vor Ausbruch des Bürgerkriegs besser gestellt waren. Und damit würden möglicherweise soziale Ungleichheiten und Ausschlüsse reproduziert, die mitursächlich waren für die Entwicklung des Konflikts.
Zum Vergleich: Wenn man ein Studienstipendium einer Stiftung in Deutschland erhält, dann muss man in der Regel ja auch das Einkommen der Eltern angeben, die gesetzlich verpflichtet sind, einen in einem gewissen Rahmen zu unterstützen. Zudem legen einige Stiftungen genau darauf großen Wert: Auf ungewöhnliche Biographien oder Menschen, die als erste ihrer Familie studieren.
Trotz Ihrer Kritik haben Sie die Kampagne als Reaktion auf das angekündigte Förderprogramm letztlich doch eingestellt. Befürchten Sie nicht, dass sich das Thema damit erledigt hat und am Ende nur ein bisschen Symbolpolitik übrig bleibt?
Das im Appell formulierte Ziel, dass von der Bundesregierung überhaupt ein Stipendienprogramm eingerichtet wird, wurde ja erreicht. Und es war strenggenommen keine großangelegte Kampagne, sondern ein einfacher Appell, für den wir Unterstützung mobilisiert haben. Wir hatten uns überlegt, welche Aktion aus unserer Position heraus die sinnvollste wäre, und mehr wäre in der knappen Freizeit zweier Initiatoren aus dem wissenschaftlichen Mittelbau auch nicht möglich gewesen. Ich sehe unsere Aktion deshalb gerade als ein Beispiel dafür, wie viel man auch mit wenigen Mitteln erreichen kann.
Gibt es denn schon Nachahmer?
Von Nachahmern würde ich da nicht sprechen, eigentlich haben wir ja einfach Unterschriften gesammelt und damit eben auch ein Stimmungsbild eingefangen – insofern war das erstmal eine recht punktuelle Initiative. Aber es gab ja schon lange davor viele Menschen an den Unis, die sich langfristig und mit hohem Einsatz für Flüchtlinge stark machen und es scheinen gerade noch mehr zu werden, mit vielen neuen Ideen – und ihr Handeln scheint sich auch stärker auf die Universität als Institution zu richten. In der Vorwoche war ich bei einer Veranstaltung hier an der Uni Marburg, bei der über die Situation von Flüchtlingen informiert wurde und zudem Initiativen von Studierenden und Flüchtlingen ihre Arbeit vorgestellt haben. Es passiert überraschend viel in dieser Hinsicht, und trotz PEGIDA und der beschämenden Tatsache, dass Flüchtlinge hier an vielen Orten immer noch rassistische Gewalt fürchten müssen, hat man doch den Eindruck, dass es eine Vielzahl von Menschen gibt, die dem entgegenstehen und Flüchtlinge in irgendeiner Form unterstützen wollen. So haben wir beispielsweise einige Anfragen von Leuten erhalten, die Flüchtlingen kostenlos privaten Wohnraum angeboten haben. Diese persönliche Bereitschaft zur „Willkommenskultur“ ist doch beeindruckend – und sollte in Politik übersetzt werden.
Woran es in Ihren Augen aber noch hapert?
Heribert Prantl schrieb neulich in der Süddeutschen Zeitung (SZ), dass die obersten politischen Entscheider, etwa die Innenministerkonferenz, noch nicht begriffen haben, dass sie eine neue, gute „Willkommenspolitik“ nicht gegen, sondern mit einem großen Teil der Bevölkerung machen könnten. Unsere Initiative bestätigt das im Hinblick auf die akademische Gemeinde. Es hat sich gezeigt, dass es unter der Professorenschaft und generell an den Universitäten in Deutschland eine große Unterstützung für derartige Maßnahmen gibt. Wenn etwa die Bundesregierung oder einzelne Landesregierungen Stipendienprogramme für Geflüchtete institutionalisieren wollen, oder generell mehr für Flüchtlinge tun wollen, können sie auf diese Unterstützung verweisen. Es braucht natürlich den Mut und den politischen Willen dazu.
Die Flüchtlingsströme aus Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten werden absehbar noch über viele Jahre anhalten. Müsste die Hilfe für die Menschen – darunter auch solche für Akademiker – nicht sehr vier stärker institutionalisiert werden, anstatt weiter auf Einzelprojekte zu setzen?
Genau das denke ich auch. Freiheit der Forschung und Lehre ist ja ohne Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit nicht zu haben. Und es ist gerade die Figur des Flüchtlings, die daran erinnert, dass diese Grundlagen keine Selbstverständlichkeit sind, sondern an so vielen Orten der Welt weiterhin erkämpft werden müssen. Insofern sollte es für Wissenschaftler eigentlich selbstverständlich sein, sich für Flüchtlinge einzusetzen, und für viele ist es das ja auch. Konkret ergibt sich daraus die Forderung, die Universität als Ort von Bildung und Forschung Flüchtlingen besser zugänglich zu machen. Die englische Version unserer Website finden Sie unter www.refugeecampus.org. Wir wollten damit den Begriff des Flüchtlingscamps, das allgemein mit Elend assoziiert wird, in dem Menschen quasi gezwungen sind, in einem Lager isoliert von der Mehrheitsbevölkerung passiv auszuharren und sehr eingeschränkte Handlungsspielräume haben, in Verbindung setzen mit dem Begriff des Campus, der Universität, die für freie Bildung und intellektuellen Austausch, das Erlangen von Wissen und kritische Diskussionen stehen sollte. Gerade für die Goethe-Universität Frankfurt, an der Greta Wagner arbeitet, ist das ja relevant. Denken Sie an Adorno, Horkheimer und all die anderen Frankfurter Wissenschaftler, die von den Nazis ins Exil gezwungen wurden, an den Universitäten in den USA jedoch eine so weitreichende Unterstützung fanden, dass sie bahnbrechende Studien durchführen konnten.
Um ein Beispiel aus Großbritannien zu nennen: Wir wurden kontaktiert von der britischen Organisation Council for at-risk Academics (CARA), die Sie unter der Adresse www.cara1933.org finden. 1933, weil CARA in diesem Jahr, mit Hitlers Machtergreifung, gegründet wurde, um bedrohten Wissenschaftlern aus Deutschland zu helfen. Doch ausgerechnet in Deutschland gibt es bis heute keine derartige Organisation – warum nicht? Wir haben mit dem DAAD die größte akademische Austauschorganisation der Welt, eine Institution mit jahrzehntelanger Erfahrung. Sie bräuchte eben das Mandat, um auch etwas Derartiges umzusetzen und verfolgten und bedrohten Wissenschaftlern und Studierenden zu helfen. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte müsste ein solcher Auftrag doch an den Universitäten institutionalisiert werden – es bräuchte dafür eigene reguläre Fonds. Ich denke, an den Universitäten gibt es eine Menge Unterstützung dafür, und ganz konkrete Initiativen etwa von Studierenden.
An welche denken Sie dabei konkret?
Um nur zwei Beispiele zu nennen: Berliner Studenten bauen gerade eine Online-Universität für Flüchtlinge auf (vgl. auch Bericht bei Motherboard/Vice), bei der diese dann einen international anerkannten Abschluss machen können. Oder Lüneburg: Dort hat gerade eine studentische Initiative durchgesetzt, die Universität für Flüchtlinge als Gasthörer zu öffnen. Die Institution öffnet sich damit für Menschen, die sonst – je nach Status – permanent in die Untätigkeit gedrängt werden, weil sie von so vielen Handlungsfeldern juristisch oder ökonomisch ausgeschlossen sind. Als Erasmus-Student konnte ich selbst die Erfahrung machen, dass eine Universität nicht zuletzt eine gute Lernumgebung für den weiteren Fremdsprachenerwerb bieten kann. Anders als in gesonderten Sprachkursen ist man in Uniseminaren eben vor allem mit Muttersprachlern zusammen, hört ihnen beim Kommunizieren und Diskutieren im Alltag zu, kann vielleicht irgendwann selbst mitmischen, steht gleichzeitig nicht so sehr unter Handlungsdruck, selbst sprechen zu müssen, sondern kann erstmal teilnehmend beobachten. Man müsste mehr solche sozialen Situationen schaffen und zugänglich machen. Die Lüneburger Studierenden berichten übrigens auch davon, dass sie bei ihrer Uni offene Türen eingerannt haben.
(rw)