Im Hochschulreich der 16.000 MöglichkeitenGlücksache Studienwahl
Studienwahl: So viel Auswahl, so viele Fragen …
Studis Online: Viel diskutiert wird darüber, wie im Zuge der Umsetzung der europäischen Bologna-Studienstrukturreform die Verschulung, Arbeitsbelastung und der Prüfungsstress für Studierende an Deutschlands Hochschulen zugenommen haben. Sie widmen sich in Ihrem neu erschienenen Buch einem anderen Aspekt der neuen Studienwelt: Nämlich der mit Umstellung auf Bachelor und Master massiv ausgeweiteten Auswahl an Studienangeboten. Wie groß sind heute die Möglichkeiten?
Marco Schröder: Ziemlich gewaltig, muss man sagen. Nach meiner Analyse gibt es heute an deutschen Universitäten und Fachhochschulen mehr als 16.000 Studienangebote, wovon über 3.000 grundständige Studiengänge sind ...
… Was meinen Sie mit Studienangeboten im Unterschied zu grundständigen Studiengängen?
Unser Interviewpartner Marco Schröder ist Soziologe und Bildungswissenschaftler an der Professur für Wirtschafts- und Berufsdidaktik an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. Von ihm erschien am 1. Februar die Studie „Studienwahl unter den Folgen einer radikalen Differenzierung“ im Verlag Julius Klinkhardt (224 Seiten, 39,90 EUR, ISBN 978-3-7815-2015-8).
Die Zahl 16.000 markiert praktisch die Gesamtheit aller Möglichkeiten und umfasst die Angebote an sämtlichen Hochschulen unabhängig von der Art des Studienabschlusses. Darunter befinden sich dann auch Optionen, die von mehreren Hochschulen offeriert werden, sich inhaltlich also nicht unterscheiden. Besagte 3.000 grundständige Studiengänge sind faktisch jeder für sich einzigartig und können direkt nach dem Erlangen der Hochschulreife studiert werden, beispielsweise als Bachelor-Studiengang. Nehmen wir das Beispiel Informatik: Früher war das ein Fach, das praktisch überall nahezu inhaltlich identisch zugeschnitten war und auch bloß unter dem einem Namen, eben „Informatik“, firmierte. Heute wird zwischen über 140 als unterschiedlich spezialisiert ausgewiesenen grundständigen Informatikstudiengängen differenziert. Wo früher bestenfalls zwischen Informatik und Elektrotechnik, zwischen Soziologie und Pädagogik oder zwischen Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre entschieden werden musste, stehen heute in allen Fachrichtungen unzählige Alternativen zur Auswahl. Da kann die Wahl schon mal zur Qual werden.
In welchem Maß hat sich das Angebot mit Bologna ausgeweitet?
Betrachten wir die grundständigen Studiengänge, dann hat deren Zahl seit Beginn der Reform im Jahr 1999 um mehr als 1.400 Prozent zugelegt. Damals konnte noch zwischen 180 unterscheidbaren und mehr oder weniger klar definierbaren Studienfächern ausgewählt werden. In den 1970er Jahren waren es sogar lediglich 70.
Ist die Entwicklung nicht einfach ein Abbild der modernen Arbeitswelt, die vielgestaltiger ist als noch vor 20, 30 Jahren?
Natürlich: Die Arbeitswelt hat sich weiter entwickelt und mit ihr auch die Wissenschaft sowie die Technologien, die im Produktionsprozess zum Einsatz kommen. Was wir an den Hochschulen erleben, ist allerdings eine so radikale Differenzierung, die Fragen aufwirft. Erfüllen Hochschulen zunehmend den Zweck, die lokalen Arbeitsmärkte passgenau mit Arbeitskräften zu versorgen? Sind hier nicht Vermarktlichungsprozesse im Gange, die darauf hinauslaufen, dass Hochschulen immer mehr zu Produktgestaltern für Wirtschaft und Industrie werden?
Darauf kommen wir später noch einmal zurück. Der Informationsdienst Wissenschaft (idw) hat ihr Buch unter der Überschrift angekündigt: „Desorientierung alla Bologna, (…) zu den fatalen Folgen der radikalen Differenzierung des Studienangebots im Gefolge der Bologna-Reform“ Kommen wir auf die Studierenden zu sprechen, und solche, die es werden wollen. Was ist für die „fatal“ an der Entwicklung?
Man muss sich das vorstellen: Die jungen Menschen kommen aus der Schule und stehen dann mit einem Mal vor einem Berg von 3.000 möglichen Studiengängen. Klar, das in Frage kommende Angebot ist durch eigene Interessen und Vorlieben deutlich eingegrenzter. Aber selbst bei „nur“ 140 Informatik-Angeboten: Wie will man sich dabei einen umfassenden und verlässlichen Überblick verschaffen, geschweige denn am Ende eine wohlreflektierte und irgendwie rationale Studienwahl treffen? Zunächst müsste man sich informieren, was Informationslogistik eigentlich ist oder Informationsmanagement. Sind das die gleichen Studiengänge oder unterscheiden sie sich voneinander? Ist das überhaupt ein Informatik- oder doch ein BWL-Studiengang? Tatsächlich gibt es das Angebot nämlich in beiden Ausprägungen. Und hat man das durchschaut, bleiben immer noch weit über hundert andere Möglichkeiten, die es zu prüfen gilt.
Sie haben im Rahmen Ihrer Studie Umfragen unter Studierenden vorgenommen, um zu ermitteln, wie die mit der „Unübersichtlichkeit“ umgehen. Was kam dabei heraus?
Ich habe rund 1.500 Studienanfänger schriftlich befragt sowie anhand ausgewählter Studierender eine Interviewanalyse durchgeführt. Dabei ergab die Befragung, dass die große Mehrheit die meisten Studienangebote nicht kennt, was mit Abstrichen auch für jene gilt, die der eigenen Interessenlage entsprechen. Unter Biologie konnten sich alle etwas vorstellen. Aber mit Dingen wie „Schmuck und Objekte der Alltagskultur“, „Transportation Interior Design“, „Technische Kybernetik“ oder eben „Informationslogistik“ können die allerwenigsten etwas anfangen. Dazu passt eine andere Statistik: Im Nachhinein erst haben ganz viele der Befragten Studiengänge entdeckt, die möglicherweise besser zu ihnen gepasst hätten als das, was sie gewählt haben. Das trifft auf beachtliche 46 Prozent zu.
Begründen sich damit vielleicht auch die hohen Abbrecherquoten?
Beweisen kann ich das nicht, aber der Schluss liegt nahe, dass es entsprechende Zusammenhänge gibt. Es gibt deutliche Hinweise, dass aus der Unkenntnis des Angebots immense Unsicherheiten erwachsen, etwa die, ob die getroffene Studienwahl die richtige war. Tatsächlich stellt dies von den Befragten jeder fünfte in Frage.
Gerade von den Bachelor-Studierenden bricht heutzutage bald jeder dritte sein Studium vorzeitig ab, während es bei den traditionellen Studiengängen mit Ziel Diplom, Magister und Staatexamen deutlich weniger sind. Erhärtet das für Sie den Verdacht, dass das verbreitete Scheitern ursächlich mit der neuen Vielfalt im Zeichen von Bologna zu tun hat?
Durchaus. Bei meinen qualitativen Analysen kam sehr oft zur Sprache, dass Betroffene ihre Studienwahl noch gar nicht abgeschlossen haben, obwohl sie längst studieren, mitunter sogar im vierten Semester. Man schaut sich weiter um und ist dann auch zum Wechsel bereit, sobald sich ein passenderes Angebot auftut.
Wird die richtige Studienwahl heute damit nicht immer mehr zu einer Frage von Glück und Zufall?
Wegen der Unübersichtlichkeit unternehmen viele gar nicht mehr erst den Versuch, sich umfänglich zu informieren. An die Stelle einer rationalen Auswahl treten vermehrt alternative, begrenzt rationale Heuristiken und Entscheidungsstrategien. Häufig wird nur noch nach dem Versuch-und-Irrtum-Prinzip verfahren: Man probiert einen Studiengang aus, auch um erst mal den Druck loszuwerden, und schaut dann, was daraus wird. Bei Bedarf, im Notfall oder bei Gelegenheit wird dann gewechselt, bisweilen auch mehrfach. Eine andere Lösung besteht darin, sich blind auf Angebote oder bei Hochschulen zu bewerben, die gut bei einem Ranking abgeschnitten haben – nach dem Motto: „Ich mache irgendwas mit Computern.“ Man überlässt die Entscheidung einfach anderen, was die Gefahr, daneben zu liegen, natürlich massiv erhöht.
Haben Sie sich auch mit der Frage beschäftigt, warum die Entwicklung in die von Ihnen beklagte Richtung ging? Warum hat Bologna so viel „Kreativität“ bei den Hochschulmanagern frei gesetzt?
Ein Punkt ist die zunehmende Ökonomisierung und Vermarktlichung der Hochschulen. Die Gestaltung von Studiengängen hat immer mehr etwas von einer Produktgestaltung nach den Erfordernissen des Arbeitsmarktes.
Wie weit reicht dabei der Einfluss der Wirtschaft in die Hochschulen hinein? Schaffen sich Unternehmen heute Studiengänge nach eigenem Zuschnitt?
Für Stiftungsprofessuren, die ja zum Teil durch ein einzelnes Unternehmen finanziert sind, lässt sich das durchaus sagen. Daneben gibt es weitere Kooperationen, bei denen die Wirtschaft ihren Einfluss geltend macht, etwa durch Sponsoring oder mit dualen Studiengängen. Aber auch im Falle der anderen Studienangebote agieren die Hochschulen nicht losgelöst von den Erfordernissen der Wirtschaft. Es wird beispielsweise geschaut, welche Arbeitnehmer der regionale Arbeitsmarkt braucht und in welchen Konzernen, Unternehmen und Branchen sich die Absolventen unterbringen lassen. Wenn Studierende der Uni X vermehrt bei Daimler landen, dann steigert das ja auch das Prestige der Hochschule. Und so entstehen dann in einem Wechselsystem der gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen Wirtschaft und Hochschulen ganz spezialisierte, auf eine Region abgestimmte Studiengänge.
Geht die Entwicklung damit nicht dahin, dass eine Hochschulqualifikation bald nur noch einem ganz speziellen Berufsbild entspricht, womöglich gar maßgeschneidert für ein einziges Unternehmen?
In Österreich gibt es diesbezüglich bereits erste Beispiele. Dort entstehen hochspezialisierte Studiengänge für einen lokal eng begrenzten Arbeitsmarkt, die nach wenigen Jahren, sobald die Nachfrage gesättigt ist, einfach wieder verschwinden. Nur was macht man als Betroffener mit einer akademischen Ausbildung, für die es über kurz oder lang gar kein passendes Berufsbild gibt? Man muss angesichts solcher Tendenzen, die sich auch hierzulande abzeichnen, die Frage stellen, wohin das führt, wenn Hochschulen nur mehr eine tätigkeitsorientierte Ausbildung verschaffen und nicht mehr eine berufsbildende. Denn eigentlich sollte doch eine akademische Ausbildung dazu befähigen, eine breitere Palette an Tätigkeiten und Fertigkeiten abzudecken. Ich habe nichts dagegen, wenn bei einem Master-Studiengang oder anderen weiterführenden Studiengängen auf Spezialisierung gesetzt wird. Nur sollte das nicht schon beim Bachelor losgehen, der ja nach Definition ein grundständiger Studiengang ist.
Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Eric Schweitzer, hat in der Vorwoche in einem Interview mit der Zeitung Die Welt die Berufsbefähigung von Bachelor-Absolventen in Zweifel gezogen. Nur noch 47 Prozent der Unternehmen wären mit diesen zufrieden, nach 63 Prozent im Jahr 2011. Dazu sagten lediglich 15 Prozent der Betriebe, dass die Bachelor-Abgänger gut auf den Arbeitsmarkt vorbereitet wären. Wie bewerten Sie den Vorstoß des DIHK-Chefs?
Bachelor-Absolventen mögen hochspezialisiert sein. Vielleicht gehen ihnen aber andere Talente ab, die die Arbeitgeber an Diplom- oder Magister-Absolventen zu schätzen gelernt haben: Also die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen, zu improvisieren, aus einem breiten Wissensschatz zu schöpfen, flexibel auf Veränderungen zu reagieren – eben all das, was eine umfassende akademische Ausbildung mit sich bringen sollte.
Wenn inzwischen sogar seitens der Wirtschaft Klagen laut werden. Glauben Sie, der Trend zu immer mehr Differenzierung, „Fachidiotisierung“ und der damit verbundenen Desorientierung ist noch aufzuhalten?
Den Trend aufzuhalten, wäre zu wenig. Der Status quo ist schon so zugespitzt, dass daraus allen Beteiligten Nachteile erwachsen – den Studierenden genauso wie den Unternehmen. Denn wie sollen Personalabteilungen bei einem solchen Meer an Möglichkeiten, den richtigen Fisch, sprich Kandidaten, an Land ziehen? Welcher Personalchef kann bei mehr als 3.000 unterschiedlichen Abschlüssen den Überblick behalten? Wir brauchen also längst eine Umkehr des Trends, weg von der Differenzierung, zurück zu einem überschaubaren Angebot, verbunden mit einer breiter und fundierter ausgerichteten Ausbildung junger Menschen.
Welcher Lösungsweg schwebt Ihnen vor?
Zum Beispiel müsste man das Studium im ersten Semester deutlich allgemeiner halten – angelehnt an ein „studium generale“ –, um den Studierenden Orientierung zu verschaffen. Vielleicht bräuchte es ein grundsätzliches Neuverständnis der Studienwahl als subjektive Exploration. Das müsste einhergehen mit ausgewählten Programmen der interinstitutionellen Begleitung und Beratung, die schon in den Schulen beginnen und an denen die Arbeitsagenturen beteiligt sind. Aber vor allem braucht es eine Reform der Reform. Studiengänge müssen wieder dahin kommen, sich einer Fachrichtung unterzuordnen. Zumindest einzelne Förderprogramme lassen erkennen, dass vielleicht so etwas wie ein Umdenken eingesetzt hat. Allerdings sind die Veränderungen sehr punktuell. Gegen den Wildwuchs in der Breite hat die Politik noch nichts unternommen.
(rw)