Entsorgung von „Altlasten“?Lehramtsanwärtern in NRW droht Rauswurf
Wer das Studium nicht „normal schnell“ abschließt, kann sich mit dem Versuch des Rauswurfs von der Uni konfrontiert sehen.
Seit Mittwoch kann man sich im Internet unter fristen-kippen.de per Unterschrift solidarisch mit den Bedrängten zeigen. In drei Tagen kamen schon über 1.500 Unterstützer zusammen. Hinter der Kampagne stehen der „freie zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs), die Lehramtsfachschaften der betroffenen Hochschulen sowie die GEW-Studis, (die in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft organisierten Studierenden). Ihre Hauptforderungen lauten: Weg mit den Auslauffristen und Schluss mit der Drohung mit Zwangsexmatrikulation.
Die blüht denjenigen, die ihr Lehramtsstudium in NRW vor 2011 aufgenommen haben und mit dem Staatsexamen abschließen wollen. Mit der im selben Jahr erfolgten Umstellung auf den zweistufigen Bachelor/Master-Modus im Zeichen der Bologna-Studienstrukturreform geriet ihr Abschluss zum Auslaufmodell. Für die nach dem alten System Studierenden traten Übergangsregelungen in Kraft. Sie dürfen die Regelstudienzeit – je nach angestrebter Schulform sieben bzw. neun Semester – um maximal vier Semester überschreiten.
Härtefallregelung Fehlanzeige
Wer aus dem Rahmen fällt, kann sich seinen Abschluss abschreiben und soll aus der Uni verbannt werden. Für jene, die in den Grund-, Haupt- oder Realschuldienst streben, fiele demnach im Jahr 2016 der Vorhang, für angehende Gymnasial-, Gesamtschul- oder Berufsschullehrer ein Jahr später. Ungewöhnlich: Selbst bei Härtefällen sind nach dem bestehenden Reglement keinerlei Ausnahmen vorgesehen. Sonst ist es bei vergleichbaren Vorgängen so, dass auf spezielle individuelle Lebensumstände Rücksicht genommen wird und gegebenenfalls Erleichterungen gewährt werden.
Andererseits ist das Vorgehen kein Novum. Im Zusammenhang mit der weit fortgeschrittenen Abwicklung der traditionellen Abschlüsse Diplom und Magister sind immer wieder und vielerorts Studierende auf der Strecke geblieben. Vor knapp vier Jahren traf es so etwa auf einen Schlag 32 an der Uni Köln. Nur weil die sich damals dagegen wehrten und vor Gericht zogen, nahmen die Medien Notiz von dem Vorgang. Meistens vollzieht sich die Entsorgung der „Altlasten“ ziemlich geräuschlos. Oft reicht eine Ansage der Uni, die Leute vor die Tür zu setzen, und schon nehmen viele freiwillig Reißaus.
13.000 Leidtragende
Dass es diesmal anders läuft, erklärt sich vor allem mit der Größe des Problems. Nach Angaben des fzs fallen in ganz NRW über 13.000 Studierende unter die Regelung. Allein in Köln soll es 6.200 Leidtragende geben, in Paderborn 3000, in Aachen und Bielefeld jeweils 1.000, in Münster 500 und in Duisburg/Essen 300. Wohl nicht jeder davon droht an den Fristen zu scheitern. So sollen von den 1.650 Betroffenen an der Uni Siegen laut Hochschulverwaltung 1.550 zu den Prüfungen angemeldet sein. Stimmt das, wären immerhin noch rund 100 Studierende gefährdet. Mindestens: Schließlich muss das Erste Staatsexamen einschließlich möglicher Wiederholungen bis Ablauf der Frist geschafft sein.
Die fraglichen Unis und die Landesregierung verweisen darauf, dass selbst im Falle des Scheiterns oder absehbaren Scheiterns ein Ausweg bleibt. Demnach bestünde „grundsätzlich“ die Möglichkeit, in einen Bachelor/Master-Studiengang zu wechseln, wenngleich dies einen „gewissen Mehraufwand“ bedeuten könne. Kritiker halten das für Augenwischerei. In einem offenen Brief an das Wissenschafts- und das Schulministerium nennen sie den Schritt „nicht sinnvoll“. Wegen „erheblich differierender Studienordnungen“ würden viele Leistungen nicht anerkannt, etliche Scheine und Prüfungen müssten zusätzlich gemacht werden. Eine Bachelor-Arbeit müsste extra verfasst und ein Praxissemester absolviert werden. Bestimmte Fächerkombinationen ließen sich im Bachelor/Master-Korsett gar nicht erst weiterstudieren. Außerdem wäre man dadurch außerstande, ein drittes Fach zu studieren oder die Befähigung für eine zusätzliche Schulform zu erlangen.
Ein verschenktes Jahr
Vom Wechsel in den Bachelor rät auch fzs-Vorstandsmitglied Isabella Albert ab. „Wer schon lange studiert, verliert bei dieser Variante“, sagte sie am Freitag gegenüber Studis Online. Sie verwies auf zurückliegende Fälle, bei denen Magister- und Diplom-Abschlüsse ausliefen. „Manchmal wurden ganze Studiengänge in einen Bachelor gepresst, so dass man nur einen umgelabelten Studiengang mit schlechterem Ansehen studiert hat.“ In der Regel wäre „durch zusätzliche Module und die extra Abschlussarbeit bis zum Master-Abschluss unnötigerweise noch mindestens ein Jahr zusätzlich auf das Studium gepackt“ worden. Nach fünf Jahren Studium hätte man Leute gezwungen, noch einmal sechs Monate lang das Modul wissenschaftliches Arbeiten zu belegen. „Das ist eine völlig unsinnige Ochsentour“, klagte Albert.
Der besagte offene Brief wirft neben formellen Einwänden Grundsatzfragen auf: Künftige Lehrer müssten sich selbst „umfassend und kritisch“ bilden, um in der Schule zur Schaffung mündiger Demokraten beizutragen. Wer die Pädagogen von morgen „durch viel zu kurze Fristen in ihrer beruflichen und persönlichen Entwicklung einschränkt, kann nicht erwarten, dass Schüler im Sinne der in den Lehrplänen explizierten Ziele unterrichtet werden“.
„Schulen der Demokratie“
In einer fzs-Stellungnahme ergänzt Svenja Adach von der Uni Köln: „Das Lehramtsstudium muss selbst karrieredruckfrei, meinungsbildend und kritikfördernd sein, wenn Lehrerinnen und Lehrer später Freude am Verstehen und Verändern der Welt fördern sollen.“ Laut Sarah Ichnowski von der Lehramtsfachschaft der Uni Siegen müssen Hochschulen „Schulen der Demokratie“ sein. Mit den Fristen würde die „Zeit für Engagement für Verbesserungen im Studierendenparlament, in Fachschaften, in gesellschaftlichen Initiativen und die Mitwirkung an Seminaren aus Interesse (…) massiv beschränkt“.
Dass sich die Landesregierung von derlei Argumenten wird erweichen lassen und die Fristen mal eben abschafft, kann man getrost ausschließen. Allerdings könnte der völlige Verzicht auf Härtefallregelungen den Verantwortlichen noch auf die Füße fallen. Der fzs führt eine ganze Reihe an Gründen auf, warum sich bei manchen das Studium länger hinzieht. Viele müssten nebenher jobben, hätten Kinder oder pflegten Angehörige. Andere laborierten an einer Krankheit oder engagierten sich politisch an ihrer Hochschule. Fristen stünden zudem dem Regierungsziel entgegen, „das Teilzeitstudium zu fördern, um Menschen in unterschiedlichen Lebenslagen ein Studium zu ermöglichen“.
Kein Entrinnen
Dazu kommt der Punkt der Ungleichbehandlung zwischen den „Altstudenten“ und den nach dem neuen System Studierenden. Um sogenannte „Bummelanten“ zum Abschluss zu nötigen oder sie gleich ganz loszuwerden, behilft man sich in anderen Bundesländern (nicht in NRW) mit sogenannten Langzeitstudiengebühren, die mal mit vier, mal mit sechs Semestern über Regelstudienzeit greifen (vgl. unsere Übersicht Studiengebühren). Das Instrument impliziert aber immer noch das Recht zum „Weiterbummeln“ – solange man dafür zahlt. Die jetzt in NRW Betroffenen will man dagegen nach vier Semestern Verzug einfach an die Luft setzen.
Ganz unbeeindruckt von den Protesten und dem Widerhall in den Medien zeigen sich die Verantwortlichen aber auch nicht. Das Ministerium für Schule und Weiterbildung ließ gegenüber der Zeitung Die Welt verlauten: „Eine gewisse Modifikation der Fristen wird derzeit im Rahmen einer generellen Überarbeitung des Lehrerausbildungsgesetzes von 2009 mit dem Wissenschaftsministerium und anschließend mit den Hochschulen geprüft.“ Es gebe „bereits konstruktive Kontakte mit der Leitung und dem Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der Universität Köln“. Nicht möglich sei es jedoch, Auslauffristen generell aufzuheben. Pressesprecher Torsten Neumann bestätigte auf Anfrage von Studis Online. „Über die Fristen wird noch einmal gesprochen.“
Kurzer Prozess in Jena
Die Betroffenen dürfen also immerhin noch hoffen, einer Zwangsexmatrikulation zu entgehen. Viele Studierende in Thüringen hat das Schicksal längst ereilt. Nicht, weil ihr Studienabschluss von der Bildfläche verschwunden wäre. Nein – im Freistaat ist der Rauswurf fester Bestandteil des neuen Systems. „Was in Nordrhein-Westfalen gerade passiert, ist bei uns schon lange Praxis“, bemerkte Mandy Gratz, Sprecherin der Konferenz Thüringer Studierendenschaften (KTS) im Gespräch mit Studis Online. Sie studiert an der Friedrich Schiller Universität Jena (FSU) und berichtet aus persönlicher Anschauung. Danach sehe „so gut wie jede Prüfungsordnung“ ihrer Uni die Möglichkeit des Ausschlusses vor, „teils mitten im Studium, teils am Ende“.
Beispiel Lehramt: Würden bis zum 4. Semester bestimmte Leistungsanforderungen nicht erfüllt und im folgenden Semester abermals nicht erbracht, erfolge die Exmatrikulation. Nach demselben rigiden Zwei-Stufen-Modell werde in praktisch allen Fächern, egal ob im Bachelor-, Master- oder im Studium mit Ziel Staatsexamen verfahren. Für alle Studienrichtungen gelte dabei, „dass es teilweise gar nicht möglich ist, die angeforderten Prüfungen fristgerecht abzulegen, weil sie beispielsweise nur jährlich angeboten werden oder mit zahlreichen Zulassungsvoraussetzungen versehen sind, die an das Ablegen von anderen Prüfungen gebunden sind“, schilderte Gratz. „Wenn mal was dazwischen kommt, kann das später das ganze Studium kosten.“
Repressalien unrechtens?
Wie die Studierendenvertreterin ausführte, wolle der akademische Senat der FSU Anfang Mai eine weitere Verschärfung der Praxis in den Lehramtsprüfungsordnungen beschließen. Immerhin sei die Überführung der derzeitigen Lehramtsstudierenden in diese Prüfungsordnungen „vermutlich“ verhindert worden. „Das hätte sonst eine Exmatrikulationswelle bedeutet.“ Es sei nicht einmal geklärt, ob die Modalitäten mit dem geltenden Hochschulgesetz zu vereinbaren sind. „Das Verwaltungsgericht in Weimar hat daran bereits 2009 Zweifel geäußert.“
Gratz' Fazit: „Eine kritische Auseinandersetzung mit Wissenschaft und die Persönlichkeitsbildung werden durch politische Gestaltungsprozesse unterbunden. Hochschule bleibt so ein exklusiver Ort für Menschen, die sich konform zu Regelstudienzeiten und Studienplänen verhalten. Allen anderen wird durch Repressalien angezeigt, dass sie nicht willkommen sind.“ (rw)