Kompetent gegen Meinungsmache?„Lobbyismus an Schulen“ im Lehramtsstudium
Lobbyismus macht auch vor Schulen nicht halt. (Angehende) LehrerInnen erfahren dazu leider nur wenig im Studium.
Jeder kann es, jeder darf es: „Schule machen.“ Zum Beispiel die Verlagsgruppe Handelsblatt. Die publiziert nicht nur die Pflichtlektüre der Frankfurter Börsianer, sondern auch allerhand Handreichungen für Lehrer zum Unterrichten – und nennt das Zeug ganz unbescheiden: „Handelsblatt macht Schule“. Eine Materialsammlung heißt „Finanzielle Allgemeinbildung“ und wird von der Deutschen Vermögensberatung (DVAG) gesponsert. Eine Leseprobe: „Vermögensberater zu sein, ist eine spannende Tätigkeit, mit der man auch nebenberuflich – z. B. neben dem Studium – beginnen kann.“
Oder Exxon Mobil, der größte und profitabelste Konzern der Welt. Der US-amerikanische Ölgigant zapft zwischen Hannover und den Niederlanden Erdgasfelder an und hatte Nachwuchssorgen. Zwei Schulen in Niedersachsen geben sich hilfsbereit, ein Gymnasium in Sulingen, eines in Vechta. Für Praktikumsplätze, eine jährliche 10.000-Euro-Spende und etliche Gratisexkursionen darf der deutsche PR-Chef von Exxon in den Klassen ein- und ausgehen und schöne Dinge über seinen Brötchengeber erzählen. Die Sache läuft wie geschmiert: Die Schüler bekommen Abenteuer und „Expertise“ geboten, die Schulleitung hat weniger Geldsorgen und Exxon mittlerweile auch die Lehrlinge, die es braucht.
Ernährungsberater McDonald`s
Einzelfälle? Nein, heute fast schon die Regel. Nicht immer wird dabei mit dem Holzhammer auf die Kinderköpfe losgegangen, wie im Fall Exxon, und nicht immer geht die Rechnung der Lobbyisten auf, wie im Fall McDonald`s. Der Burgerbrater trat bis vor kurzem als Ernährungsberater an Schulen in Erscheinung. Als Partner im „Bündnis für Verbraucherschutz“, ins Leben gerufen durch die Stiftung Verbraucherschutz, die wiederum im Bundesverband der Verbraucherzentralen organisiert ist – so etwas wie der Schutzpatron der Konsumenten. Der Vorgang schmeckte vielen Eltern, Schülern und Lehrern gar nicht. Der „Essensretter“ foodwatch sammelte 37.000 Unterschriften dagegen, was im August zur Kündigung der Kooperation führte.
Vieles, was an Lobbying an den Schulen abläuft, ist nicht so leicht als platte Meinungsmache oder Public-Relation-Kampagne zu erkennen. Vor allem sogenanntes Unterrichtsmaterial zu allen möglichen Themen und aus den unterschiedlichsten Quellen ist heute aus den Klassenzimmern kaum noch wegzudenken. Vieles davon kommt sehr seriös daher, schön und ansprechend verpackt, so als ginge es einzig und allein um die Lernbedürfnisse und Lernerfordernisse von Kindern und Jugendlichen. Dieser „schöne Schein“ ist es unter anderem auch, der dem Phänomen so massiv Vorschub geleistet hat.
Weit über 800.000 Angebote im Netz
An der Universität Augsburg läuft noch bis April 2015 das dreijährige Forschungsprojekt „Bildungsmedien online“ mit dem Ziel, „den neu aufkommenden Markt für kostenlose Lehrmaterialien im Internet zu untersuchen und Kriterien für die Bewertung von diesem Material aufzustellen“. Laut einem Abstract von vor zwei Jahren waren 2012 knapp 900.000 derartige Materialien zu bekommen. Im Jahr davor waren es „nur“ rund 520.000, was einem Zuwachs von 70 Prozent entspricht. Die Zahl der Anbieter erhöhte sich im selben Zeitraum sogar um nahezu 75 Prozent auf absolut 482 Akteure. Über 26 Prozent der Lehrmaterialien stammten von explizit öffentlichen Einrichtungen, wie beispielsweise der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Immerhin bereits 19 Prozent sollen „erkennbar“ auf das Konto von Unternehmen, Vereinen und Stiftungen gegangen sein. Dieser noch vergleichsweise geringe Wert sagt aber nichts darüber aus, welche Rolle die Privaten im Schullalltag heutzutage tatsächlich spielen.
Die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist dieser Frage im Rahmen der Schulleistungsstudie PISA im Jahr 2006 nachgegangen. Der damalige Befund: 87,5 Prozent der 15-Jährigen in Deutschland besuchten eine Schule, an der Wirtschaft und Industrie Einfluss auf die Lehrinhalte nehmen. Im Mittel der Industrienationen betrug der Wert „lediglich“ 63,7 Prozent. Die Uni Augsburg hat ferner herausgefunden, dass von den 20 größten deutschen Konzernen 16 direkt oder auf Umwegen an der Erstellung von Schulmaterial beteiligt sind.
Von Kind auf Marionette
Der Verein LobbyControl, der Aufklärung über Lobbying, PR-Kampagnen und Denkfabriken betreibt, hat im Vorjahr eine Broschüre zum „Lobbyismus an Schulen“ veröffentlicht. Darin sind vier Motive aufgeführt, warum sich insbesondere die Wirtschaft die Schulen als Aktionsfeld ausgeguckt hat. Neben „Werbung und Sponsoring“ gehören dazu „Image verbessern“, „Nachwuchs rekrutieren“ und „Inhalte beeinflussen“. Die letztgenannte Strategie ist jene, die vielleicht am gefährlichsten, weil am schwersten zu durchschauen und in der Wirkung am nachhaltigsten ist. Dabei gehe es um eine „langfristige Beeinflussung von Einstellungen, Stimmungen oder Diskursen in der Gesellschaft“, konstatiert LobbyControl und die Hoffnung der Macher sei: „Beeinflussung von Kindern und Jugendlichen wirkt ein Leben lang.“
Wie das geht, zeigt sich am Beispiel der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM), einer von Unternehmerverbänden getragenen Denkfabrik, die seit 15 Jahren für marktradikale Reformen, Deregulierung und den „Rückzug des Staates“ Stimmung macht. Eines ihrer Kernanliegen ist die Überwindung der solidarisch organisierten Sozialversicherungssysteme. So wird in der Materialsammlung „Soziale Sicherung“ die Gesetzliche Rentenversicherung als „utopische Gerechtigkeit“ hingestellt und mehr oder weniger versteckt für die private Altersvorsorge geworben. Der Lobbyclub hat – als extra „Lehrerportal Wirtschaft und Schule“ – eine Reihe ganz ähnlicher Angebote im Programm: „Beratungsgespräche zur Altersvorsorge“, „Riester-Rente“ oder „Die überlegte Konsumentscheidung“.
Mit dem Segen der Kultusminister
Aber wie kann es sein, dass Industrie- und Bankenmanager ihre Marketingprofis, Imageberater und Spin-Doktoren so einfach auf die Schüler loslassen können? Es sei „paradox“, schrieb die Wochenzeitung Die Zeit vor einem Jahr unter dem Titel „Erste Stunde: Lobbykunde“. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen dürfe Schleichwerbung nur gezeigt werden, wenn sichtbar darauf hingewiesen werde. „In öffentlichen Schulen aber stehen PR-Chefs von Ölkonzernen vor der Klasse, ohne dass Schüler deren Absichten durchschauen. Schulbücher müssen von den Kultusministerien genehmigt werden, aber Arbeitsblätter von McDonald’s können aus dem Netz geladen und ungeprüft im Unterricht verwendet werden.“
Warum das so ist, schreibt der Zeit-Autor auch: „Die meisten Kultusminister der Länder unterstützen das.“ So sei es ein Ziel der Politik, die Verbraucherbildung zu stärken – und dafür Unternehmensvertreter in die Schulklassen zu holen. Wie weit dabei die Zusammenarbeit mit externen Akteuren geht und wo die Grenzen des Zumutbaren verlaufen, obliegt dabei ganz allein den Schulen. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise ist Sponsoring erlaubt, wenn „die Werbewirkung deutlich hinter den schulischen Nutzen zurücktritt“. Das eröffnet viel Interpretations- und Handlungsspielraum. Laut niedersächsischem Schulgesetz „entscheidet (der Schulvorstand) über Grundsätze für die Werbung und das Sponsoring in der Schule". Für die Gymnasien in Sulingen und Vechta bedeutet das wohl: Die Möglichkeiten werden größer, je mehr Kohle Exxon Mobil locker macht.
Einfallstor Unterfinanzierung
Apropos Geld. Laut Felix Kamella von LobbyControl ist die Unterfinanzierung des Bildungssystems ein „zentrales Einfallstor von Lobbyisten“, wie er gegenüber Studis Online erläuterte. „Die privaten Anbieter stoßen in die Lücke, die der Staat aufgerissen hat.“ Hier sei die Politik gefragt, für eine auskömmliche Ausstattung zu sorgen, damit die Schulen in der Lage seien, aktuelle Schulbücher zu kaufen, ein modernes Chemielabor einzurichten oder neue Computer anzuschaffen. „Schulen dürfen nicht in die finanzielle Abhängigkeit von finanzkräftigen Gönnern geraten“, betonte Kamella.
Heute ist das gang und gäbe. Laut besagtem Zeit-Beitrag hat der Lottoanbieter Tipp24 einer Hamburger Gesamtschule Laptops spendiert, auch Rüstungskonzerne machten mit Schulen gemeinsame Sache, selbst der Tabakkonzern Philip Morris kooperiere über eine Stiftung mit öffentlichen Lehranstalten. „Und während selbst Medizinstudenten mittlerweile Kurse belegen müssen, in denen sie für die Offerten der Pharmalobby sensibilisiert werden, wird Lobbyismus in den meisten Lehramtsstudiengängen bislang nicht einmal erwähnt.“ Hier setzt auch Kamella von LobbyControl an: Künftige Pädagogen müssten im Studium geschult werden, gute von schlechten Angeboten unterscheiden, Meinungsmache und Propaganda durchschauen zu können, um nicht in die Falle zu tappen. „Es ist ganz klar die Aufgabe der Politik, die Weichen dafür zu stellen, dass Lobbyismus in Schulen zum Grundbestandteil der Lehrerausbildung wird. Bisher verschließen die Verantwortlichen davor die Augen.“
Einseitiger Wirtschaftsdiskurs
Das könnte sich ändern, und zwar dann, wenn das Beispiel der Universität Duisburg-Essen Schule macht. Dort hat zum Wintersemester die „School of Civic Education“ (CIVES) ihre Arbeit aufgenommen, die Master-Studiengänge für das Lehramt Sozialwissenschaften anbietet. Mit „Civic Education“ – staatsbürgerliche Bildung – setze man „bewusst ein Zeichen für eine integrative Lehramtsausbildung“, in deren Rahmen Studierende in den Fächern Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Politikdidaktik interdisziplinär auf ihren künftigen Lehrerberuf vorbereitet würden, heißt es auf der Webseite.
Fester Bestandteil der Ausbildung wird dabei auch das Thema Lobbyismus an Schulen sein. Dazu wurde in der Vorwoche eine Reihe namens „Praxistest“ gestartet, die regelmäßig Unterrichtsmaterialien privater Anbieter unter die Lupe nehmen und auf ihre Eignung prüfen wird. CIVES-Leiter Till van Treeck, Professor für Sozialökonomie, beklagt „einen Mangel an Pluralismus und einen Mangel an Kontroversität in der wirtschaftswissenschaftlichen Debatte in Deutschland. Wie er im Gespräch mit Studis-Online ausführte, werde zum Beispiel im Ausland „sehr viel über das Problem der wachsenden Ungleichheit und die damit verbundenen ökonomischen und sozialen Verwerfungen diskutiert – bei uns aber kaum“. Auch sei es hierzulande in Fachkreisen kein Thema, wie Deutschland mit seiner Exportorientierung Krisen in den europäischen Nachbarstaaten heraufbeschwört.
Totaler Wildwuchs
In den Unterrichtsmaterialien vieler Privatanbieter würden „diese Debatten – sowie überhaupt die wirtschaftlichen Zusammenhänge – noch viel einseitiger dargestellt“. Das Problem sei, dass in den staatlich zugelassenen Schulbüchern aktuelle Diskussionen oft gar nicht abgebildet würden, „weil die zum Teil schon drei oder vier Jahre alt sind“. Deshalb wären die Lehrkräfte auf Material aus dem Internet angewiesen. „Nur da herrscht totaler Wildwuchs, da gibt es keine Qualitätskontrollen und Lobbyisten haben leichtes Spiel, ihre spezielle Sicht der Dinge in die Schulen zu tragen.“ Arbeitgebernahe Institutionen mit ihrem vielen Geld hätten so auch ein „deutliches Übergewicht“ gegenüber solchen Anbietern, die den Gewerkschaften nahe stehen.
Im ersten „Praxistest“ hat van Treeck in einem Kurzgutachten das Material „Unsere Wirtschaftsordnung“ von „Handelsblatt macht Schule“ unter die Lupe genommen. Die Befunde fallen vernichtend aus. Die Darstellung wirtschaftspolitischer Debatten sei „in weiten Teilen inhaltlich einseitig“, in der Gesamtschau sei die Materialiensammlung „durch eine marktliberale Ausrichtung geprägt. Dominantes Thema ist die angeblich zu hohe Staatsverschuldung mit einem Fokus auf den staatlichen Ausgaben“. Der Schüler solle überzeugt werden, „dass der Staat seine Ausgaben reduzieren und sich aus dem wirtschaftlichen Geschehen stärker heraushalten sollte“. Fazit: Bei unbedarften Lehrerinnen und Lehrern „könnte auf dieser Basis ein verzerrtes Bild von wirtschaftlichen Zusammenhängen entstehen“. Bei Schülern wohl erst recht.
Materialkompass Verbraucherbildung
Auch die Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) sichtet seit geraumer Zeit Angebote, die von außen die Schulen überschwemmen. Der „Materialkompass Verbraucherbildung“ listet gegenwärtig fachübergreifend 545 solcher Erzeugnisse. Dabei schneiden die unzweifelhaft von Konzerninteressen inspirierten Angebote in der Regel mäßig bis miserabel ab. Durchgängig ganz miese Noten erhält alles, was von der INSM oder von der Stiftung „My Finance Coach“ (MFC) kommt. Dahinter steht der Versicherungsriese Allianz, die PR-Agentur Grey und die Unternehmensberatung McKinsey.
Auch „Handelsblatt macht Schule“ geht mit praktisch jedem seiner Angebote baden. Das eingangs erwähnte Material „Finanzielle Allgemeinbildung“ schaffte es 2011 sogar in die Nominierung für die von LobbyControl alljährlich verliehene „Lobbykratie-Medaille“. Damit werden besonders plumpe und durchsichtige Manöver von Stimmungs- und Meinungsmache „ausgezeichnet“.
Mensch als Unternehmer
CIVES-Leiter van Treeck hat keine Kenntnis darüber, ob „Lobbyismus an Schulen“ auch an anderen Unis Lehrgegenstand ist. Nur so viel: „Das Thema ist sicherlich nicht systematisch Teil der Lehrerausbildung.“ Bleibt zu hoffen, dass das Beispiel Nachahmer findet. Andernfalls könnte in baldiger Zukunft das wahr werden, was 1997 die sogenannte Zukunftskommission Bayern-Sachsen, ein von Konzerninteressen beherrschter Club, formulierte: „Sie (die Lehrer) müssen sich unternehmerischer verhalten, um mit Erfolg unternehmerische Verhaltensweisen vermitteln zu können.“ Denn: „Das Leitbild der Zukunft (ist) der Mensch als Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge.“ (rw)