Lehrerarbeitsmarkt gespaltenZwischen Mangel und Überangebot
Allein in Bayern blieben zu Beginn des neuen Schuljahrs 5.300 erfolgreich ausgebildete Pädagogen auf der Strecke. Im System war einfach kein Platz für sie oder treffender: Die politischen Entscheider haben das System verrammelt. Nach Darstellung des Bildungsministeriums bestehe „schon heute ein erhebliches Überangebot an Bewerbern“, das in den kommenden Jahren „noch erheblich anwachsen“ werde. Nicht einmal sämtliche im Freistaat selbst produzierten Absolventen könnten in nächster Zukunft in Dienst gestellt werden – ganz zu schweigen von den Kandidaten auf den Wartelisten oder den Anwärtern aus anderen Bundesländern. Nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) lag die Einstellungsquote im vorigen Jahr bei kümmerlichen 33 Prozent.
100 Bewerbungen für nichts
Vom Lehrermangel zum Überangebot: Heute studierenden Lehramtsanwärtern werden ungünstige Berufschancen vorausgesagt
Ähnlich mau sieht es inzwischen in Nordrhein-Westfalen (NRW) aus und es soll noch viel schlimmer kommen. Die Landesregierung rechnet für das Jahr 2029 mit fast 20.000 Junglehrern, die bei der Jobsuche leer ausgehen könnten. Die WirtschaftsWoche (WiWo) schrieb dieser Tage über eine Absolventin, die sich im bevölkerungsreichsten Bundesland an nicht weniger als „100 Schulen im Umkreis von 100 Kilometern“ vorgestellt habe. Ergebnis: „Keine Chance“, nicht einmal eine Vertretungsstelle konnte sie ergattern. Auch in Hessen senkt die Politik den Daumen. Dort gebe es vor allem „zu viele Studierende“, die sich für das Gymnasium entscheiden, ließ das Kultusministerium verlauten.
Merkwürdig, wie schnell sich die Zeiten ändern. Vor vier Jahren noch hatte Hessen mit einer bundesweiten Plakataktion versucht, anderen Ländern ihre Nachwuchspädagogen abzujagen. Ähnliche Manöver waren 2009 schon aus Baden-Württemberg und Hamburg vorgetragen worden. Selbst das chronisch klamme Berlin ließ sich damals dazu hinreißen, Junglehrer mit der Aussicht auf satte Gehaltsaufschläge in die Hauptstadt zu locken. Die FAZ berichtete seinerzeit unter dem Titel „Das Comeback der Lehrer“ über eine „handfeste Abwehrschlacht“ unter den Ländern und konstatierte: „Deutschland gehen die Pädagogen aus“.
Mangel war gestern
Was nur ist seitdem passiert? Wie kann es sein, dass die Kultusministerkonferenz (KMK) noch vor zehn Jahren für 2015 rund 70.000 fehlende Pädagogen prognostiziert hatte und jetzt und in Zukunft im Gegenteil ein Lehrerüberschuss bestehen soll. Seinerzeit hieß es doch, dass im folgenden Jahrzehnt etwa die Hälfte der rund 800.000 hauptberuflichen Lehrer aus Altersgründen aus dem Dienst ausgeschieden sein wird. Ist die angekündigte Pensionierungswelle also einfach nicht eingetreten? Oder ist das Ausmaß des Schülerschwunds infolge der demographischen Entwicklung vielleicht massiv unterschätzt worden?
Nichts von beidem trifft zu. Weder lag die Politik mit ihrer Voraussage zum Abgang der „Altlehrer“ noch mit der zum Rückgang der Schülerzahlen so daneben, dass damit die Diskrepanzen zwischen dem Früher und Jetzt zu erklären wären. Ein nachhaltiger Wandel ist allerdings bei der Zahl der nachrückenden Junglehrer zu verzeichnen. Das dahinter wirkende Phänomen wird als Schweinezyklus bezeichnet. Der einst aus der Agrarwirtschaft entlehnte Begriff beschreibt eine periodische Schwankung auf der Angebotsseite, die in ziemlicher Regelmäßigkeit zu Marktverwerfungen führen kann. Auf dem Lehrerarbeitsmarkt hat der Mechanismus ganz vereinfacht so gewirkt: Wegen des prognostizierten Mangels an Pädagogen und der entsprechend günstigen Berufsaussichten haben mehr junge Menschen ein Lehramtsstudiums aufgenommen und abgeschlossen, als es eigentlich gebraucht hätte, um die Bedarfslücke zu schließen.
„Gravierende Unsicherheit“
Die KMK ist sich der Problematik bewusst, in ihrer jüngsten Lehrerbedarfsprognose vom Juni 2013 liest sich das so: „Eine gravierende Unsicherheit in den längerfristigen Angebotsberechnungen besteht darin, dass sie sich bei der jeweils erwünschten Resonanz auf den vorliegenden Bericht selbst infrage stellen können.“ Denn änderten die Studienberechtigten, Studierenden und Referendare ihr Verhalten so, „wie es aufgrund des ermittelten Verhältnisses zwischen Lehrereinstellungsbedarf und -angebot im Sinne eines Ausgleichs wünschenswert wäre, tritt die vorausberechnete Entwicklung des Lehrereinstellungsangebots nicht ein“.
Man könnte das auch so ausdrücken: Mit ihrer damaligen Schwarzmalerei haben die Kultusminister tausende junger Menschen sehenden Auges in die Falle, sprich in die Arbeitslosigkeit, tappen lassen. In ihrer neuesten Prognose ermittelt die KMK bis zum Jahr 2025 ein jährliches Bewerberüberangebot von im Mittel 7.600. Gegenwärtig liegt der Überschuss demnach bei knapp über 2.000, er soll in den nächsten Jahren aber sukzessive auf schließlich über 13.000 in elf Jahren anwachsen. Die Vorausschau ist indes wiederum mit allergrößter Vorsicht zu genießen. Denn wie viele Schulabgänger werden bei so miesen Aussichten künftig noch ins Lehramt streben? Ganz gewiss viel weniger als heute. Vielleicht muss schon bald die nächste Sau durchs Dorf getrieben werden – dann wieder wegen drohenden Lehrerschwunds.
Gespaltener Arbeitsmarkt
Als Erklärung für sämtliche Unwuchten im System taugt der Schweinezyklus aber auch nicht. Anders als etwa in Bayern, Hessen und NRW sucht man in den neuen Bundesländern nämlich händeringend nach Lehrern. Personalmangel an praktisch sämtlichen Schulen besteht beispielsweise in Sachsen – ganz besonders an Grund- und Förderschulen. Die Not geht soweit, dass mancherorts einzelne Fächer gekürzt werden, gar nicht mehr stattfinden können oder Förderunterricht gestrichen wird. Engpässe gibt es in ganz Ostdeutschland. Laut KMK bräuchte es dort aktuell zwölf Prozent mehr an Pädagogen, mit steigender Tendenz. Von 2020 bis 2022 wird sich der Schwund nach ihrer Statistik auf knapp 1.000 belaufen. In Westdeutschland soll das Angebot den Bedarf dagegen bis 2025 um 39 Prozent übersteigen, im Mittel entspricht das 8.100 Personen.
Richtige und falsche Fächer
Der Lehrerarbeitsmarkt ist aber nicht nur regional gespalten. Das äußert sich schon in der Merkwürdigkeit, dass selbst im Osten der Republik im August 2.000 Bewerber ohne Job geblieben sind. Die Trennlinien gehen tatsächlich quer durch alle Schulformen und Fächer. So besteht ein Überangebot – ganz egal wo und zum weit überwiegenden Teil – in den allgemeinbildenden Fächern der Sekundarstufe II und im Gymnasialbereich. In den beruflichen Fächern der Sekundarstufe II und den sonderpädagogischen Lehrämtern herrscht dagegen erheblicher Mangel. Vor allem Gymnasiallehrer haben heute schlechte Karten, insbesondere die mit den „falschen“ Fächern. Gering nachgefragt werden laut KMK Geschichte, Geografie und katholische Religion. Weit besser sieht es bei den sogenannten MINT-Fächern aus (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). Die „höchsten Einstellungsbedarfe“ werden für Mathematik, Chemie, Physik, Englisch und Musik ausgemacht.
Fehlsteuerungen
Für die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) offenbart das Drunter und Drüber auf dem Lehrerarbeitsmarkt eine „gravierende Fehlsteuerung“. Das System der Lehrerausbildung und -bezahlung habe ausgedient und setze falsche Anreize, heißt es im Mitgliederorgan E&W. „Es werden auf alle Fälle zu viele Gymnasiallehrer ausgebildet“, beklagte Verbandssprecher Ulf Rödde am Dienstag im Gespräch mit Studis Online. „Diese werden einfach viel besser bezahlt als Grund-, Real-, Berufs- und Förderschullehrer.“
Kern des Problems ist laut besagtem Artikel eine Ausbildung, die zu früh auf Schultypen und -stufen ausgerichtet sei. Dagegen plädiert die Gewerkschaft für ein inklusives Schulsystem im Sinne einer „Schule für alle“, womit die unterschiedliche Ausbildung und Bezahlung nach Schulformen zum „Anachronismus“ werde und „Mängel und Überhänge viel besser ausgeglichen werden“ könnten. „Den Verteidigern spezifischer Lehrämter für Gymnasien bleibt dagegen nur der Weg, vor einem Lehramtsstudium zu warnen, um zehn Jahre später wieder über Mängel zu klagen.“
„Viele Unsicherheitsfaktoren“
Eine zielgerichtete Lehrerbedarfsanalyse empfiehlt der konservative Deutsche Lehrerverband (DL), eine Partnerorganisation des Deutschen Philologenverbands (DPhV). Studenten müssten schon „zu Beginn ihres Studiums wissen, mit welcher Fächerkombination sie gute Chancen auf eine Festanstellung haben. Nur dann kann man gezielt Werbung machen für das jeweilige Fach“, befand DL-Chef Josef Kraus jüngst in der Bild am Sonntag.
Fürwahr gibt es einiges zu beanstanden an der Art, wie die KMK zu ihrer Prognose gelangt. Tatsächlich beruht diese einzig und allein auf Rückmeldungen der Länder, deren Plausibilität nicht hinterfragt wird. Damit, so die GEW, stehe die Modellrechnung „unter dem Verdacht, politischen Setzungen zu entsprechen und nicht dem objektiv Gebotenen“. Daraus machen die Verantwortlichen gar keinen Hehl und weisen freimütig auf „viele Unsicherheitsfaktoren“ hin und weiter: „Politische Entwicklungen beeinflussen maßgeblich die beiden Größen Angebot und Bedarf.“ Dazu kämen „die in einem ständigen Wandel befindlichen Rahmenbedingungen, welche sich durch unterschiedliche, jeweils landeseigene Beschlüsse oder Entwicklungen im Bereich Bildung (wie z. B. Senkung der Klassenhöchststärke, Inanspruchnahme von Altersteilzeiten, vorzeitiges Ausscheiden der Lehrkräfte vor Erreichen der Regelaltersgrenze aus dem Schuldienst, Befristung von Arbeitsverträgen, Entwicklung des Anteils von Teilzeitbeschäftigung, Veränderung des Regelstundenmaßes der Lehrkräfte, Ausbau der Ganztagsschulangebote oder Einführung des achtjährigen Gymnasiums) manifestieren können“.
Willkürliche Bedarfsprognosen
Dieser Satz hat es wahrlich in sich. Im Grunde ist der nichts weniger als das Eingeständnis, dass man auf die sogenannte Bedarfsprognose nichts geben sollte, weil jedes Land seine Zahlen unter jeweils spezifischen Umständen und nach politischem Gusto ganz exklusiv eruiert. Wegen der daraus folgenden fehlenden Vergleichbarkeit müsste es sich eigentlich verbieten, sie in einen Topf zu werfen und in einer bundesweiten Statistik zu verwursten. Das sieht auch GEW-Sprecher Rödde so: „Es existiert kein einheitliches Raster, nach dem der Bedarf errechnet wird. Vor allem tragen politische Vorgaben entscheidend dazu bei, was am Ende rauskommt.“ So gebe es etwa von Land zu Land differierende Festlegungen über eine auskömmliche Unterrichtsversorgung. Entsprechend ergäben sich daraus dann jeweils eigene Erforderlichkeiten.
Eine Rolle spielen bei all dem auch diverse Schulreformen wie etwa die umstrittene und vielerorts wieder in der Rückabwicklung befindliche Umstellung auf das achtjährige Gymnasium (G8). Durch die doppelten Abiturjahrgänge sind in praktisch jedem Bundesland – wenn auch nicht in allen gleichzeitig – auf einen Schlag viel mehr Schulabgänger an die Landeshochschulen und ins Lehramtsstudium geströmt wie davor üblich. Vor allem aber gilt für durchgängig alle Länder: Am Schulsystem wird – allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz – gespart. Schon weil sich ein jedes eine sogenannte Schuldenbremse auferlegt hat. Wäre indes ein Höchstmaß an Qualität handlungsweisend bei der Ausstattung der Schulen – etwa in Gestalt kleinerer Klassengrößen und reduzierter Pflichtstunden – ergebe sich unabdingbar ein viel höherer Personalbedarf, als er in irgendeinem der 16 Bundesländer beziffert ist.
Qualität kein Thema
Laut Rödde ist so zum Beispiel „nirgendwo das Thema Inklusion berücksichtigt, in der KMK-Prognose findet nicht einmal das Wort Erwähnung“. Dabei haben alle Länder eigentlich versprochen, massiv in die Regelbeschulung von Kindern mit körperlicher und geistiger Beeinträchtigung zu investieren. In der KMK-Rechnung wird der Bedarf an Sonderpädagogen dagegen einfach auf dem Ist-Stand festgeschrieben, wodurch sich bis 2025 eine Minusbesetzung von bundesweit lediglich 200 ergibt. Würde man die Ausbauziele ernst nehmen, bedürfte es auf der Stelle Tausender neuer Sonderpädagogen. Dasselbe Bild bei den Ganztagsschulen, auch da soll – laut Sonntagsreden – geklotzt werden. Aber was passiert: Vielerorts gibt es das Modell nur als Billigabklatsch – mit freiwilligem Nachmittagsprogramm und ungelernten Aushilfskräften. Würde man die „echte“ gebundene Ganztagschule mit Unterrichtsverpflichtung und pädagogischem Fachpersonal in die KMK-Kalkulation und jener der Länder einpreisen, gäbe es wahrscheinlich gar keinen „Lehrerüberschuss“, weil darin alle Junglehrer unterkommen könnten und müssten.
„Kein Überangebot“
Zurück nach Bayern: Dort widersprechen Lehrerverbände einhellig der Behauptung der Regierung, wonach ein Überangebot an Lehrern bestehe. Die Landes-GEW beschreibt die Lage statt dessen so: „Das Angebot an Ganztagsschulen ist katastrophal, die Klassengrößen sprechen jedem pädagogischen Anspruch Hohn, der Unterrichtsausfall ist enorm hoch“, daneben sei der Freistaat vorne bei Sitzenbleibern und in Sachen Selektivität, es gehe „nur noch um die Verwaltung des Mangels“. Und aus Hessen meldet sich GEW-Chef Jochen Nagel: „Ich sehe kein Überangebot.“ Es gebe nicht zu viele Lehrer, sondern schlicht zu wenige Stellen.
(rw)