Aufstand gegen die NeoklassikVWL-Monokultur an den Hochschulen?
Studis Online: Das „Netzwerk Plurale Ökonomik“ ist angetreten, die Monokultur und intellektuelle Einseitigkeit in den Wirtschaftswissenschaften aufzubrechen. Ziel soll es sein, der „Vielfalt ökonomischer Theorien Raum zu geben, die Lösung realer Probleme in den Vordergrund zu stellen sowie Selbstkritik, Reflexion und Offenheit in der VWL zu fördern“. Was genau passt Ihnen nicht an der Art, wie Wirtschaft an den Hochschulen gelehrt wird?
Unsere Interviewpartnerin Lena Kaiser studiert Politische Theorie in Frankfurt am Main, nachdem sie zuvor ihren Bachelor in Volkswirtschaftslehre (VWL) und Philosophie in Mannheim abgelegt hatte. Sie engagiert sich im „Netzwerk Plurale Ökonomik“, dem deutschsprachigen Gründungsmitglied der „International Student Initiative for Pluralism in Economics“ (ISIPE)
Lena Kaiser: Das Hauptproblem der VWL ist für uns tatsächlich ihre Einseitigkeit. Im Studium tauchen fast nur neoklassische Theorien und quantitative Methoden auf. Auch die Interdisziplinarität kommt viel zu kurz. Statt unsere vielfältigen gesellschaftlichen Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, werden alle Antworten aus sehr ähnlichen Modellen abgeleitet, deren Aussagekraft zudem nur selten kritisch hinterfragt wird. Abseits davon findet eine Reflexion über den Zusammenhang aktueller Probleme mit den Theorien und Modellen des Hörsaals quasi nicht statt, im besten Fall werden aktuelle Geschehnisse auf eine „aktuelle Stunde“ verschoben.
Nehmen wir beispielweise einmal die sogenannte Euro-Krise. Ist die in deutschen Hörsälen gar kein Thema?
Als ich 2008 mein Studium aufgenommen habe, ging in der zweiten Vorlesungswoche die US-Investmentbank Lehman Brothers Pleite. Seither ist Wirtschaftskrise auf dieser Welt quasi ein Dauerzustand. In den Lehrbüchern ist immer noch von geräumten Märkten, wachsenden Volkswirtschaften und ausgeglichenen Staatshaushalten die Rede. Innerhalb meines interdisziplinären Master-Studiums habe ich ein Seminar zur Geldpolitik in der Eurozone bei einem italienischen Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank EZB belegt. Dieses Seminar war hervorragend. Es ist bedauernswert, dass eine solche Veranstaltung nicht auch für Bachelor-Studierende angeboten wird.
Andererseits ist der Umgang mit der Euro-Krise für Sie aber auch ein Paradebeispiel dafür, wie die vermeintliche Krisenbewältigung die wirtschaftlichen und sozialen Probleme eher verschärft, denn zu ihrer Lösung beiträgt. Gibt es so etwas wie einen Kardinalfehler oder -irrtum der herrschenden Lehre?
In Bezug auf die Eurokrise einen Kardinalfehler in der Lehre festzumachen, liegt mir fern. Dazu ist die Krise an sich viel zu komplex. Das Problem ist vielmehr, dass in der Lehre die Wirtschaft lediglich aus einem bestimmten Blickwinkel beschrieben wird. Soziale Phänomene, wie auch die Wirtschaft eines ist, sind vielschichtig und kontextabhängig. Um eine gute Analyse liefern zu können, brauchen wir deshalb viele Perspektiven und kein blindes Vertrauen in allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten.
Machen wir es mal konkret: Die sogenannte Griechenland-Rettung läuft nach dem Muster ab, die Staatsverschuldung durch massive Kürzungen bei den staatlichen Aufgaben und Beschäftigten zu drücken. Lohnsenkungen und eingeschränkte Beschäftigtenrechte sollen angeblich Investoren anlocken und der Konjunktur wieder auf die Beine helfen. Allerdings verschafft die Therapie bislang keine Heilung, sondern führt zu noch größerer Arbeitslosigkeit und Armut. Woran hakt es nach Ihrer Meinung?
Hinter politischen Entscheidungen stehen natürlich immer Interessen und die werden häufig mit wissenschaftlichen Studien legitimiert. Wären unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze prominenter vertreten, hätten die Bürgerinnen und Bürger zumindest weniger den Eindruck, dass es keine Alternativen zu den gängigen Politiken gibt.
Was Sie Neoklassik nennen, läuft für viele unter dem Schimpfwort „Neoliberalismus“. Die in den 1970er Jahren maßgeblich von der Chicagoer Schule nach Europa exportierte Denkrichtung ist für die politische Linke eigentlich nichts anderes als ein politisch-ökonomisch-kulturelles Regime, um die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer zu machen. Teilen Sie diese Auffassung?
Wirtschaftswachstum ohne Ende?
Nun ja, Neoklassik ist nicht gleich Neoliberalismus. Und der Neoliberalismus als ideengeschichtliche Kategorie beinhaltet ja auch mehr als die Chicagoer Schule. Walter Eucken beispielsweise, der Begründer der sozialen Marktwirtschaft, verstand sich ja auch als neoliberal. Unser Anliegen dreht sich weniger um die Identifikation mit politischen Kampfbegriffen, sondern darum dass Studierende innerhalb ihres Studiums die Gelegenheit bekommen, sich kritisch mit ihnen auseinander zu setzen. Gerade weil Macht- und Verteilungsfragen blinde Flecken der Neoklassik sind, braucht es Theorienvielfalt in der Lehre sowie Veranstaltungen in Ideengeschichte und politscher Theorie in VWL-Studiengängen.
Wie halten Sie es mit dem Marxismus? Muss der nicht auch Teil der Vielfalt sein, die Sie für die Wirtschaftswissenschaften einfordern?
Wir ordnen uns keinem speziellen Ansatz zu, auch nicht dem Marxismus. Wie sich aus unserem Aufruf entnehmen lässt, stehen wir für Pluralismus, also eine Vielfalt verschiedener Ansätze. Dies schließt den Marxismus und seine Varianten mit ein, ebenso wie die Neoklassik, die Österreichische Schule, die ökologische Ökonomik oder den Post-Keynesianismus.
Unsere Anliegen sind überparteilich. Denn was uns vereint, ist die Kritik an der intellektuellen Monokultur in der Volkswirtschaftslehre und die Überzeugung, dass eine Vielfalt der ökonomischen Theorien und Methoden der Wissenschaftlichkeit der Disziplin und nicht zuletzt unserer Gesellschaft gut tun würde.
Welche Lehren und Methoden wollen Sie aus den Hörsälen verbannt sehen?
Verbannen wollen wir gar nichts. Jedoch sind neoklassische Ansätze in der jetzigen VWL überrepräsentiert. Deswegen möchten wir deren Anteil zugunsten anderer Ansätze reduzieren. Darüber hinaus muss sich die Wirtschaftswissenschaft wieder als Sozialwissenschaft verstehen. Um die komplexen soziologischen Probleme zu verstehen braucht es Zusammenarbeit mit verschiedenen anderen Disziplinen. Dazu zählt nicht nur Psychologie, wie es in der Verhaltensökonomik geschieht, sondern eben auch die Politikwissenschaften, die Philosophie oder die Ethnologie – um ein paar Beispiele zu nennen.
Wie aussichtsreich ist das, wo doch die Neoklassik heute praktisch der Alleinunterhalter in Hochschulen und Wirtschaftsinstituten ist?
Durch den Aufruf ist es erstmals gelungen, eine breite Öffentlichkeit weltweit auf das Thema und seine gesellschaftliche Relevanz aufmerksam zu machen. Diese ist eine notwendige Voraussetzung für die Veränderung bestehender Verhältnisse. Inzwischen sind wir schon 65 Gruppen aus 30 Ländern. In Deutschland wird der Aufruf von der Bundesfachschaftenkonferenz der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften unterstützt, die 700.000 Studenten vertritt. Seit Mittwoch unterstützt uns sogar die European Student Union, die für mehrere Millionen Studenten spricht. Ein erster Schritt ist damit getan.
Die VWL-Monokultur und der allgemeine Schwund kritischen Denkens ist also kein typisch deutsches Phänomen.
Auf keinen Fall, überall auf der Welt von Chile bis Indien vermissen Studierende Methoden- und Theorienvielfalt in der VWL.
Wie steht es mit der Unterstützung von Seiten der Lehrenden? Gibt es überhaupt noch Dozenten und Professoren, die eine andere Denke als die herrschende verkörpern?
Wir erfahren in Gesprächen mit Dozentinnen und Dozenten, mit Professorinnen und Professoren viel Offenheit und Zuspruch. Es gibt viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die alternative Theorien und Methoden anwenden und nutzen. Leider schaffen es jedoch nur die wenigsten, in Berufungsverfahren an namenhaften Hochschulen erfolgreich zu bestehen.
Wie zufrieden sind Sie mit dem Grad der Aufmerksamkeit, der Ihrer Sache in den Medien bislang zuteil wird?
Wir sind froh darüber, dass Medien mit großer Reichweite wie Spiegel Online über uns berichten. Besonders freuen wir uns über die ausführlichen Reportagen wie in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, Financial Times und im Guardian. Endlich wird die Debatte über die Neuausrichtung der VWL öffentlich geführt.
Was haben Sie sich für die nächste Zeit vorgenommen? Was steht an Aktivitäten in den kommenden Wochen und Monaten an?
Wir werden den Schwung, den unser Anliegen durch den globalen Aufruf erhalten hat, in die Arbeit vor Ort in den Hochschulgruppen mitnehmen. Wir haben viel Zuspruch und Kooperationsangebote von Instituten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und anderen studentischen Gruppen erhalten, denen wir uns nun widmen. Auch auf internationaler Ebene geht es weiter. Bisher kennen wir die Aktivistinnen und Aktivisten aus den anderen Ländern nur aus Telefonkonferenzen und Schriftverkehr. Wir planen Konferenzen in London und Tübingen, um uns endlich persönlich kennenzulernen. Im Grunde haben wir gerade erst angefangen. (rw)