Bolognas Traum von grenzenloser MobilitätBei der studentischen Internationalisierung herrscht Nachholbedarf
Erasmus ist ein von der Europäischen Union (EU) im Jahr 1987 aufgelegtes Aktionsprogramm zur Förderung der Mobilität Studierender und Lehrender in Europa. Namensgeber ist Erasmus von Rotterdam, ein niederländischer Gelehrter des europäischen Humanismus, der maßgeblich im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts wirkte. ERASMUS steht außerdem für "European Action Scheme for the Mobility of University Students" und ist dem Ziel verschrieben, den akademischen und kulturellen Austausch zwischen Hochschulen über Ländergrenzen hinweg zu befördern. Im zurückliegenden Jahr ist Erasmus im Maßnahmenpaket Erasmus+ aufgegangen, in dem Auslandsangebote für Studenten, Schüler und Auszubildende gebündelt sind.
Die vielleicht schönste Verheißung der Bologna-Studienstrukturreform war einmal die der grenzenlosen Mobilität
Teilnahmeberechtigte Studierende können entweder an einer Partnerhochschule studieren oder ein Praktikum in einem Unternehmen durchlaufen – jeweils für die Dauer von höchstens zwölf Monaten. Möglich ist auch, beide Varianten zu nutzen, entweder kombiniert am Stück, also im Rahmen von zwei aufeinanderfolgenden Jahren, oder mit zeitlicher Unterbrechung. Jedem Studierendem steht damit eine Maximalförderung von zwei Jahren zu. Für ein Stipendium braucht es eine Vollimmatrikulation an einer Uni von mindestens einem Jahr, einen EU-Pass bzw. die Staatsangehörigkeit eines der beteiligten Partnerländer, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder eine Anerkennung als Flüchtling. Nötig sind weiterhin ausreichende Sprachkenntnisse in der jeweiligen Landessprache sowie in den zu besuchenden Lehrveranstaltungen.
15 Milliarden Euro für Erasmus+
Für die Durchführung des Programms als nationale Agentur ist hierzulande der Deutsche Akademische Austausch Dienst (DAAD) zuständig, der sich überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert. In einer gemeinsamen Pressemitteilung mit dem Bundesbildungsministerium (BMBF) beschrieb DAAD-Präsidentin Magret Wintermantel Erasmus als Motor für die Auslandsmobilität deutscher Studierender und würdigte dessen Beitrag zur Entwicklung der Persönlichkeit und einer europäischen Identität. ''Wir brauchen dringender denn je Programme wie Erasmus, das Europa für Lernende und Lehrende durch persönliche Erfahrungen erlebbar und fassbar macht.''
Den Angaben zufolge kamen mit über 35.000 Studierenden 2012/13 rund 2.000 Hochschüler mehr als im vorangegangen Studienjahr in den Genuss einer Förderung. Obendrein hätten im Rahmen des Programms 4.000 deutsche Hochschulangehörige an ausländischen Hochschulen unterrichtet oder an einer Weiterbildungsmaßnahme teilgenommen, heißt es weiter. Die beliebtesten Gastländer der deutschen Erasmus-Studierenden sind demnach Spanien (5.419 Geförderte), Frankreich (4.789) und Großbritannien (3.132). Die meisten Teilnehmer kamen von der Technischen Universität München (886 Geförderte), der Ludwig-Maximilians-Universität München (801) und der Uni Münster (781).
Frohgemut kommentierte auch Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) die Zahlen. "Ich freue mich, dass immer mehr junge Menschen aus Deutschland und Europa die Chance für einen Bildungsaustausch über Ländergrenzen hinweg nutzen. International ausgebildete Fachkräfte stärken unsere Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland und Europa." Das lassen sich die EU und Deutschland als wirtschaftsstärkster Mitgliedstaat einiges kosten: Zirka 15 Milliarden Euro sollen in den kommenden sechs Jahren für Erasmus+ zur Verfügung gestellt werden, das wäre eine Steigerung von 40 Prozent. Im Hochschulbereich sollen laut DAAD alle "bewährten Maßnahmen weitergeführt und durch neue Fördermöglichkeiten ergänzt" werden.
Bologna als Mobilitätsbremse
Das verstärkte Engagement kommt nicht von ungefähr. Tatsächlich haben die EU-Staaten und mit ihnen auch Deutschland einigen Nachholbedarf, was die Internationalisierung der Hochschulen angeht. Die vielleicht schönste Verheißung der Bologna-Studienstrukturreform war nämlich einmal die der grenzenlosen Mobilität: Praktisch jeder, der will, sollte im europäischen Hochschulraum zum Bildungsreisenden werden können, ob im Rahmen eines Auslandssemesters oder in Form von Praktika oder Sprachkursen. Für viele wurde es allerdings nichts mit dem Versprechen. Wegen der Verkürzung der Studiendauer im Zuge der Einführung von Bachelor und Master und der damit verbunden Verschulung des Studiums wurde ein Auslandsaufenthalt im Gegenteil für immer mehr zur Unmöglichkeit.
Der Trend zur Mobilitätsbremse Bologna wurde inzwischen in einer ganzen Reihe von Studien aufgezeigt. Vor allem der Bachelor gerät im Hinblick auf den Umfang an Auslandsaufenthalten im Vergleich mit den klassischen Abschlüssen Diplom, Magister und Staatsexamen weit ins Hintertreffen. Nach einer gemeinsamen Untersuchung der Hochschul Informations System GmbH (HIS) und der DAAD von 2011 konnten im Jahr 2009 an den deutschen Universitäten gerade einmal 15 Prozent der Bachelor-Studierenden Auslandsaktivitäten vorweisen, an den Fachhochschulen waren es sogar nur 13 Prozent. Bezogen auf die Gesamtheit aller Studierenden stagniert die Quote seit Jahren um den Dreh von 30 Prozent. Laut jüngster Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) geht es in jüngeren Jahren sogar wieder leicht bergab. Dabei lautet die politische Zielmarke, dass 50 Prozent aller Absolventen Auslandserfahrungen sammeln sollten.
Die Erasmus-"Erfolgsgeschichte" bedarf einer weiteren Relativierung. Niemals haben so viele Menschen studiert wie heute, aktuell sind es über 2,6 Millionen. Im Studienjahr 2012/13, auf das sich die DAAD-Erhebung bezieht, waren es 2,5 Millionen und damit fünf Prozent mehr als 2011/12. Die Steigerung um 2.000 auf 35.000 Geförderte dürfte eher Folge der insgesamt gestiegenen Studierendenzahlen sein und weniger Ausdruck einer irgendwie verbesserten Förderkultur. Wären die Förderzahlen auf dem Niveau von 2011/12 stehen geblieben, hätte sich der DAAD dem Vorwurf ausgesetzt, von der Zeit überholt worden zu sein.
Viele Hürden für ausländische Studierende in Deutschland
Zum Bild vom schönen europäischen Hochschulraum, den die Bundesregierung so gerne malt, gehört auch, dass Deutschland mit bestem Beispiel in punkto Weltoffenheit vorangeht. Laut DAAD sollen im Vorjahr "über 30.000 Personen" ausländischer Partnereinrichtungen mit Erasmus an deutsche Hochschulen gekommen sein, "um dort zu studieren, zu lehren oder sich fortzubilden." Die Zahl wird stimmen, sagt aber nichts darüber aus, wie diesen Menschen hierzulande begegnet wird. Der Bundesverband Ausländischer Studierender (BAS) weist regelmäßig darauf hin, dass es mit der Willkommenskultur in Deutschland keineswegs zum Besten bestellt ist. Wer hier studieren will, hat eine Vielzahl an bürokratischen und rechtlichen Hürden zu überwinden. Mitunter bekommen sie auch Vorbehalte seitens ihrer Mitmenschen wegen ihrer Sprache und Hautfarbe zu spüren.
In einer Studie des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration vom November 2011 äußerte nur ein gutes Drittel der Befragten den Glauben, dass internationale Studierende willkommen seien, nach dem Studium in Deutschland zu arbeiten. Dabei sind neuere Vorhaben nicht gerade dazu angetan, dass sich daran grundsätzlich etwas ändert. Tatsächlich soll die Studienplatzvergabe für ausländische Studierende über die zuständige Servicestelle uni-assist e.V. drastisch verteuert werden. Geplant ist, die Erstbewerbungsgebühren für Studierende aus der EU von 43 auf 75 Euro, die von Studierenden von außerhalb der EU von 68 auf 75 Euro zu erhöhen. Für den BAS und den "freien zusammenschluss von studentInnenschaften" (fzs) e.V. sind das "fatale" Bestrebungen und Anzeichen von "Selbstbedienungsmentalität und Abzocke". In einer gemeinsamen Pressemitteilung sprechen beide Verbände gar von einer "rassistischen Praxis der Hochschulbewerbung".
Und noch eine Maßnahme spricht nicht unbedingt dafür, dass Deutschland Ausländern den roten Teppich ausrollt. Ausgerechnet beim DAAD will das Auswärtige Amt (AA) im laufenden Jahr bis zu 20 Prozent der Mittel wegkürzen. Es gibt Befürchtungen, dass deshalb "mindestens 1000 Stipendien" für ausländische Studenten gestrichen werden müssen. Von wegen "ermutigendes Zeichen".
(rw)