Verwettbewerblichung des StudiensystemsHochschulen und Studium verändern sich rasant
Das Interview führte Jens Wernicke
Die (bis auf ganz wenige Ausnahmen) Abschaffung des Diplom- (und Magister-)Abschlusses ist nur die augenfälligste Veränderung im Studiensystem der letzten Jahre
Studis Online: Guten Tag, Frau Rathmann, Herr Dr. Winter. Sie sind Mit-Autorin und Mit-Autor einer fast 200 Seiten umfassenden Studie zu aktuellen "Entwicklungen im deutschen Studiensystem". Was sind denn, bevor wir ins Detail gehen, in der Summe die Ergebnisse, zu denen Sie mit Ihrer Untersuchung gelangt sind?
Dr. Martin Winter: Knapp 200 Seiten in ein paar Zeilen zusammenzufassen, ist natürlich nicht ganz einfach, zumal wir in unserer Studie ganz unterschiedliche Bereiche des Studiensystems untersucht haben: die verschiedenen Verfahren der Kapazitätsberechnung bzw. Kapazitätsplanung in den Bundesländern, die Marketingstellen im Organisationsgefüge an allen staatlichen Hochschulen und nicht zuletzt das Studienangebot vor und nach der Bologna-Studienreform sowie der Zulassungspraktiken an ausgewählten Universitäten und Fachhochschulen.
Diesen Teilprojekten lag die Ausgangsvermutung zugrunde, dass immer mehr Tendenzen zu einer "Verwettbewerblichung" im Studiensystem zu beobachten sind: Im Zuge der Verselbständigung der Hochschulen als eigenständig handelnde Organisationen und bedingt durch die demografische Entwicklung wird die Wettbewerbslogik auch auf dem Gebiet von Studium und Lehre an Gewicht gewinnen. Dies gilt insbesondere – forciert durch die Bologna-Reform – für die Entwicklung des Studienangebots und die Gestaltung der neuen Studiengänge sowie für deren Vergabe und Vermarktung.
Und wie hat sich denn das Studienangebot an Universitäten und Fachhochschulen durch die Bologna-Studienreform nun verändert?
Dr. Martin Winter ist Sozialwissenschaftler am Institut für Hochschulforschung an der Universität Halle-Wittenberg. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte sind Personal an Hochschulen, Studium und Studienreform, sowie Evaluation und Qualität von Lehre und Forschung.
Dr. Martin Winter: Untersucht haben wir das anhand von 20 Universitäten und Fachhochschulen in vier Bundesländern. Dabei haben wir uns die jeweils angebotenen Studiengänge zu zwei Zeitpunkten – 2000 und 2011 – angesehen und miteinander verglichen.
Insgesamt bestehen auch nach der Bologna-Reform deutliche Unterschiede zwischen dem Studienangebot der Universitäten und der Fachhochschulen. So gibt es an allen untersuchten Universitäten mehr Master- als Bachelor-Studiengänge. Die Fachhochschulen konzentrieren sich im Gegensatz dazu stärker auf den grundständigen Studienbereich und bieten mehr Bachelor- als Master-Studiengänge an. Innerhalb der Gruppe der Fachhochschulen wie auch innerhalb der Gruppe der Universitäten variieren allerdings die Anteile. Hier fand also durchaus ein gewisser Differenzierungsprozess zwischen den einzelnen Standorten statt.
Unterschiede zwischen beiden Hochschularten konnten wir auch bei der Deklaration von forschungs- und anwendungsorientierten Studiengängen feststellen. Universitäten bieten vorrangig forschungsorientierte Masterprogramme an, während Fachhochschulen stärker auf anwendungsorientierte sowie weiterbildende Master-Studiengänge setzen.
Insgesamt scheint die Bologna-Reform nicht die – je nach Perspektive erhoffte bzw. befürchtete – Annäherung von Fachhochschulen und Universitäten gebracht zu haben. Eher scheint es so zu sein, dass insbesondere die Universitäten die Umstellung auf die neuen Studienabschlüsse dazu genutzt haben, sich als Universitäten zu profilieren und sich auf diese Weise von den Fachhochschulen abzugrenzen. Diese Interpretation legen die Daten nahe. Inwieweit dies tatsächlich eine bewusste Strategie der Hochschulen war, wäre genauer zu untersuchen.
Und die Veränderungen in den Studiengängen selbst – wie viel "Neuerung", wie viel "Reform" ist hier festzustellen?
Annika Rathmann studierte von 2006 bis 2011 Sozialwissenschaften und arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hochschulforschung Halle-Wittenberg sowie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören: Methoden der empirischen Sozialforschung; Studierende und Studienstrukturreform; wissenschaftlicher Nachwuchs.
Annika Rathmann: Eigentlich verfügen die Hochschulen über mehr inhaltliche Spielräume ihre Studiengänge zu gestalten, als dies noch vor der Bologna-Reform der Fall war. Daher haben wir uns genauer angeschaut, inwieweit die verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen diese Ausgestaltungsmöglichkeiten auch tatsächlich genutzt haben. An den Fachhochschulen ist eine deutlich höhere "Reformintensität" als an Universitäten festzustellen, das heißt, es hat dort größere Veränderungen im Studienangebot gegeben.
Zurückzuführen ist dieser Unterschied auch auf den hohen Anteil an sprach- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen an Universitäten. Gerade bei Studiengängen dieser Fächergruppe herrscht oftmals Kontinuität. Insgesamt wurden die Gestaltungsmöglichkeiten von den Fächergruppen sehr unterschiedlich wahrgenommen. Besonders im Bereich der Ingenieurwissenschaften unterlag das Studienangebot starken Veränderungen – das ist auch deshalb erstaunlich, weil dort immer wieder die Diskussion "Rückkehr zum alten Diplom" geführt wird. Innerhalb der Fächergruppe "Mathematik und Naturwissenschaften" gibt es demgegenüber deutlich weniger Variationen.
Gibt es denn jetzt "mehr" oder arbeitsmarktnähere oder sonst wie "besser qualifizierende" Studiengänge als dies zuvor der Fall war? Und wie beurteilen Sie diese Entwicklung: hat das ganze Reformieren den Studierenden bessere Bildung undoder bessere Chancen am Arbeitsmarkt gebracht?
Dr. Martin Winter: Um diese Frage zu beantworten, müsste man genauer die Curricula der einzelnen Studiengänge analysieren. Bei einer Fallzahl von 981 Studiengängen im Wintersemester 2000/01 und 1735 Studiengängen im Wintersemester 2011/12 war dies in unserer Studie natürlich nicht möglich. Doch auch selbst wenn man sich auf die Erforschung einzelne Curricula konzentrieren könnte, stellen sich generell die Fragen, was unter "besserer Bildung" verstanden werden soll und wie tatsächlich "bessere Chancen am Arbeitsmarkt" curricular realisiert werden könnten.
Und wie haben sich die Modalitäten für die Studienplatzvergabe verändert?
Annika Rathmann: Die zentrale Frage hinsichtlich der Studienplatzvergabe war, ob die zulassungsbeschränkten Studiengänge mehr oder weniger geworden sind. Insgesamt zeichnet sich ab, dass der Zugang zum Studium restriktiver geworden ist. Zwar gibt es auch noch im Wintersemester 2011/2012 mehr zulassungsfreie als zulassungsbeschränkte Studiengänge. Im Vergleich zum Wintersemester 2000/2001 ist der Anteil dieser zulassungsfreien jedoch deutlich zurückgegangen. Sowohl 2000 als auch 2011 war dabei an den Fachhochschulen ein größerer Teil des Studienangebots mit Zulassungsbeschränkungen belegt als an den Universitäten. Durch den starken Anstieg des Anteils örtlich zulassungsbeschränkter Studiengänge an den Universitäten haben sich die beiden Hochschularten jedoch inzwischen etwas angenähert.
In der Zusammenfassung Ihrer Studie wird davon gesprochen, dass nicht nur die normalen Zulassungsbeschränkungen gestiegen sind, sondern neben diesen auch "zulassungsfreie" Studiengänge zunehmend nicht mehr frei zugänglich sind. Wie muss man sich das vorstellen?
Dr. Martin Winter: Wir sind der Frage nachgegangen, welche Voraussetzungen in den einzelnen Studiengängen erfüllt sein müssen, um einen Studienplatz zu bekommen. Dabei mussten wir feststellen, dass der Zugang zum Studium nicht nur aus kapazitären Gründen, sprich: zu wenige Studienplätze für zu viele Studienbewerberinnen und -bewerber, reglementiert wird. Es gibt zudem eine beträchtliche Anzahl von Studiengängen, deren Zulassung von bestimmten Voraussetzungen abhängig gemacht werden – auch wenn der Studiengang nicht droht, "überfüllt" zu werden, und er folglich auch keinen Numerus Clausus aufweist. Dies gilt nicht nur für den Master-, sondern auch für den Bachelor-Bereich! Für diese "eigentlich" zulassungsfreien Studiengängen werden seitens der Hochschulen spezifische Kriterien definiert, die bereits vor Studienaufnahme von den Bewerberinnen und Bewerbern erfüllt sein müssen.
Annika Rathmann: Konkret heißt das: Im Wintersemester 2011/2012 war knapp die Hälfte des grundständigen Studienangebotes als zulassungsfrei ausgewiesen. Tatsächlich ‚hürdenfrei‘ war dabei jedoch nur rund ein Viertel der grundständigen Studiengänge der ersten Studienphase.
Was sind das denn beispielsweise für Zulassungsvoraussetzungen, die hier verlangt werden?
Annika Rathmann: Besonders häufig werden für das Studium einschlägige Sprachkenntnisse vorausgesetzt. Darüber hinaus bestehen auch Testverfahren oder Vorpraktika als Zulassungshindernisse. In einigen wenigen Fällen werden auch konkrete Fachnoten, Motivationsschreiben oder aber ein bestimmter Notendurchschnitt verlangt.
Und wie sieht das im Master-Bereich aus?
Annika Rathmann: Im weiterführenden Studienbereich sind solche Einschränkungen nochmals stärker anzutreffen. Rund 60 Prozent der Masterstudiengänge weisen keinen Numerus Clausus auf. Das scheint auf dem ersten Blick ein recht hoher Anteil zu sein. Tatsächlich frei zugänglich – also ohne weitere Zulassungsvoraussetzungen jenseits eines erfolgreichen BA-Abschlusses – sind jedoch nur 15 Prozent des weiterführenden Studienangebots.
In den mit Zulassungsvoraussetzungen belegten Studiengängen werden neben dem ersten obligatorischen Hochschulabschluss insbesondere Vorgaben zum Leistungsniveau des ersten Hochschulabschlusses getroffen. Beispielsweise soll dieser mit "gutem oder sehr gutem Ergebnis" bewertet worden sein. Häufiger werden jedoch konkrete Durchschnittsnoten genannt, welche die Bewerberinnen und Bewerber im vorangegangenen Studium erzielt haben müssen. Weiterhin werden auch hier Vorgaben zu Sprachkenntnissen getroffen oder Testverfahren zur Auswahl der Bewerber und Bewerberinnen angesetzt.
Wenn ich richtig verstehe: In den letzten Jahren haben die Zulassungsvoraussetzungen massiv zugenommen – und das noch stärker, als es üblicherweise auf den ersten Blick ersichtlich ist?
Dr. Martin Winter: Genauer gesagt: Der Anteil zulassungsbeschränkter Studiengänge ist gewachsen und zudem gibt es eine erhebliche Anzahl von Studiengängen mit Zulassungsvoraussetzungen. Bei den ersten ist die Beschränkung darin begründet, dass es zu wenig Studienplätze und zu viele Studieninteressierte gibt. Bei der zweiten Gruppe wird eine Auswahl der Bewerberinnen und Bewerber nach Kriterien vorgenommen, die mit den Anforderungen des jeweiligen Studiengangs zusammenhängt.
Unterscheidet sich die Situation in Bezug auf Studienangebot und Studienplatzvergabe in den verschiedenen Bundeländern denn voneinander?
Annika Rathmann: In die Untersuchung des Studienangebots und der Zulassungspraktiken haben wir vier Bundesländer einbezogen: Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. Es zeigt sich, dass sich die Studiengänge in den vier Ländern unterschiedlich entwickelten. In Niedersachsen sind im Vergleich zu den anderen drei Bundesländern die stärksten Veränderungen im Studienangebot zu beobachten.
Veränderungen haben wir in der Hauptsache anhand von zwei Variablen analysiert. Strukturelle Veränderungen wurden gemessen an der Art des Abschlusses, z.B. die Umstellung von Diplom auf Bachelor). Inhaltliche Veränderungen wurden an den Studiengangsbezeichnungen festgemacht, z.B. Physik, Pharmatechnik oder Agrarwissenschaft. Eine geänderte Studiengangsbezeichnung wird von uns dabei als Hinweis auf eine grundlegende inhaltliche Umgestaltung interpretiert.
Hinsichtlich der Zulassungsbeschränkungen ist zu konstatieren, dass in allen vier Bundesländern der Anteil zulassungsbeschränkter Studiengänge von 2000 zu 2011 angestiegen ist; zulassungsfreie Studiengänge wurden dementsprechend weniger. Der Anteil zulassungsfreier Studiengänge fiel zu beiden Untersuchungszeitpunkten in Niedersachsen am geringsten, in Sachsen-Anhalt am höchsten aus.
Sie haben auch Marketingstellen an Hochschulen untersucht. Was konnten Sie dabei feststellen?
Dr. Martin Winter: Es gibt eine erstaunlich große Anzahl von Hochschulen in Deutschland, die auf irgendeine Art und Weise, Marketing betreiben. Explizit verfügen rund drei Fünftel der Hochschulen über Marketingstellen; insbesondere an den ostdeutschen Hochschulen sind sie weit verbreitet.
Marketing wird hierbei überwiegend als Studienwerbung verstanden. Die wenigen Vorgängeruntersuchungen, die es hierzu gibt, lassen leider keinen direkten Vergleich der Zahlen zu. Es gibt aber einige Hinweise, dass sich das Phänomen der Marketingstellen in der deutschen Hochschullandschaft in den letzten zehn Jahren stark ausgebreitet hat.
Wie sind Ihrer Auffassung nach die festgestellten Veränderungen in die zu erwartende weitere Entwicklung des bundesdeutschen Studiensystems einzuordnen?
Dr. Martin Winter: Zum einen haben wir festgestellt, dass sich die Hochschulen vermehrt Studienbewerberinnen und -bewerber selbst aussuchen, indem sie von ihnen die Erfüllung bestimmter Zulassungsvoraussetzungen verlangen. Diese in gewisser Weise leistungs- bzw. kompetenzorientierte Selektion findet statt, auch wenn diese Studiengänge nicht kapazitär beschränkt sind.
Zum anderen hat die Studienwerbung der Hochschulen in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Das heißt, die Hochschulen bemühen sich intensiver um die Anwerbung von Studierenden – und nicht nur in den ostdeutschen Ländern, die aktuell vom Abiturientenrückgang betroffen sind. Bedingt durch den demografischen Wandel werden sich die Hochschulen in ganz Deutschland darauf einstellen müssen, um (gute) Studieninteressierte zu konkurrieren – in Ostdeutschland früher, in Westdeutschland später und regional in sehr unterschiedlichem Maße.
Die oben angesprochen "Verwettbewerblichung des Studiensystems" hat also zwei Seiten: einerseits die (aktuelle) Konkurrenz der Abiturientinnen und Abiturienten um Studienplätze und andererseits der zunehmende Wettbewerb der Hochschulen um (gute) Studierende. Ein verstärkter Wettbewerb um Studierende führt wiederum dazu, dass die Hochschulen immer mehr den Marketinggedanken als eine Art "Unternehmens- bzw. Hochschulführungsphilosophie" übernehmen und sich entsprechend ausrichten.
Weiterlesen
- Winter, Martin/Rathmann, Annika/Trümpler, Doreen/Falkenhagen, Teresa 2012: Entwicklungen im deutschen Studiensystem. Analysen zu Studienangebot, Studienplatzvergabe, Studienkapazität, Studienwerbung und Marketing. Wittenberg: HoF-Arbeitsbericht 7/2012.
http://www.hof.uni-halle.de/dateien/ab_7_2012.pdf - Studiengebühren und "unternehmerische" Hochschule
https://www.studis-online.de/HoPo/Bildungsstreik/unternehmerische_hochschule.php?seite=2 - Veränderung des Hochschulzugangs – Die Debatte in Deutschland und ihre Hintergründe
https://www.studis-online.de/HoPo/Hintergrund/hochschulzugang2.php - Bildungspolitik und »aktivierender Staat« – Neue Ansätze wettbewerbskorporatistischer Bildungssteuerung
https://www.studis-online.de/HoPo/Bildungsstreik/bilpol-aktivierender-staat.php