Studieren kostet NervenImmer mehr Studierende nehmen Psychopharmaka
Studis Online: Herr Dr. Zimmermann, seit Jahren nimmt die Zahl seelischer Erkrankungen sowie Verschreibung von Psychopharmaka zu. Offenbar in besonderem Maße unter Studierenden. Wie kommt es hierzu?
Dr. med. Gerhard Zimmermann, Facharzt für Dermatologie und Allergologie, Zusatzqualifikation Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Seit 1998 in privater Praxis mit dem Schwerpunkt Psychotherapie, Psychosomatik und Stressmanagement niedergelassen. Er betreibt die Internetseite http://stressmanagement.de/.
Dr. Gerhard Zimmermann: Nun, die Anforderungen haben in allen Lebensbereichen zugenommen. Die Aktivitätsverdichtung betrifft nicht nur das Studium, sondern auch das Privatleben mit vielen Kontakten via Smartphone und Facebook, Erwartungen der Peergruppe und nicht zuletzt den Druck, modisch gekleidet und technisch auf einem entsprechenden Niveau ausgestattet zu sein. Das alles kostet nicht nur Zeit sondern auch Geld, welches sich viele Studenten selbst erarbeitet müssen. Die sich daraus zwangsläufig resultierenden verkürzten Regenerationszeiten gehen mit mehr Nervosität und Stress einher, ggf. stellen sich auch Versagensangst und eine zunehmende Verunsicherung ein.
Kurzum: Inzwischen fühlen sich die meisten deutschen Studenten gestresst. Das ergab eine aktuelle Forsa-Umfrage im Auftrag der Techniker Krankenkasse unter 1.000 Studenten in Nordrhein-Westfalen. Fast die Hälfte der Befragten fühlt sich sogar häufig oder immer gestresst. Hauptursache dieses Stresses sind nach Selbstauskunft dabei Prüfungen, Zeitdruck und finanzielle Sorgen. Die Studenten klagen über Nervosität, Erschöpfung, Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Die Umfrage zeigt auch, dass die Studenten die so genannte Bologna-Reform, also die Umstellung auf das Bachelor-Master-Studienmodell, sehr kritisch sehen. In der Studienzeitverkürzung sehen die meisten von ihnen einen großen Stressfaktor.
Und hiergegen helfen dann Psychopharmaka?
Auf der einen Seite führen sie zu einer Symptomlinderung indem sie beruhigend und Angst lösend wirken. Auf der anderen Seite beseitigen sie weder den gestiegenen Außendruck noch reduzieren sie die eigentlichen Probleme nachhaltig. Die ursächliche Behandlung dieser würde in vielen Fällen eine komplexe psychologische Beratung erfordern, die einen hohen Zeitaufwand auf Seiten der betroffenen Studenten sowie entsprechende Therapiekapazitäten erfordern würde. Günstiger und schneller, allerdings nur im Sinne einer kurzfristigen Symptomlinderung, ist da eben eine Behandlung mit Antidepressiva.
Was genau wäre für Sie denn eine ursächliche und nachhaltige Problemlösung?
Pillen alleine helfen nur selten!
Betroffene müssen zunächst einmal lernen bewusster und strukturierter mit Stress umzugehen.
Im Stress ist man in einer erhöhten Grundanspannung gefangen und erledigt unbewusst alle Aufgaben mit mehr oder weniger Anstrengung. Dies führt recht schnell zum Überschreiten der persönlichen Belastungsgrenze, verkürzten Regenerationszeiten und schließlich zunehmend zu Ängsten, psycho-physischer Erschöpfung (Depression) sowie ggf. zahlreichen anderen Erkrankungen.
Das bedeutet dann: Jeder einzelne ist aufgefordert an seinem Umgang mit Stress zu arbeiten – aber auch, dass organisatorische Mängel dafür mitverantwortlich sind, dass immer mehr Studierende mit ihrem Studium Probleme bekommen?
Menschen sind nur begrenzt belastbar – und die individuelle Belastungsgrenze gilt es möglist einzuhalten. Wenn in der zuvor erwähnten Forsa-Umfrage herauskommt, dass 64 Prozent der befragten Studierenden an zu hohem Prüfungsdruck, 55 Prozent unter Zeitdruck und 36 Prozent unter finanziellen Sorgen leiden, stimmt dies schon nachdenklich. Ebenso wie eine jüngst veröffentlichte Diplomarbeit zum Thema, die den Titel trägt "Mehr Burnout durch Bologna".
Dennoch muss sich – neben dieser politischen Ebene, die nachweislich auch volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet – natürlich auch jeder einzelne um eine persönliche Lösung seiner Problematik bemühen. Ansonsten besteht die Gefahr, Opfer der gesellschaftlichen Umstände zu werden.
Was kann man denn gegen Stress tun?
Zunächst sind eine ausreichende Tagesstruktur, das Aufteilen der Arbeit in überschaubare Pakete, genügend Bewegung (Sport), aber auch ausreichende Ruhephasen erforderlich. Bei komplexeren Problemen braucht es eine weitere Analyse der individuellen Symptomatik.
Bei manchen Personen stehen Ängste im Vordergrund, bei anderen mangelt es an Ordnung und Struktur, was zu einem Vermeidungsverhalten (Ablenkung anstatt am Schreibtisch zu arbeiten) und zum Aufschieben von Aufgaben führen kann. Aber auch das häufige Sich-Vergleichen mit anderen Studenten, die vermeintlich bessere Leistungen erbringen, ist nicht hilfreich.
Nicht selten sind die persönlichen Probleme größer als man zunächst annimmt. In diesen Fällen ist eine professionelle Beratung am erfolgversprechendsten, wie sie an Universitäten oder in spezialisierten psychotherapeutischen Praxen angeboten wird. Eine qualifizierte Beratung unterstützt die Arbeit an den eigenen emotionalen Mustern und schult auch die Selbst- und Körperwahrnehmung bzw. die Selbstregulation, was für eine effektive Stressbewältigung von großer Bedeutung ist.
Nur in Kombination mit einer Psychotherapie rate ich zur Einnahme von Antidepressiva, denn sie beseitigen nur bis zu einem gewissen Grad die Symptome von Angst und Depressivität. Die eigentlichen Probleme aber bleiben.
Hilfen und Hinweise zur Selbsthilfe
- TK-AntistressCoach (Techniker Krankenkasse)
- Stress: Entspannter durch den Alltag (Barmer GEK)
- Stress im Griff (AOK)
- Mehr Lebensqualität und weniger Stress (Knappschaft)
- Broschüre "Rückenwind. Was Studierende gegen Stress tun können" (Karlsruher Institut für Technologie)
- Das "System Uni" durchschauen lernen oder: Wie man sich im Studium nicht verliert (Artikel bei Studis Online)
- Wie gutes Studieren gelingt (Artikel bei Studis Online)
Zum Weiterlesen (Hintergründe etc.)
- TK-Stress-Studie NRW-Studenten 2012
- Bevölkerungsbefragung: Ausmaß, Ursachen und Auswirkungen von Stress in Deutschland (2009)
- Sind deutsche Hochschulen nur mit Psychopharmaka zu ertragen? (Blogeintrag bei heise.de/tp)
- Beinahe jede(r) Zweite gilt als psychisch gestört (Artikel bei heise.de/tp)
- "Widerstandsfähigkeit für Mensch und Unternehmen" (Artikel bei heise.de/tp)
- Stressreport Deutschland 2012