Warten auf mehr Geld2,5 Millionen Studierende
Die vom Statistischen Bundesamt am Freitag vorgelegten Zahlen bilden nur "vorläufige Ergebnisse" ab, dürften erfahrungsgemäß aber ziemlich nah bei der Wahrheit liegen. Im Studienjahr 2012 (Sommersemester 2012 und Wintersemester 2012/13) nahmen demnach 492.700 Menschen ein Studium auf. Verglichen mit dem Vorjahr waren dies fünf Prozent oder 26.000 Erstsemester weniger. Damals machte sich vor allem die überstürzte Aussetzung der Wehrpflicht bemerkbar. Bei einem Gesamtzuwachs um 16 Prozent gegenüber dem Studienjahr 2010 stellten seinerzeit vor allem Männer den Löwenanteil der Neueinsteiger (+ 23 Prozent), wohinter die Steigerung bei den Frauen mit neun Prozent deutlich zurückblieb (vergleiche Pressemitteilung aus 2011).
Männeransturm gestoppt
Steigende Studienneigung: Bisher sieht die Finanzplanung der Bundesregierung eher Kürzungen anstatt einer Anpassung der finanziellen Mittel vor
Diesmal haben sich Verhältnisse wieder verkehrt. Männliche Studieneinsteiger gibt es satte zehn Prozent weniger als 2011, bei den weiblichen sind es ein Prozent mehr. Starke Auswirkungen hatten im Vorjahr auch die doppelten Abiturientenabgänge in Bayern und Niedersachsen infolge der Umstellung auf das achtjährige Gymnasium (G8). Mit einem Minus von 16,4 Prozent bzw. 6,4 Prozent haben beide Länder in diesem Jahr sichtbar abgespeckt. Ein stattliches Defizit von 10,4 Prozent bzw. 10,3 Prozent verzeichnen daneben Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, gefolgt von Thüringen mit minus sieben Prozent. Offenbar schlägt in den neuen Bundesländern der demographische Schwund nach einem Jahr der Erholung wieder voll auf die Studierendenzahlen durch. Im Bundesschnitt mit minus 5,2 Prozent liegt allein Sachsen, das Brandenburger Plus von 0,8 Prozent erklärt sich auch durch die Nachbarschaft zu Berlin. Weil in der Hauptstadt praktisch alle Studiengänge zulassungsbeschränkt sind, weichen viele Zukurzgekommene nach Potsdam aus.
Dazu kommt, dass in Brandenburg wie auch in Berlin, Baden-Württemberg und Bremen im Frühjahr 2012 doppelte Abiturjahrgänge die Schulen verlassen haben. Kräftig zugelegt haben die Neuimmatrikulationen mit neun Prozent indes allein in der Hansestadt. Berlin notiert nur bei einem halben Prozent Plus, das "Ländle" verzeichnet einen Zuwachs von 1,4 Prozent. Deutliche Einbußen weisen die Wiesbadener Statistiker für Rheinland-Pfalz (– 6,9 Prozent) und Schleswig-Holstein (– 7,6 Prozent) aus. Hessen (– 4,6 Prozent), Hamburg (– 3,8 Prozent) und das Saarland (– 1,2 Prozent) bleiben jeweils unter dem bundesweiten Fünf-Prozent-Minus.
Ruhe vor dem Sturm
Auch Nordrhein-Westfalen (NWR) zählt weniger Einsteiger als im Vorjahr, nämlich 2,3 Prozent. Allerdings ist das nur die Ruhe vor dem großen Sturm. Im bevölkerungsreichsten Bundesland steht ab nächstem Frühjahr ein Doppelabiturjahrgang zum Sprung auf die Hochschulen bereit. Das verspricht mindestens für ein weiteres Jahr Studienfrischlinge en masse. Aber selbst für den Fall, dass die Zugangszahlen bundesweit in den nächsten Jahren zurückgehen, bleiben überfüllte Hörsäle ein Dauerbrenner. Auf lange Sicht werden schon wegen der in der Bevölkerung massiv gestiegenen Studierneigung Jahr für Jahr mehr Erstsemester nachrücken, als Absolventen abgehen. Aktuell bevölkern circa 2,5 Millionen Studierende die Hochschulen. Das sind – trotz rückläufiger Erstsemesterzahlen – fünf Prozent mehr als im Wintersemester 2011/12 und damit so viel wie noch nie.
Unzureichende Finanzplanung
In den Sternen steht allerdings weiterhin, was die politisch Verantwortlichen angesichts der Herausforderungen zu tun gedenken. Noch ist nicht einmal klar, ob überhaupt etwas passiert. Nach Lage der Dinge und Überzeugung praktisch aller Fachleute ist der von Bund und Ländern aufgelegte Hochschulpakt zur Schaffung zusätzlicher Studienplätze mittel- und langfristig völlig unterdimensioniert. Die Kultusministerkonferenz (KMK) kalkuliert inzwischen allein für die Jahre 2011 bis 2015 mit 46 Prozent mehr erforderlichen Studienplätzen, als der Pakt veranschlagt, der den Bedarf auf knapp über 320.000 taxiert. Bis 2020 sollen sogar 750.000 mehr Studienanfängerplätze gebraucht werden, als ursprünglich geplant war.
Nach Angaben der Fraktion Die Linke im Bundestag werden die bereitgestellten Bundesmittel schon im kommenden Jahr ausgeschöpft und bis 2015 weitere 1,89 Milliarden Euro nötig sein, um der Lage gerecht zu werden. Die Zahl der bis dahin fehlenden "ausfinanzierten Studienplätze" beziffert die Linksfraktion mit "mindestens 275.000". Allein im laufenden Studienjahr hätten "145.000 junge Menschen mehr ein Studium aufgenommen, als prognostiziert worden ist, und Tausende von Studierwilligen warten immer noch auf einen Studienplatz", monierte am Freitag die hochschulpolitische Sprecherin der Linken, Nicole Gohlke, in einer Presseerklärung. "Frau Schavan muss jetzt handeln, da es um die Zukunft und Ausbildung tausender junger Menschen geht", verlangte Gohlke.
Schavan auf Tauchstation
Die Adressatin, Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), blieb gestern in Deckung. In der Vorwoche war die 17. Sitzung der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern (GWK) in Berlin in der Frage der Hochschulfinanzierung ohne jedes Ergebnis geblieben. Das Streitthema wurde mit der Begründung vertagt, man wolle zunächst die Vorlage der neuesten Studierendenzahlen abwarten. Die gibt es seit gestern schwarz auf weiß, eine Stellungnahme zum Thema durch das Bundesbildungsministerium (BMBF) erfolgte am Freitag trotzdem nicht. Die Länder wollen den Bund finanziell noch stärker in die Pflicht nehmen, während die Finanzplanung der Bundesregierung für die bevorstehenden Jahre empfindliche Kürzungen im Bereich Forschung und Wissenschaft vorsieht.
Für Kai Gehring von der Grünen-Fraktion im Bundestag ist der Bildungshaushalt "Makulatur", und das "nicht einmal 24 Stunden nach seiner Verabschiedung". Schavan habe "weder das Studierenden-Hochplateau in ihre Finanzplanung eingepreist noch die dringend notwendige Erhöhung beim BAföG eingeplant", gab Gehring per Medienmitteilung zu bedenken. Die Ministerin verfahre hochschulpolitisch nach dem Motto: "Nach uns die Sintflut." Ohne bessere Studienbedingungen und Studienfinanzierung würden die Abbruchquoten nicht sinken. "Diesen Aderlass an Bildungsaufsteigern und Fachkräften können wir uns nicht erlauben", äußerte sich der Grünen-Politiker.
SPD für "Hochschulpakt Plus"
Mahnende Worte an die Ministerin kamen am Freitag auch von der SPD. Sven Schulz von der Bundestagsfraktion brachte dabei erneut einen "Hochschulpakt Plus" ins Gespräch. Neben insgesamt mehr Geld sollte mit diesem insbesondere die "Einrichtung von Masterstudienplätzen gefördert und mehr in die Beratung und Betreuung der Studierenden investiert" werden. Schulz` Vorwurf an Schavan: "Sie handelt nicht, sondern spielt auf Zeit."
Amina Yousaf vom Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen hat davor gewarnt, die neuesten Einschreibezahlen herunterzuspielen, vielmehr müsse die Politik "jetzt zuverlässig handeln!" Vor allem fordern die Jusos Anstrengungen zur Verbesserung der Lehre. "Deswegen muss auch beim Qualitätspakt Lehre neu verhandelt werden, denn mehr Studierende brauchen auch mehr Mittel." Gleichzeitig stehe außer Frage, "dass diese projektgebundenen Programme langfristig durch ein stetiges Finanzierungskonzept abgelöst werden müssen".
"Konzertierte Aktion" gefordert
Der "freie zusammenschluss von studentInnenschaften" (fzs) verwies am Freitag auf den Mangel an Master-Studienplätzen. Bei einem Übergang von 80 Prozent vom Bachelor zum Master könnten viele nicht in ihrem Wunschfach studieren, insbesondere bei der Öffnung der Hochschulen für Kinder aus "Nichtakademikerfamilien" gebe es Rückschritte. "Die Politik muss schnell handeln, damit die Erstsemester nicht in eine Sackgasse geschickt werden."
Das Deutsche Studentenwerk (DSW) nahm die Veröffentlichung der Studierendenzahlen zum Anlass, die Engpässe bei Wohnheimen und Service der Studentenwerke zu problematisieren. "Konkret werden 25.000 zusätzliche, preisgünstige Wohnheimplätze sowie Mittel für den Ausbau der Mensen, Kinderbetreuungseinrichtungen und Beratungsangebote für Studierende dringend benötigt", erklärt DSW-Präsident Dieter Timmermann. Bund und Länder müssten jetzt gemeinsam handeln und parallel zu den Hochschulpakten die soziale Infrastruktur ausbauen. Timmermanns Mantra: "Wir brauchen eine konzertierte Aktion." (rw)
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