Geht's noch enger?Hochschulen voll
Es ist schon voll an den Hochschulen – und wird dieses Wintersemester noch voller
Wie viele Studienneulinge in diesem Wintersemester die Hochschulen bevölkern, ist noch nicht klar. Im Vorjahr konnte das Statistische Bundesamt erst Ende November eine "vorläufige" Erhebung veröffentlichen. Ob wie im Studienjahr 2011 auch diesmal weit über eine halbe Million Erstsemester zusammenkommen, wird sich zeigen. Gewaltig wird die Zahl aber auf alle Fälle. Mit Baden-Württemberg (BaWü), Berlin, Bremen, Brandenburg und Hessen gibt es gleich fünf Bundesländer, in denen im Frühjahr doppelte Abiturjahrgänge die Schulen verlassen haben. Für Nachschub sorgt auch weiterhin die ausgesetzte Wehrpflicht, wodurch im Vorjahr die Zahl studierender Männer um 26 Prozent zugelegt hat.
Wieder mehr Erstsemester
Ein Rekordzulauf zeichnet sich in der Hauptstadt und im Südwesten ab. Im Rahmen einer Blitzumfrage des Stuttgarter Wissenschaftsministeriums meldeten die Hochschulen in BaWü acht Prozent mehr Bewerbungen als im Vorjahr. Zwar bliebe damit die Zuwachsrate hinter den 15,5 Prozent von 2011 zurück – zahlenmäßig mehr Erstsemester als seinerzeit sind es trotzdem. Und das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. An den Fachhochschulen (FH) wurden 18 Prozent mehr Neulinge gezählt, wegen der früheren Meldefristen dürften die Daten ziemlich nah bei der Wirklichkeit liegen. Die Universitäten haben dagegen bislang nur eine Vier-Prozent-Steigerung bei den Studienanfängern ermittelt. Die Quote könnte wegen der zu erwartenden Nachrücker aber noch anziehen.
Ein sicheres Indiz für Überfüllung ist die Verschärfung bei den Zugangshürden. In Berlin zog für zahlreiche Fächer die Grenznote – also die Abiturnote, die zu einem Studienplatz berechtigt – zum Teil deutlich an. Im Fach Chemieingenieurwesen an der Technischen Uni (TU) sprang der Wert von 3,2 im vergangenen Jahr auf 1,5, in Lebensmittelchemie von 2,7 auf 1,9. Um Psychologie an der Humboldt-Universität (HU) studieren zu können, braucht es sogar einen NC von 1,0, für Jura eine 1,6 und für Grundschulpädagogik eine 1,9. Dasselbe Bild ergibt sich an der Freien Uni (FU) in angesagten Fächern wie BWL, Politik oder Biochemie. Bereits im Vorjahr bestand praktisch für ganz Berlin ein flächendeckender Numerus Clausus (NC).
NC wird zur Normalität: bis zu 62 Wartesemester ...
Insgesamt können die Hauptstadt-Hochschulen in diesem Jahr 31.500 Neulinge aufnehmen. Studierwillige gab es um ein Vielfaches mehr. Die HU verbuchte 33.600 Bewerbungen auf 4.200 Plätze, die FU 32.000 auf 4.200 Plätze. Zigtausende sind demnach allein in der Spree-Metropole auf der Strecke geblieben, und bestimmt nicht alle von ihnen sind andernorts in Deutschland fündig geworden. Der Hochschulkompass der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) listet derzeit 7161 Studiengänge mit örtlicher und 91 mit bundesweiter Zulassungsbeschränkung. Dem stehen 8841 zulassungsfreie Studiengänge gegenüber, was nur noch knapp mehr als die Hälfte des Gesamtangebots umfasst. Von den Bachelor-Studiengängen machen sogar bereits 53 Prozent die Schotten dicht, beim Universitäts-Master sind es 33 Prozent und beim FH-Master schon 46 Prozent – Eignungsverfahren als mögliche (weitere) Hürde sind da noch gar nicht berücksichtigt.
Die von Studis Online erfassten Ergebnisse von Zulassungserfahren zeigen ebenfalls teils extreme Werte. Den traurigen Rekord hält dabei die Hochschule München: Für ihren Studiengang BASA-Online [Soziale Arbeit] (der zwar nur von Menschen mit Berufserfahrung überhaupt in Anspruch genommen werden kann, insofern haben alle BewerberInnen bereits einige Wartesemester auf dem Buckel) waren – so man die nötige (Fach-)Abinote von 1,8 oder besser nicht bieten konnte – 62 Wartesemester nötig. Dieser Wert war schon letztes Wintersemester erreicht worden, 2010/2011 waren dagegen "nur" 52 Wartesemester nötig (siehe die Übersicht der Hochschule München). München scheint sowieso Hochburg von Wartesemester-Extrema zu sein: An der LMU München sind dieses Mal in einem Fach – zwar "nur" ein Nebenfach mit lediglich 15 ECTS – auch nach dem 2. Nachrückverfahren 32 Wartesemester nötig (oder eine Note von 1,2 oder besser). Nach dem Hauptverfahren hieß es noch: 50 Wartesemester oder Note 1,0.
Wo Angebot und Nachfrage so weit auseinanderklaffen, gibt es Verlierer en masse. Nicht alle müssen unbedingt leer ausgehen, aber ganz gewiss sind zehntausende nicht im Wunschfach und dem Wohnort ihrer Wahl untergekommen. Und etliche werden genervt hingeschmissen oder es gleich ganz gelassen haben. "Viele haben die Notbremse gezogen und legen erst einmal ein Jahr Pause ein", zitierte die Presse eine Vertreterin des Roten Kreuzes in Freiburg. In diesem Jahr seien deutlich mehr Bewerbungen für ein Freiwilliges Soziales Jahr oder den Bundesfreiwilligendienst eingegangen. Zudem sollen sich bei den Industrie- und Handelskammern erheblich mehr Abiturienten um eine Ausbildungsstelle bemüht haben als in den Vorjahren. Mehr Zulauf an Gymnasiasten verzeichneten auch die Arbeitsagenturen.
Vorlesung unterm Kruzifix
So mancher, der dagegen den Sprung an die Hochschulen geschafft hat, könnte den Schritt vielleicht schon bereuen. Um den Lehrbetrieb irgendwie sicherzustellen, hat etwa die Universität Duisburg/Essen ein Kino für Vorlesungen angemietet, die Uni Paderborn einen benachbarten Baumarkt. Die Uni Kassel behilft sich sogar mit Räumlichkeiten in einem Gotteshaus. "Wir sind am Rande dessen, was leistbar ist«, sagte eine Unisprecherin dem Hessischen Rundfunk. Denn auch an Hessens Hochschulen läuft der Betrieb am Anschlag oder darüber. Vielerorts im Land haben die Studierenzahlen ein Allzeithoch erreicht – neben Kassel auch an der Uni Marburg. Landesweit sollen 138.000 junge Menschen eingeschrieben sein, 5.000 mehr als im Wintersemester 2011/12.
Unter dem Gedränge leidet natürlich auch die Qualität. Laut Dieter Timmermann, Präsident des Deutschen Studentenwerks (DSW), "haben diejenigen, die jetzt studieren oder in den kommenden Jahren anfangen, schlechtere Bedingungen als die Generationen vor ihnen". Zum Semesterstart beklagte er: "Die Seminare sind voller, es mangelt an Platz zum Lernen, es wird wieder auf den Treppen gesessen." Mit Blick auf den doppelten Abiturjahrgang in Nordrhein-Westfalen im kommenden Jahr warnte er: "Nächstes Jahr wird es dramatisch."
"Mieten? Ja, wat denn?"
Bezahlbare Zimmer für Studierende sind in vielen Städten Mangelware
Das gilt jetzt bereits für die Wohnungssituation. Der dringend nötige Ausbau der Wohnheimplätze wurde jahrelang verschlafen – obwohl die Lage bekannt war (vgl. auch unseren Artikel Studentische Wohnungsnot: Auch im WiSe 2012 Notunterkünfte nötig?). Dort, wo sich endlich etwas tut, bleiben die Maßnahmen weit hinter dem Erforderlichen zurück. Laut DSW müssten beispielsweise in Hessen mindestens 4.000 neue Plätze her, geschaffen würden aber nur 1.200. Bundesweit beziffert der Dachverband der 58 Studentenwerke in Deutschland den Bedarf auf 25.000 zusätzliche Plätze. Wegen des grassierenden Mangels müssen Studierende auf dem freien Wohnungsmarkt, insbesondere in Großstädten und Universitätsstädten, horrende Mieten berappen. Vielerorts fehlt es auch an bezahlbaren Zimmern in Wohngemeinschaften.
Besonders prekär ist die Lage in Berlin, Frankfurt (Main) und Hamburg. In der Hansestadt soll zu Semesterbeginn ein Fünftel der Studierenden noch keine Bleibe gefunden haben. Mit der Losung "Schlaflos in Hamburg? Mietenwahnsinn stoppen!" hatten am Mittwoch 1.000 Menschen gegen die miserablen Zustände demonstriert. Die Kamapgne plant weitere Aktionen. In Frankfurt waren bereits am Samstag Hunderte Studierende auf die Straße gegangen. Der Protest bildete den Abschluss des einwöchigen Indoor-Camps "Mieten? Ja, wat denn?" im Studierendenhaus auf dem Campus, das der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA) organisiert hatte. In der Main-Metropole standen zum Semesterauftakt 340 Wohnheimplätze für 1.200 Bewerber zur Verfügung. Nach AStA-Angaben sind lediglich drei Prozent der Frankfurter Studierenden in Wohnheimen untergebracht.
Bauminister unter Dampf
Immerhin zeichnet sich in der Frage Bewegung ab. Bundesbauminister Peter Ramsauer hat unter der Woche angekündigt, einen Runden Tisch für mehr bezahlbaren Wohnraum für Studierende ins Leben zu rufen. An diesem sollen die Bundesländer, die Studentenwerke sowie Hochschulverbände versammelt werden. "Was sich junge Leute in den Universitätsstädten gefallen lassen müssen, ist unglaublich und zum Teil skandalös", polterte der CSU-Politiker vor Journalisten in Berlin. Zu Recht fragten sich die jungen Menschen, "was ist das für ein Staat, drängt uns ins Studium und dann sollen wir unter der Brücke schlafen". Zur Linderung regte er den Umbau leerstehender Kasernen und Gewerbeimmobilien an. Drollig an dem Vorgang: Auf die Misere wurde der Minister nach eigener Schilderung wohl erst durch seine studierenden Töchter aufmerksam. Ob seiner Wortgewalt deshalb schon bald Taten folgen werden, bleibt trotzdem zu bezweifeln.
Tatsächlich kommen die Engpässe bei Studien- und Wohnheimplätzen nicht aus heiterem Himmel. All das hat sich seit langem abgezeichnet, ohne dass die Politik zur Tat geschritten wäre. Der im Sommer veröffentliche Nationale Bildungsbericht im Auftrag der Bundesregierung geht bis 2020 von 300.000 fehlenden Studienplätzen aus. Gleichwohl wird der Hochschulpakt 2020, mit dem Bund und Länder den Ausbau vorantreiben wollen, bis auf weiteres finanziell nicht aufgestockt. Dabei erscheint schon der Hochschulpakt 2015 Experten deutlich unterdimensioniert.
Bundesgesetz für Hochschulzulassung
Mit mittelfristig 200.000 fehlenden Plätzen rechnet die Bundestagfraktion Die Linke. Die will jetzt der Bundesregierung mit einer parlamentarischen Initiative Beine machen. Dazu hat sie Mitte der Woche einen Antrag vorgelegt, der auf die die Schaffung eines Bundesgesetzes zur Hochschulzulassung abzielt. Dieses soll dabei den Anspruch eines jeden Studienberechtigten auf ein Studium nach Wahl und in Wohnortnähe festschreiben. Sämtliche Zulassungs- und Zugangsbeschränkungen sollten entfallen und ein bundesweites, gebührenfreies, transparentes Zulassungsverfahren auf den Weg gebracht werden, mit dem freie Plätze unverzüglich und unbürokratisch besetzt werden. Außerdem soll ein jeder Bachelor-Absolvent das Recht auf einen Master-Platz haben.
Was durchweg wunderbar klingt, wird sich sobald nicht durchsetzen lassen. Zumal dann nicht, wenn der öffentliche Druck weiterhin ausbleibt. Nennenswerte Bildungsstreikaktivitäten liegen schon länger zurück. Wird daran nicht bald angeknüpft, könnte der Notstand schon bald zur Routine werden. (rw)