Von Nobelpreisträgern bis OccupyEin Studienjahr in Kalifornien
Gedankenverloren sitze ich bei Dolores – einem Laden für kalifornische Burritos in Berlin – und starre auf die Karte San Franciscos, die sich über die gesamte Wand vor mir zieht: Mission Street, Valencia, Castro. 24th and Mission, die BART-Station (Bay Area Rapid Transit), an der ich bei meinen Besuchen in einem der angesagtesten Viertel San Franciscos immer ausstieg.
Parkplätze für Nobelpreisträger
Neun Monate habe ich in der San Francisco Bay Area verbracht, um in Berkeley zu studieren. Berkeley ist das Flaggschiff des Systems von öffentlichen Universitäten in Kalifornien - auf dem Campus sind Parkplätze für Nobelpreisträger reserviert. In den USA steht Berkeley für Liberalität und das Free Speech Movement der 60er Jahre. Der Platz vor dem Sitz des Kanzlers der Uni ist nach Mario Savio benannt, in einer freien Interpretation wohl so etwas wie ein kalifornischer Rudi Dutschke. Seitdem ich vierzehn bin, träumte ich davon, irgendwann einmal hier zu studieren: Eine amerikanische Elite-Uni, dann auch noch öffentlich und quasi in San Francisco, was könnte man mehr wollen?
Hauptplatz der öffentlichen Universität in Berkeley mit der Sproul Hall (da sitzt der Kanzler). Auf dem Campus sind Parkplätze für Nobelpreisträger reserviert.
Doch mein Anfang in Berkeley läuft sich eigentlich ähnlich an wie der Beginn meines Studiums in Berlin: Mit der Wohnungssuche. Zwar ist die Zimmersuche keinesfalls zu vergleichen mit WG-Castings in Berlin, die sich mitunter durch lange Schlangen im Treppenhaus und Bietwettbewerbe um die größte "Mitgift" auszeichnen. Allerdings ist das Angebot auch sehr anders; die meisten Undergrads wohnen ‚on campus’ (also in von der Uni angebotenen Zimmern, die fast immer zu zweit belegt werden) oder in einer der zahlreichen Coops (ebenfalls oft in geteilten Zimmern). Da mir ein bisschen europäische Privatsphäre dann doch sehr wichtig ist, kam für mich einzig eine WG mit Amerikanern in Frage.
Schusswaffen so normal wie Schaufeln
Und so lerne ich Andrew und Jonathan bei ihrem WG-Casting kennen, meine damals zukünftigen und nun ehemaligen Mitbewohner. Jonathan kommt aus North Carolina und war sechs Jahre bei den Marines, Andrew kommt aus einem kleinen Uni-Städtchen in Illinois, jenem Staat dessen Bevölkerung zur Hälfte aus Chicago besteht. Beide sind ungemein interessiert an allem, was ich über Europa und Deutschland erzähle, aber manchmal könnten die Auffassungen nicht unterschiedlicher sein.
Beide können den Tatbestand der Holocaust-Leugnung nicht nachvollziehen (ist ja schließlich freie Meinungsäußerung) und Jonathan meint, dass eine Schusswaffe in North Carolina so normal sei wie eine Schaufel. Abgesehen davon, dass ich als Kind der Großstadt auch ungefähr niemanden kenne, der eine Schaufel besäße, verdeutlich das doch die zum Teil enormen kulturellen Unterschiede. Zum Glück lehnt Andrew jede Form von Schusswaffen genauso strikt ab wie ich auch, so dass Jonathan keins seiner ‚Spielzeuge’ aus North Carolina nach Kalifornien bringt.
Der Autor: Niklas Flamang, 1990 in Hamburg geboren, studiert im sechsten Semester Nordamerikastudien und Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin. Wenn er nicht gerade an Excel-Tabellen voller makroökonomischer Daten verzweifelt, guckt er HBO-Serien oder genießt das Berliner Nachtleben.
Und genau durch den intensiven Austausch mit Jonathan und Andrew über den Rest der USA kommt gar nicht erst die Gefahr auf, dass ich die kalifornische Blase, in der ich das Jahr verbringe, mit dem Rest der USA verwechsele. Im zwei Blocks entfernten Supermarkt gibt es ein Angebot, das deutschen Bio-Liebhabern die Freudestränen in die Augen treiben würde, und eine Auswahl an frischem Obst und Gemüse, mit der sich kein mir bekannter deutscher Supermarkt messen könnte (vielmehr bekommt man wahrscheinlich mehr als man auf einem gut sortierten deutschen Wochenmarkt kaufen könnte). Natürlich sind Bio-Richtlinien in den USA weniger strikt als in Deutschland und auch bei Berkeley Bowl gibt es durchaus konventionell erzeugte Lebensmittel. Nichtsdestotrotz beeindrucken Auswahl und Frische des Sortiments ungemein.
Überhaupt, das Essen: Berkeley ist durchzogen von hervorragenden und preiswerten Restaurants. Ein Stadtteil heißt aufgrund seiner Restaurantdichte gar ‚Gourmet Ghetto’. Die Küche reicht hierbei von nordafrikanischer und äthiopischer über indische und nepalesische bis hin zu französischer oder japanischer Küche. Abgesehen von Australien und der Arktis sind sämtliche Kontinente kulinarisch vertreten und das in einer Fülle, die für diese 120.000-Einwohner Stadt doch sehr beeindruckend ist, dazu gibt es mehrere Microbreweries, die Bier brauen, das dem Klischee vom wässrigen amerikanischen Gesöff so gar nicht entsprechen möchte.
Und vollkommen zurecht beschreiben AmerikanerInnen, die einmal in Berlin waren, die vegetarische Ernährung in der Bundeshauptstadt als schwierig. Während der Spiegel also von der Fleischlust der Provinz berichtet und deutsche Großstädte zum Hort des Vegetarismus ausruft, sind Herbivore und das Saturn Café in Berkeley schon liebgewonnene Institutionen.
Protest auf Amerikanisch
Doch zurück zu meinem eigentlichen Grund für mein Auslandsjahr in Kalifornien: die Uni. Auch an Berkeley sind die herben Sparmaßnahmen der vergangenen Jahre nicht spurlos vorübergegangen: lange Wartelisten, überfüllte Veranstaltungen und veraltete IT-Systeme sind wahrlich keine Seltenheit. Und doch ist Berkeley noch immer voller Zauber. Wenn mit Robert Reich der Arbeitsminister der Clinton Administration die Willkommensrede für alle neuen Studierenden an der UC Berkeley hält, hören alle gebannt zu.
Und wenn eben jener Robert Reich mit seiner Vorlesung ‚Wealth and Poverty’ einen Saal für 800 Leute füllt und es höchstens unruhig wird, wenn die Studierenden ob eines seiner zahlreichen Witzes in lautes Gelächter ausbricht. Wenn sich meine Soziologie-Dozentin zu Beginn der ersten Vorlesung vorstellt und sagt: "I don’t know about you, but I am a communist." Wenn mit Christina Romer die ehemalige Vorsitzende der ökonomischen BeraterInnen Barack Obamas zur wöchentlichen zweistündigen Sprechstunde lädt und jede und jeden freundlich begrüßt und nach dem Namen fragt.
Occupy Cal in Berkeley
Und am allermeisten wenn sich zu Occupy Cal über dreitausend Studierende auf die Straße begeben und kunterbunt gegen weitere Budgetkürzungen und Gebührerhöhungen protestieren. Knapp eine Woche nachdem die Campuspolizei und lokale Einsatzkräfte Demonstrierende noch übel zusammenknüppelten, finden sich wieder Tausende auf dem selben Platz zusammen.
Natürlich ist es Protest auf Amerikanisch – "This system has got to die, hella, hella occupy", schallt es. Selbstverständlich streben hier die wenigsten einen echten Systemwechsel an, die allermeisten möchten höchstenfalls eine Sozialdemokratisierung. Und doch merkt man, dass sich hier etwas tut und mit den Dimensionen des Protests an deutschen Unis kann Berkeley allemal mithalten.
"In Europe, everyone is more socialist."
Natürlich gibt es auch in Berkeley einige grundlegende Missverständnisse. Als in einem meiner Kurse gesagt wird, dass Europa schlichtweg sozialistischer sei als die USA, zucke ich zusammen. Ist mir doch keine Partei in Deutschland bekannt, die ernsthaft das Privateigentum abschaffen wollte. Und doch muss ich immerhin in drei meiner Kurse Marx lesen – mehr als in Berlin. Und doch tun sich natürlich gewisse Lücken auf: Würde ich mich in einem Berliner Spektrum verorten, wäre das sicherlich linksliberal. In Berkeley ist das klar der linke Rand. Als ich mich in einem Tutorium für die Abschaffung von privaten Schulen ausspreche, gibt es viele entsetzte Blicke und nur einmal klare Zustimmung.
Doch das sind nicht die Dinge, die mich aus meiner kleinen, liberalen Blase reißen. Vielmehr ist es das, was nicht hinterfragt wird. Zum Beispiel, warum das Verbot von Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit eigentlich keine Einschränkung persönlicher Freiheit ist. Warum Bars und Clubs um zwei Uhr nachts schließen müssen. Warum in Kalifornien noch immer die Todesstrafe verhängt wird. Warum allgemein angenommen wird, dass die Tötung Osama Bin Ladens der größte außen- und sicherheitspolitische Erfolg der Obama Administration ist. Und warum PazifistInnen eigentlich so oft mangelnder Patriotismus vorgeworfen wird.
Amphetamine als ’Study Aid’
Ansonsten merkt man doch sehr, dass amerikanische Colleges durchaus ein Vorbild für die Bologna-Reform gewesen sein dürften: wöchentliche Abgaben, Anwesenheitslisten und stramme Klausurphasen. Bei dem Lese- und Schreibepensum ist es nicht wirklich verwunderlich, dass das Amphetamin Aderall (eigentlich ein ADS-Medikament) zur Studi-Droge verkommt. In einer anonymen Umfrage in einem meiner Kurse gibt mehr als ein Drittel aller Studierenden an, im Schnitt nur fünf oder weniger Stunden pro Tag zu schlafen.
All das tut der Qualität in den meisten meiner Kurse jedoch keinen Abbruch. Selten habe ich in Deutschland derart motivierte Dozierende erlebt. Fragen während Vorlesungen werden nicht nur beantwortet sondern erwünscht und die Inanspruchnahme von Sprechstunden positiv bewertet. Die Discussion Sections (vergleichbar mit den deutschen Tutorien) leben vom stetigen Austausch (an dem sich dann tatsächlich die Mehrheit der Studis beteiligt). Und mit gutem Zeitmanagement lässt es sich sogar einigermaßen vermeiden, dass man gegen Mitte (es werden zweimal pro Semester Klausuren geschrieben) und Ende des Semesters nur noch von einer Abgabe zur nächsten hechelt. Dass in der Finalsweek alle Klausuren innerhalb von fünf Tagen geschrieben werden müssen, schlaucht schon auch sehr. Aber immerhin zieht sich die Arbeit so nicht noch wochenlang in die vorlesungsfreie Zeit hinein.
Doch selbst die letzte Klausurenphase ist jetzt schon fast drei Monate her; die Zeit in Kalifornien verging wahrlich wie im Flug. Die Menschen, die Stadt, die Uni, all das wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Ich habe hier mehr gelernt, als jemals zuvor. Über Kalifornien, über die USA, über Politik und VWL. Und vor allem über mich selbst. Und wenn es mich doch irgendwann einmal aus Berlin wegziehen sollte, wird San Francisco sicherlich die erste Option sein. Bis dahin bleibt mir immerhin eine gelegentliche Stunde zum Träumen bei Dolores.
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