Mehr Nöte durch BolognaStudieren mit Behinderung
Bei den meisten behinderten Studierenden sind Einschränkungen nicht so offensichtlich wie hier bei einem Rollstuhlfahrer.
Katrin Dinges studiert an der Humboldt-Universität in Berlin. Die 26jährige leidet unter dem Alström-Syndrom, einer Mehrfachbehinderung in Form von Blindheit, Schwerhörigkeit und weiteren körperlichen Einschränkungen. Ohne eine Mikroportanlage, die das Gesagte von Lehrkräften und Kommilitonen akustisch verstärkt, ist sie in einer Lehrveranstaltung aufgeschmissen. Allerdings benötigt der jeweilige Sprecher ein Mikrofon samt Sender. Und hier liegt das Problem: Ihr Dozent sei ja noch bereit, das Gerät zu nutzen, aber herumreichen an alle Beteiligten wolle er es nicht. Das halte ja den Unterricht total auf, und dann werde ihr eben freundlich vom Besuch des Kurses abgeraten, schilderte sie ihre Lage im Deutschlandfunk.
Dinges ist eine von mehr als 15000 Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit, die im Vorjahr an einer Online-Befragung des Instituts für Höhere Studien Wien (IHS) über ihre Belange bei Studienwahl, Studiendurchführung und Studienfinanzierung teilgenommen haben. Auftraggeber war das Deutsche Studentenwerk (DSW), Geldgeber das Bundesbildungsministerium (BMBF) und Unterstützer die Hochschulrektorenkonferenz (HRK). Die aus der Erhebung hervorgegangene Studie "beeinträchtigt studieren" ist die bislang umfassendste zu einem Thema, über das in der Regel eher geschwiegen wird.
Viele outen sich nicht
Das liegt auch an den Betroffenen selbst. Tatsächlich leiden acht Prozent der Studierenden in Deutschland an einer Behinderung oder chronischen Krankheit. Bei momentan rund 2,4 Millionen Hochschülern sind dies über 190.000. Allerdings ist ihr Leiden in 94 Prozent der Fälle für Dritte nicht auf Anhieb wahrnehmbar, bei knapp zwei Dritteln selbst nach längerer Zeit nicht. Das gilt gemäß der Untersuchung insbesondere für Menschen mit psychischen und chronisch-somatischen Krankheiten sowie solche mit Legasthenie und anderen Teilleistungsstörungen. Wer es von ihnen darauf anlegt, unerkannt zu bleiben, schafft dies relativ problemlos. In der Umfrage gaben so auch 44 Prozent der Befragten an, ihre Beeinträchtigung nicht preisgeben zu wollen.
Die verständliche Scham davor, sich zu outen, macht ihre Lage mitunter aber nur schwieriger. Ansprüche auf Nachteilsausgleiche im Studium oder bei Prüfungen werden vielfach nicht in Anspruch genommen. Dabei gäbe es allerhand Möglichkeiten: Beispielsweise lassen sich veränderte Prüfungsmodalitäten bewilligen, indem etwa eine Klausur wiederholt oder verschoben wird oder die Prüfungsbedingungen an die persönlichen Erfordernisse angepasst werden. Wer wegen seiner Einschränkungen das Leistungspensum pro Semester nicht bewältigen kann, hat sogar Anrecht auf einen individuellen Studienplan. Aber nur die wenigsten nehmen ihre Rechte wahr. Lediglich 27 Prozent der Befragten haben Anträge auf entsprechende Kompensationen gestellt, obwohl fast 60 Prozent sehr starke Studienerschwernisse angaben.
Mangel an Sensibilität
Für DSW-Präsident Dieter Timmermann ist das ein Beleg dafür, dass das Studieren ohne sichtbare Behinderung ein "Tabuthema an deutschen Hochschulen" ist. Bei der Vorstellung der Studie am Montag in Berlin mahnte er deshalb Schritte an, alle Betroffenen zu erreichen und individuell zu unterstützen. Viele glaubten, nicht anspruchsberechtigt zu sein, wollten ihre Krankheit verbergen oder lehnten eine Sonderbehandlung ab. Sie alle müssten ermutigt werden, "Beratungsangebote und rechtliche Kompensationsmöglichkeiten besser zu nutzen". Konkret fordert die Dachorganisation der 58 Studentenwerke in Deutschland daher einen Ausbau der Beratungsstellen, eine Flexibilisierung der Studien- und Prüfungsordnungen sowie eine "stärkere Sensibilisierung aller Beschäftigten an Hochschulen und Studentenwerken".
Der eingangs vorgestellten Katrin Dinges wird nicht immer mit dem nötigen Respekt begegnet. "Stehen sie einmal allein vor einem Dozenten, der sich weigert, ihnen zu helfen, und finden Sie dann noch die richtigen Worte. Es ist jedes Mal demütigend, diskriminierend und verschlägt einem die Sprache." (vgl. hier) So und ähnlich ergeht es offenbar vielen. Häufig werden Anträge auf Hilfe abschlagen, weil Lehrende nicht bereit sind, ihre Lernroutinen zu ändern, Nachteilsausgleiche als nicht vereinbar mit der Studienordnung angesehen werden oder die Beeinträchtigung schlicht nicht als Nachteil anerkannt wird. 40 Prozent gaben an, ihre Dozenten gingen auf ihre Bitten einfach nicht ein.
Mehr Nöte durch Bologna
Dabei sind ihre Probleme vielfältig und bisweilen vertrackt. 70 Prozent der Befragten haben Schwierigkeiten mit den zeitlichen Vorgaben der Studien- und Prüfungsordnung, 61 Prozent mit den organisatorischen Erfordernissen des Studiengangs, 63 Prozent bei der Gestaltung von Lehr- und Prüfungssituationen und 17 Prozent bei der Durchführung von Praktika und Exkursionen. Weiter erschwert hat sich ihre Situation durch die Umstellung auf die Studiengänge Bachelor und Master im Rahmen der Bologna-Reform. Beklagt werden die hohe Prüfungsdichte, die starre Abfolge von Modulen und vermehrte Anwesenheitspflichten.
Dazu kommen strukturelle, personelle und bauliche Defizite an den Hochschulen. Oft fehlt es an barrierefreien Zugängen zu Hörsälen und Seminarräumen, an speziell gestalteten Dokumenten im Internet, in Skript- oder gesprochener Form. Mangel besteht zudem an speziellen Ruhe- und Rückzugsräumen. Betroffene bedürfen zudem besonderer Ausleihbedingungen an den Bibliotheken, es braucht Vorleskräfte oder Gebärdensprachedolmetscher. Starke Nachfrage besteht nach Begleitangeboten der psychologischen Beratungsstellen sowie nach einer Campusverpflegung, die die Belange chronisch Kranker berücksichtigt. In vielen Fällen wird das vorhandene Angebot jedoch als "unzureichend" erachtet.
Wunschstudiengang verbaut
Das kann nachhaltige Folgen haben. Für viele spielt nämlich eine behindertengerechte Ausstattung und Ausgestaltung der Hochschule und ihres Studienangebots eine entscheidende Rolle, was und wo sie studieren. Bei fast der Hälfte der Befragten hat die persönliche Beeinträchtigung ihre Studienwahl maßgeblich beeinflusst. Im Mittelpunkt standen dabei die Studierbarkeit des Studiengangs sowie spätere Berufschancen. Immerhin neun Prozent sind aus beeinträchtigungsbedingten Gründen nicht in ihrem Wunschstudiengang gelandet.
Ob überhaupt oder wo studiert werden kann, ist natürlich auch eine Kostenfrage. Bei der Umfrage gaben 71 Prozent an, besondere studienbezogene Zusatzausgaben stemmen zu müssen, etwa für Kommunikationsassistenten, Mobilitätshilfen und andere technische Hilfen. Allerdings beziehen nur etwas mehr als zwei Prozent Sozialleistungen, die über Mittel aus Familienunterhalt oder BAföG hinausgehen. Für 15 Prozent ist der Lebensunterhalt nicht bzw. nur unzureichend gedeckt.
Politik geizt mit Geld
Auf dem Weg zur "Hochschule für alle" gibt es nach dem Urteil von DSW-Präsident Timmermann "noch viel zu tun". Die studienbegleitende Beratung müsse "ausgebaut, diversifiziert und gerade auf die Gruppe von Studierenden mit nicht-sichtbaren Beeinträchtigungen (...) ausgeweitet werden", verlangte er. Lediglich 24 Prozent der Betroffenen nähmen die Angebote in Anspruch. Das Geld für eine durchgreifende Besserung müsste allerdings die Politik liefern. Da sieht es indes mau aus. Nur einige wenige Bundesländer haben laut DSW im zurückliegenden Jahr ihre Zuschüsse an die Studentenwerke gesteigert. Der Trend gehe aber in die andere Richtung. 2010 betrug der Anteil der Landeszuschüsse an den Einnahmen der Studentenwerke nur knapp über zehn Prozent. Anfang der 1990er Jahre waren es noch über 24 Prozent. (rw)