Systemfehler beim dialogorientierten ServiceverfahrenZulassungschaos geht weiter
Ohne zentralen Abgleich (ein "Pilotbetrieb" mit wenigen Hochschulen wird da nicht helfen) bleibt es auch dieses Jahr leider dabei: Die Hochschulen werden in Bewerbungen geradezu ertrinken.
Es sollte der ganz große Wurf werden und bei der Zuteilung von Studienplätzen nicht nur hierzulande, sondern auch international neue Maßstäbe setzen. Und um das Projekt auch wirklich auf die Erfolgsspur zu bringen, machte die Bundesregierung mal eben 15 Millionen Euro locker. Aber wie so oft, wenn die Latte zu hoch gelegt und der Mund zu voll genommen wird, folgte auch in diesem Fall ein böses Erwachen. Eigentlich sollte das System mit dem sperrigen Namen "dialogorientiertes Serviceverfahren", kurz DoSV, im April des vorangegangen Jahres zum Einsatz kommen, nachdem bereits für 2010 ein geeignetes zentrales Onlineverfahren versprochen worden war, um den Widrigkeiten bei der Immatrikulation in Studienfächern mit Numerus clausus (NC) zu begegnen. Die Übergangslösung der Internetbörse freie-studienplaetze.de hatte jedenfalls keine wirkliche Verbesserung gebracht, trotzdem blieben schließlich tausende von Studienplätzen wegen der vielen Mehrfachbewerbungen auch nach allen Nachrückverfahren und Verlosungen unbesetzt.
Pleiten, Pech und Pannen
Aber statt endlich eine Lösung der Probleme herbeizuführen, setzte sich mit dem DoSV die Serie an Pleiten, Pech und Pannen nur nahtlos fort. Der Auftakt zum Wintersemester 2011/2012 musste wegen "Programmierfehlern" abgeblasen werden. Für eine ganze Reihe von Bachelor- und sämtliche Lehramtsstudiengänge war sie nicht zu gebrauchen. Seine volle Funktionsfähigkeit, auch im Falle von Fächerkombinationen, sollte das System erst später erlangen, hieß es. Viele Hochschulen setzten lieber weiter auf ihr eigenes Vergabeverfahren, solange die Technik noch unausgereift und nicht unfallfrei zu betätigen ist.
Das vorerst letzte Eingeständnis des Scheiterns folgte Mitte Dezember. Da verkündete die federführende Stiftung für Hochschulzulassung (Hochschulstart.de,), dass der Pilotbetrieb erst zum Wintersemester 2012/13 starten würde. "Ein vollständiges Erreichen der mit dem DoSV angestrebten Effekte" könne aber zum avisierten Termin "nicht gewährleistet werden", verlautete in einer Medienmitteilung. Um "mittelfristig eine flächendeckende Teilnahme zu realisieren", müsste zunächst eine fortschreitende Anbindung der Hochschulen "sukzessive zum Sommersemester 2013 bzw. Wintersemester 2013/14" vonstatten gehen. Im Klartext besagt dies: Das Ziel, alle Hochschulen ins Boot zu holen und einen reibungslosen Betrieb sicher zu stellen, wird wohl erst Mitte des laufenden Jahrzehnts umgesetzt sein, womöglich sogar noch später – wenn überhaupt.
Roulettespiel Studienzulassung
So weit, so schlecht – denn ein koordiniertes Vergabesystem tut bitter Not. Das war schon in der Vergangenheit so, aber niemals drückte der Schuh mehr als heute. Wegen der bestehenden Unzulänglichkeiten finden Hochschulen und Studierende erst in langwierigen Nachrückverfahren zueinander. Weil sich die Hochschulen ihre Studierenden inzwischen in über der Hälfte der Studiengänge selbst und nach eigenen Kriterien aussuchen können, gleicht das Bewerbungsverfahren einem Roulettespiel. Interessenten bewerben sich häufig in Serie, um am Ende wenigstens irgendeinen Studienplatz zu ergattern. Man nimmt das, was man kriegen kann, und sei es an der Hochschule der dritten, vierten oder zehnten Wahl. Es kommt aber auch vor, dass ein Anwärter den Zuschlag gleich mehrerer Hochschulen erhält. Genau hier wird es problematisch: Schlägt man bei einem Angebot zu, behalten die restlichen positiven Bescheide ihre Gültigkeit. Meldet man sich bei den entsprechenden Hochschulen nicht persönlich ab, können diese den Platz erst nach Ablauf der gesetzten Frist neu vergeben. Da die Hochschulen weder vom Aufwand noch von der Zeit her zu beliebig vielen Vergaberunden in der Lage sind (und eine Überbelegung auch unerwünscht ist), bleiben oft Plätze frei.
Die Praxis bringt viele Verlierer hervor. Die Hochschulen haben keine Planungssicherheit und vergeuden wertvolle Ressourcen, um die vakanten Plätze zu besetzen. Und nicht wenige Studierwillige bleiben im Bewerbungs- und Nachrückverfahren auf der Strecke, müssen ihre Zukunftspläne auf die lange Bank schieben oder gleich ganz aufgeben. Mehr denn je besteht diese Gefahr in heutigen Zeiten, in denen immer mehr junge Menschen an die Hochschulen streben und diese versucht sind, sich mit noch mehr Zugangs- und Zulassungshürden gegen den Ansturm zu wappnen (vgl. auch Was tun? Studieren in Zeiten der Überfüllung). Bei über 2,5 Millionen Studierenden und erwartungsgemäß noch mehr in den kommenden Jahren wird sich das Durcheinander im Zulassungsdickicht mit Sicherheit weiter zuspitzen.
Viele Köche verderben den Brei
Dabei waren die Verantwortlichen des DoSV angetreten, alles besser zu machen. Ihre Verheißungen lauteten Transparenz und Effizienz: Jeder Teilnehmer würde online nachvollziehen können, wie der Stand des Verfahrens ist und wie es um seine Chancen bestellt ist. Sobald eine Hochschule eine Zusage und der Bewerber sein Okay gibt, würde das System ihn automatisch von der Interessentenliste streichen, und alles wäre in Butter. Dass es nicht so läuft wie geschmiert, hat mit der technischen Komplexität des Unternehmens ebenso zu tun wie mit mangelnder Konzeption und Koordination sowie auch damit, dass sich die Beteiligten untereinander nicht unbedingt grün sind und eher gegen-, statt miteinander arbeiten.
Vor allem zeigt sich aber einmal mehr: Viele Köche verderben den Brei. Über allem steht die Stiftung für Hochschulzulassung, hervorgegangen aus der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS), die das Gesamtprojektmanagement innehat. In ihrem Stiftungs- und Aufsichtsrat sitzen Vertreter von Ländern und Hochschulen. Das Fraunhofer Institut für Rechenarchitektur und Softwaretechnik (FIRST) war für die Erstellung des Lastenhefts für Hochschulstart.de zuständig, das die Funktionen der Software umschreibt. Die Entwicklung der zentralen bundesweiten Software wurde der Telekom-Tochter T-Systems übertragen, die Finanzierung erfolgte durch den Bund. Dazu kommen noch relevante Anbieter von Hochschulsoftware wie die Hamburger Datenlotsen und, nicht zuletzt, die Hochschul Informations System GmbH (HIS), ein staatliches Unternehmen in Trägerschaft von Bund und Ländern.
Staatliche HIS als Sündenbock
Die HIS mit Sitz in Hannover ist es auch, die mittlerweile in der Diskussion um die anhaltende Misere als Sündenbock herhalten muss. Vor allem Thüringens Kultusminister Christoph Matschie (SPD) legte mächtig los und hielt dem Unternehmen Versagen vor. Es habe "Geld verschlungen, aber nicht geliefert", behauptete er und drohte damit, den Geldhahn zu zuzudrehen. Zuletzt setzte sich mit Annette Schavan (CDU) sogar die Bundesbildungsministerin an die Spitze der Ankläger und meinte, die HIS habe an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Die Hannoveraner sind der führende Anbieter von Hochschulverwaltungs-EDV und versorgen rund 200 Hochschulen mit ihren Produkten. Die Kritiker werfen dem Unternehmen vor, es bis heute nicht geschafft zu haben, ihre örtliche Software nicht mit dem zentralen DoSV kompatibel zu machen.
Bei der HIS will man sich den Schuh nicht anziehen. Man könne wenig dafür, dass die Politik eine herausragende Verbesserung versprach, ohne vorab zu prüfen, ob die neue Software mit den dezentralen Systemen der einzelnen Hochschulen kompatibel sind, äußerte sich HIS-Geschäftsführer Bernhard Hartung am Mittwoch gegenüber dem Hamburger Abendblatt. Und sein Kollege Martin Leitner erklärte vier Tage zuvor in Zeit Online, die formulierten Ziele stellten "eine Überforderung aller Akteure" dar und sein Unternehmen "hätte dies früher erkennen und darauf hinweisen müssen".
Systeme nicht kompatibel
Das Hauptproblem besteht darin, dass heute beinahe jede Hochschule ihre eigene HIS-Version im Einsatz hat, die individuell auf die jeweiligen Anforderungen zugeschnitten ist. Die Software wurde allerdings für die alten Diplomstudiengänge konzipiert und ist mit der Umstellung auf Bachelor und Master weitgehend überholt. Dass jetzt auch laut vernehmlich von den Hochschulen auf die HIS eingeprügelt wird, erscheint da ziemlich scheinheilig. Waren sie es doch, die stets individualisierte Lösungen eingefordert hatten und diese prompt aus Hannover geliefert bekamen. Und untätig waren die HIS-Forscher in der Zwischenzeit auch nicht gewesen: Wie das Unternehmen in einer Stellungnahme erklärte, lässt sich die neu entwickelte webbasierte Software-Generation HISinOne sehr wohl an das DoSV anbinden. Wollten die Hochschulen mitmachen, müssten sie sich das neue System jedoch erst beschaffen. Aber das kostet Geld, das die chronisch unterfinanzierten Hochschulen vielfach nicht haben und von den politisch Verantwortlichen nicht erhalten.
Auch mit ihren 15 Millionen Euro, die die Bundesregierung ins DoSV gesteckt hat, könnte sie geknausert haben – zumindest war das Geld wohl ziemlich einseitig verteilt. Das Gros der Mittel sei der Entwicklung des zentralen Portals Hochschulstart.de zugute gekommen und damit bei T-Systems gelandet, erfuhr Studis online von einem Insider, der beruflich mit der Einführung des DoSV befasst ist. Dagegen sei "deutlich zu wenig und zu spät" Geld zur Herstellung der Anbindungstauglichkeit der lokalen Software geflossen. Die HIS habe bis heute vom Bund und den Ländern "noch nicht einmal einen klar formulierten Entwicklungsauftrag und erst recht kein verlässliches Entwicklungsbudget".
HIS-IT vor der Privatisierung?
Aber warum ist das so? Als besagter Insider mit Studis Online erstmals Anfang November in Kontakt kam, machte er auf den Aspekt einer "gallopierenden Privatisierung der Hochschul-IT" aufmerksam. Eine Schlüsselrolle spielten dabei insbesondere die Hamburger Datenlotsen, die sich mit dem Image eines jungen Startup-Unternehmens als "fortschrittliche Alternative zum schwerfälligen Tanker HIS" aufbauten. Die Datenlotsen sind, wie oben geschildert, ein Akteur im DoSV-Prozess und vertreiben mit wachsenden Marktanteilen das System CampusNet. In einer Stellungnahme preist Geschäftsführer Stephan Sachse daseigene Produkt in den höchsten Tönen, um gleich darauf mit dem Finger auf die HIS-Konkurrenz zu zeigen: "Aus unserer Sicht ist dies ein erneuter Nachweis dafür, dass staatlich subventionierte IT-Infrastrukturdienstleistungen für Hochschulen nicht mehr geeignet sind, flexibel auf die heutigen Anforderungen an moderne IT-Systeme zu reagieren."
Nicht einmal eine Woche später wurde Sachse von höchster Stelle erhört. In einem Schreiben des Bundesbildungsministeriums an die Wissenschaftsministerien der Länder vom 22. Dezember, das Studis Online vorliegt, lässt Staatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen (CDU) die Katze aus dem Sack. "Als einer der insgesamt 17 Gesellschafter der HIS GmbH hält der Bund eine Privatisierung der HIS-IT für einen geeigneten Weg. Der Aufsichtsrat hat einvernehmlich entschieden, dass eine Unternehmensberatung die hierfür in Frage kommenden Optionen aufzeigt." Damit gibt das BMBF die Richtung für eine auf den 12. Januar terminierte Sitzung des HIS-Aufsichtsrats vor. Dabei soll im Rahmen einer Evaluierung festgestellt werden, ob die Technik und Handhabung der IT-Produkte den Anforderungen der Zeit noch genügen. Wird gegenteilig befunden, solle eine Privatisierung in Kürze auf den Weg gebracht werden.
Entstaatlichung von Staats wegen
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Staatsunternehmen von Staats wegen in private Hand überführt wird. Der Chef des HIS-Aufsichtsrats Peter Greisler ist zugleich der Ministerialdirigent im Bundesbildungsministerium (BMBF) und gilt als eine zentrale Figur bei der Demontage der HIS. Seiner rechten Tasche verweigere er Entwicklungsgelder, die er in seiner linken Tasche habe, sagte dazu der Studis Online-Informant. Für ihn ist der ganze Vorgang ein abgekartetes Spiel. Das vermeintliche HIS-Desaster bei der Einführung des DoSV sei von interessierter Seite öffentlich lanciert worden, "um den Laden sturmreif zu schießen". Man habe die HIS "ins offenen Messer laufen lassen".