Nicht nur, aber auch im Alltag funktionierenHandeln aus Sicht der Kritischen Psychologie
„Alternativlos“ war das Unwort des Jahres 2010. Es suggeriert das vollständige Fehlen von Handlungsmöglichkeiten innerhalb eines Entscheidungsprozesses und steht exemplarisch für die „Basta-Politik“ des Neoliberalismus. Beispielsweise stattete Angela Merkel viele ihrer Stellungnahmen, vor allem zur Europäischen Sparpolitik, mit diesem mächtigen Adjektiv aus, um ihre Politik durchzusetzen. Auch auf der Ebene individueller Entscheidungen hat sich bei vielen Menschen eine Art Resignation gegenüber den mangelnden Handlungsoptionen in der kapitalistischen Gesellschaft eingestellt – ganz zu schweigen von der Vorstellbarkeit alternativer politischer Systeme.
Gegen den Strom schwimmen
Die Kritische Psychologie richtet sich seit den frühen 80er Jahren des 20. Jahrhunderts, nahezu unbeachtet vom wissenschaftlichen Mainstream, gegen genau diese wahrgenommene Einschränkung von Handlungsalternativen und argumentiert, dass auf individueller Ebene die freien emanzipatorische Entscheidungen immer eine Option darstellen, ohne jedoch dabei strukturelle Handlungseinschränkungen außer Acht zu lassen und gesellschaftliche Missstände zu individualisieren. Von Klaus Holzkamp, dem Begründer der Kritischen Psychologie und ehemaligen Leiter des Psychologischen Instituts an der FU Berlin, stammt das Zitat: „Wissenschaft ist ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen, dabei vor allem auch gegen den Strom der eigenen Vorurteile, und in der bürgerlichen Gesellschaft zudem gegen die eigene Tendenz zum sich-Korrumpieren-Lassen und Klein-Beigeben gegenüber den herrschenden Kräften, denen die Erkenntnisse gegen den Strich gehen, die ihren Herrschaftsanspruch gefährden könnten.“
Kritische Psychologie
Da die Kritische Psychologie nicht (mehr) an Universitäten gelehrt wird, haben sich in vielen Städten Initiativen und Lesekreise gebildet, in denen sich Studierende und andere Interessierte selbstständig die Kritische Psychologie aneignen. Für weitere Infos siehe www.kritische-psychologie.de.
Die gängige psychologische Forschung beschreibt menschliches Verhalten in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, d. h. das Verhalten wird als eine Auswirkung von bestimmten Faktoren (z. B. genetische Veranlagung oder Umweltreize) dargestellt. Die Kritische Psychologie stellt dieser Ansicht das Konzept eines Bedeutungs-Begründungs-Zusammenhangs entgegen. Innerhalb dieses Zusammenhangs wird die aktive Auseinandersetzung des handelnden Subjekts mit seiner Umwelt anerkannt, d. h. die handelnde Person setzt sich zu ihrer Umwelt in Beziehung und kommt so zu einer Entscheidung, die funktional auf die individuellen Beweggründe zurückzuführen ist. Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen:
Ein 32-jähriger alleinstehender Büroangestellter ist aufgrund seiner Arbeitssituation verzweifelt. Er hat bereits zwei Abmahnungen von seinem Chef wegen angeblich mangelnder Motivation erhalten und läuft Gefahr seinen Arbeitsplatz zu verlieren, wenn er nicht die von seinem Vorgesetzten verlangten täglichen Überstunden ableistet. Laut Aussage des Chefs gibt es genug Bewerber, die bereit wären, diese geforderten Leistungen zu erbringen. Sein Leben ist geprägt von Antriebslosigkeit, gesteigerter Reizbarkeit und Niedergeschlagenheit. Weil seine psychische Situation seinen beruflichen Erfolg gefährdet, sucht er eine Therapeutin auf.
Kooperativ Handeln
Eine gängige psychologische Erklärung wäre die Rückführung der Symptome auf bestimmte Dispositionen der Persönlichkeit, z.B. auf mangelnde Strategien zur Stressbewältigung oder auf ein Ungleichgewicht von Anforderungen und Ressourcen. Eine entsprechende therapeutische Maßnahme wäre das Training solcher Bewältigungsstrategien.
Eine subjektwissenschaftliche Analyse, ein Erklärungsversuch aus Sicht der Kritischen Psychologie, würde versuchen zu verstehen, für welche Handlung sich der Betroffene, aus dem Wissen über seine Situation, begründet entscheidet. Es wäre möglich, dass die Symptome für den Betroffenen eine Möglichkeit darstellen, seine eingeschränkte Handlungsfähigkeit auszudrücken. In einer Arbeitswelt, in der zwischenmenschliche Beziehungen vor allem im Kontext einer Kosten-Nutzen-Optimierung stattfinden, ist wenig Raum für kooperatives Handeln.
Geltung kann nur dadurch erlangt werden, dass man die eigene Situation auf Kosten anderer verbessert (zum Beispiel im Konkurrenzkampf um Arbeitsstellen oder Beförderungen). Wenn man diese Kosten nicht in Kauf nehmen will und gleichzeitig keine Alternativen sieht, kehrt besagte Resignation ein, die z. B. ein Grund für gesteigerte Reizbarkeit oder auch Niedergeschlagenheit sein könnte. Aus Sicht der Kritischen Psychologie gibt es zur Analyse der je subjektiven Begründung-Bedeutungszusammenhänge die begriffliche Unterscheidung von zwei grundsätzlichen Handlungsrichtungen. Holzkamp unterscheidet zwischen der „...Restriktive[n] Handlungsfähigkeit als individuell-unmittelbare Bedürfnisbefriedigung und [der] verallgemeinerte[n] Handlungsfähigkeit als gemeinsame Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten.“
Möglichkeiten erweitern
Ferienuni Kritische Psychologie (16. - 20.09.2014)
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Der Holzkamp’sche Begriff der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit beschreibt eine der wesentlichsten, den Menschen konstituierenden Eigenschaften – eine der Grundlagen für seine gesellschaftliche Natur. Angenommen der Angestellte begibt sich in eine therapeutische Behandlung, deren Ziel es ist, seine Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen und ihm Mittel und Wege in die Hand gibt, um in zukünftigen Situationen bewältigend auf eine solche Behandlung zu reagieren, so ist das eine restriktive Handlung, weil sie der Befriedigung seiner unmittelbaren, individuellen Bedürfnisse (Bezahlung, Aufrechterhaltung seines gesellschaftlichen und beruflichen Status) dient.
Eine verallgemeinerte Handlung wäre es, wenn er sich gemeinsam mit seinen Kollegen, insofern sie sich ebenfalls einer solchen Unterdrückung ausgesetzt sehen, in einer Gewerkschaft engagiert bzw. organisiert, um dem anhaltenden Druck von Seiten des Arbeitgebers im Sinne einer „gemeinsame[n] Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten“ (vgl. oben) etwas entgegenzusetzen. Restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus. Menschen sind in kapitalistischen Verhältnissen immer gezwungen, auch restriktiv zu handeln.
In einer Zeit, in der Konkurrenzfähigkeit zu gesellschaftlicher Geltung führt, liefert die Kritische Psychologie Argumente dafür, dass es eben nicht ein Gegeneinander im Sinne eines fehl-interpretierten „survival of the fittest“, sondern Eigenschaften wie Kooperation waren, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind: gesellschaftlich handelnde Menschen.
Zu den Autoren
Felix Blind, Eric Sacher und Eileen Wengemuth engagieren sich in der Initiative Kritische Psychologie in Marburg. Die Seite kp-marburg.de ist nicht mehr online – dafür findet sich folgender Instagram-Account Initiative Kritische Psychologie Marburg.
Zum Weiterlesen:
- Morus Markard: Einführung in die Kritische Psychologie. Argument Verlag 2009
- Klaus Holzkamp: Grundlegung der Psychologie. Campus Verlag 2003
- Stefan Meretz: Die 'Grundlegung der Psychologie' lesen: Einführung in das Standardwerk von Klaus Holzkamp. Books on Demand 2012 (auch online zu lesen unter www.grundlegung.de).