Prekariat zunehmend auch im Bildungsbereich"Dann nehmen Sie halt mehr Ehrenamtliche!"
Von Jürgen Amendt
Es sind hoch qualifizierte Fachkräfte mit akademischem Abschluss, die oft am Rande des Existenzminimums arbeiten. Ein Trend, der gestoppt werden muss – nicht nur im Interesse der Beschäftigten. Einen Verlust an Qualität in der Bildung kann sich Deutschland nicht leisten.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst in der Erziehung und Wissenschaft 4/2007 der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Wir danken der GEW und dem Autoren für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen. Hinweise: * Namen von der Redaktion geändert. **PEKiP ist die Kurzbezeichnung des Prager-Eltern-Kind-Programms und bezieht sich auf den Prager Psychologen Jaroslav Koch, der in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts Bewegungsübungen zur Entwicklungsförderung für Kleinkinder entwickelte |
Seit Ende Februar arbeitet Jitka Stuck an einer verbundenen Haupt- und Realschule im Stadtteil Neukölln. Die Casting-Idee des neuen Bildungssenators Jürgen Zöllner (SPD) stieß in der Öffentlichkeit auf wohlwollendes Echo – zunächst, bis sich herausstellte, dass die Lehrer nur als Feuerwehr eingesetzt werden sollen und ihr Anstellungsvertrag mit Beginn der Sommerferien ausläuft.
Oder noch früher, wie Jitka Stuck fürchtet. In ihrem Vertrag steht nämlich, dass sie an dem Tag ihren Schreibtisch räumen muss, wenn die erkrankte Kollegin wieder gesund an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt. "Eine makabre Situation", sagt Stuck, "ich muss also froh sein, wenn die Kollegin länger krank bleibt." Was nach den Sommerferien wird, weiß sie noch nicht. Das kleine Fünkchen Hoffnung, dass irgendwo eine Stelle als Lehrerin frei wird, bleibt.
"Eine vernünftige Unterrichtsplanung ist unter solchen Bedingungen natürlich nicht möglich", sagt Jitka Stuck zu dieser Ex-und-Hopp-Einstellungspolitik. "Die Kinder fragen mich fast jeden Tag, wie lange ich denn noch bleiben werde." Oft sitze sie am Wochenende auf der Wohnzimmercouch und grüble darüber nach, ob es überhaupt noch Sinn macht, sich intensiv auf die kommenden Wochen vorzubereiten. Die Englischlehrerin sieht sich als Lückenbüßerin für eine verfehlte Einstellungspolitik des Senats und sie weiß von anderen Kolleginnen und Kollegen, die das vom Senat als Chance angepriesene Angebot nicht angenommen haben. "Die gehen lieber an eine Privatschule. Da verdienen sie zwar weniger, dafür stimmt dort meist das Lern- und Arbeitsklima."
Es sind vor allem junge Lehrerinnen und Lehrer, die an den Berliner Schulen als Reservisten eingesetzt werden sollen. Wobei die Bezeichnung "Reservisten" keineswegs eine sprachliche Übertreibung ist. Peter Sinram, Pressesprecher der Berliner GEW, berichtet von einer Lehrerin, die nach dem Casting zur Schule bestellt wurde, um ihren Vertrag zu unterschreiben. Dort habe man der jungen Kollegin mitgeteilt, dass sich die Sache erledigt habe; die erkrankte Lehrerin sei wieder gesund. Kaum daheim angekommen, habe bei der "Reservistin" dann erneut das Telefon geklingelt, sie solle doch noch kommen, da justement ein Lehrer einen Hörsturz erlitten habe und auf unbestimmte Zeit ausfalle.
Das Schicksal Jitka Stucks ist beispielhaft für eine relativ neue Entwicklung, die zunehmend den gesamten Bildungssektor erfasst. Längst ist auch die Mittelschicht von der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse betroffen, sagt Berthold Vogel vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Die "Fragilität und Unsicherheit von Beschäftigten halte selbst in die stabilen Kernbereiche der Arbeitsgesellschaft Einzug", also auch in die öffentlichen Dienste. "In der Erwachsenenbildung und der Kleinkindpädagogik ist das schon länger zu beobachten." Viele Erzieherinnen und Weiterbildner hätten sich hier bereits "mit der Situation der permanenten Unsicherheit arrangiert", sagt der Sozialwissenschaftler, der befürchtet, dass diese Entwicklung auf die Schulen übergreift.
Zeichnung (c) Thomas Plaßmann Working poor? |
Schule als Unternehmen
So hält es Vogel durchaus für möglich, dass Schulleitungen sich künftig aus Gründen knapper Kassen dafür entscheiden, die Nachmittagsbetreuung an ihren Einrichtungen an private Bildungsfirmen zu vergeben, die eigene Kräfte zu deutlich schlechteren Konditionen als der Staat beschäftigen. Die Schule als Unternehmen, das könnte dann – analog zu entsprechenden Entwicklungen in der Großindustrie – heißen: Das "Kerngeschäft" macht das qualifizierte und relativ gut besoldete Stammpersonal, der Rest wird von einer unterbezahlten und sozial mangelhaft abgesicherten "Randbelegschaft" erledigt. Die Prekarisierung der Arbeitswelt könnte so auch jene erreichen, die sich bislang auf der sicheren Seite wähnten.
Weiterbildung: nichts Neues
Beispiel Erwachsenenbildung: Für den Schulbereich mögen solche Verhältnisse relativ neu sein, in anderen Sektoren des Bildungswesens existieren sie schon seit langem. So genannte atypische Beschäftigungsverhältnisse sind laut Lutz Bellmann vom Nürnberger Institut für Arbeits- und Berufsforschung (IAB) nichts Neues.
Bereits Anfang der 70er-Jahre begann in der alten Bundesrepublik die Erosion traditioneller, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse. Es waren die Niedrigqualifizierten und Ungelernten, die als erste davon betroffen waren. Noch sei das pädagogische Personal innerhalb des Prekariats deutlich unterrepräsentiert, betont der Arbeitsmarktforscher. Die sozialwissenschaftliche Forschung stehe deshalb erst am Anfang, gesichertes statistisches Datenmaterial fehle vor allem für den Bereich der Beschäftigten in den Schulen.
Anders sieht es dagegen bei der beruflichen Weiterbildung, aber auch im Hochschulsektor aus. An Hochschulen haben laut Bellmann die so genannten "atypischen" Beschäftigungsverhältnisse deutlich zugenommen. Zurückzuführen sei dieser Trend auf die veränderte Arbeitsmarktpolitik, sagt Bellmann. Bildungsmaßnahmen der beruflichen Weiterbildung beispielsweise würden durch die Arbeitsagenturen immer seltener gefördert. "Und wenn, dann sind es zeitlich eng befristete ,Fastfood-Kurse‘, für die man auch Aushilfskräfte einsetzen kann." Oft buchten die Agenturen Kursleiter nur noch "nach Bedarf".
Einer dieser Kursleiter ist Jens Thomas. Der Diplom-Soziologe ist als Dozent gleich bei drei Bildungsträgern beschäftigt. Der 31-Jährige verdient einigermaßen gut, wie er betont, hat aber auch keine großen Ausgaben, da er keine Familie hat. Jens Thomas kennt aber auch die Nachteile einer solchen "Selbstständigkeit": "Man muss immer verfügbar sein, eine Zukunftsplanung ist kaum möglich." Also auch kein Gedanke an Familiengründung. "Eigentlich arbeitet man immer, denn die Konkurrenz ist groß, und was im Alter wird, daran mag ich jetzt noch gar nicht denken."
An den Unis: Gutsherrenart
Beispiel Hochschule: Bei einer Untersuchung der Soziologin Irmtraud Schlosser von der Freien Universität Berlin zur Arbeits- und Lebenssituation von Lehrbeauftragten vom November 2006 gaben 72 Prozent der Befragten an, sich um ihre finanzielle Situation im Alter Sorgen zu machen, erlebten ihre Lebenssituation also als prekär. "Mit gutem Recht", meint Schlosser, denn ein Viertel der Lehrbeauftragten der Berliner Unis sei nicht rentenversichert, sechs Prozent besäßen nicht einmal eine Krankenversicherung. Anders als noch vor einigen Jahren üben viele Befragte die Lehrtätigkeit nicht mehr im Nebenberuf aus, sondern als Haupttätigkeit (46 Prozent).
"Der Rechtsanwalt, der nebenher als Lehrbeauftragter dem Nachwuchs die Erfahrungen aus der Praxis näher bringt, ist ein Auslaufmodell", meint der Hochschulreferent der Berliner GEW, Matthias Jähne. Stattdessen müssten sich heute Jungakademiker als Aushilfsprofessoren verdingen. Die Verträge würden von den Unileitungen nach Gutsherrenart geschlossen oder gekündigt. Ein "feudalistisches Prinzip", kritisiert Jähne.
Knapp 62 Prozent dieses neuen akademischen Prekariats muss mit Nettohonoraren von unter 1000 Euro monatlich auskommen. Die soziale und emotionale Unsicherheit hat direkte Auswirkung auf die Lebensplanung der Befragten: Zwei Drittel leben in einem Haushalt ohne Kinder. Für die Mehrheit dieser Gruppe dürfte das Kapitel Kinderkriegen bereits abgeschlossen sein: 52 Prozent der befragten Lehrbeauftragten sind zwischen 36 und 50 Jahre alt.
Jugendhilfe: schlecht bezahlt
Beispiel Familienbildung: Ulrike Stephan leitet das Zentrum "Familie und Nachbarschaft" (FuN), eine Einrichtung der Familienbildung im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Die 42-jährige Diplom-Pädagogin ist die einzige in der Einrichtung mit einer festen Stelle, alle anderen Kräfte – Sozialpädagoginnen, Sozialarbeiterinnen und Musikpädagoginnen –sind auf Honorarbasis tätig – und für die meisten ist es nur einer von mehreren Jobs. Viele arbeiten als PEKiP**-Kursleiterinnen.
In diesen Kursen (Prager-Eltern-Kind-Programm) geht es darum, Eltern für die psychosozialen und physischen Bedürfnisse von Babys zu sensibilisieren und möglichen Defiziten in der motorischen Entwicklung vorzubeugen. "Damit leisten wir einen Beitrag für die Schaffung sozialer Netze junger Familien, aber auch zur frühkindlichen Bildung", erklärt eine der Kursleiterinnen, die 41-jährige gelernte Sozialarbeiterin Claudia Krause*.
Rund 4000 Euro hat Claudia Krause privat in die Fortbildung zur PEKiP-Kursleiterin gesteckt, für die ein abgeschlossenes pädagogisches Studium Voraussetzung ist. Das Honorar aber fließt nur spärlich. Rechnet sie alles zusammen, kommt sie bei vier bis fünf Kursen die Woche auf rund 500 Euro im Monat – vor Abzug der Steuern. Hielte sie mehr Kurse, würde darunter die pädagogische Qualität ihrer Arbeit leiden.
Auch Michaela Schäfer* gibt PEKiP-Kurse im FuN. Eigentlich ist sie Diplom-Pädagogin mit Schwerpunkt Erwachsenenbildung. Doch in diesem Beruf hat die 54-Jährige nie gearbeitet. Jahrelang jobbte sie als Erzieherin in einem Kinderladen. "Wenn ich krank bin, dann verdiene ich eben kein Geld", beschreibt die allein erziehende Mutter zweier Kinder ihre jetzige Situation. Wenn sie entscheiden könnte, dann würden Frauen wie sie soviel verdienen wie eine Lehrkraft. "Ich turne mit den Kindern ja nicht nur rum, sondern vermittle Werte und Bildungskompetenzen", betont sie.
Doch die Aussichten, dass sich der Traum Michaela Schäfers erfüllen wird, sind schlecht. Seit Jahren sind die Zuschüsse für das FuN nicht erhöht worden. Dass Mitarbeiterinnen wie die Einrichtung, in der sie lehren, seit Jahren am Rande der Existenz leben müssen, hat für die Leiterin des FuN-Projektes, Ulrike Stephan, Methode. Wenn sie beim Träger darüber klagt, heißt es: "Dann nehmen Sie halt mehr Ehrenamtliche."
Literaturtipp
Privatisierungsreport 3: GEW (Hrsg.): Unternehmen Schule: Von Billig-Lehrern, Schülerfirmen und Public Private Partnership. Frankfurt a.M., 2007.
Die Broschüre kann im GEW-Shop (www.gew-shop.de, Fax 06103/30332-20), Mindestbestellmenge: zehn Stück, Einzelpreis 1,50 Euro, Preise zuzüglich Verpackungs- und Versandkosten von zurzeit 6,96 Euro brutto.
Download im Internet:
www.gew.de/Dritter_GEW-Privatisierungsreport_erschienen.html