Studieren für den Arbeitsmarkt?Fachkräftemangel und Studienwahl
Das Interview führte Jens Wernicke
Studis Online: Herr Weegen, gibt es nach Ihrer Meinung, den vielbeschworenen Fachkräftemangel im Lande, oder gibt es ihn nicht?
Welches Studium wähle ich? Folge ich meinen Interessen? Orientiere ich mich an Berufschancen?
Michael Weegen: Wie so vieles andere auch, ist dies eine Frage der Perspektive und diese muss hierbei sowohl den Ausbildungssektor als den akademischen Bereich mitbetrachten. Strukturell haben sich dabei allein vom Jahr 2000 an die Verhältnisse stark verändert: auf zwei Ausbildungsverträge kam im Jahr 2000 ein Studienanfänger, aktuell bewegt sich die Relation hingegen auf eins zu eins zu. Verfolgt man diese Gesamtentwicklung über lange Zeitreihen, ist nicht auszuschließen, dass die Expansion im Hochschulwesen schließlich auch zu einer Übersteuerung führen könnte. Es könnten temporär somit zu viel Akademiker ausgebildet werden.
Mit Blick auf den so genannten ‚Akademikerzyklus‘ - dieser meint das Auf und Ab von Studentenströmen in Deutschland -, würde es sich dann um die fünfte Welle handeln. Seit 1780 wäre es dann das fünfte Mal, dass sich eine Überfüllungssituation mit Blick auf das Akademikerangebot entwickelt. Ich bin mir da aber vor dem Hintergrund der demographischen und migrationsbedingten Faktoren in Deutschland nicht sicher. Gesichert ist aber, dass es für Akademiker genauso wenig einen einheitlichen Arbeitsmarkt wie für Auszubildende gibt. Und von daher gibt es auch keinen pauschalen Fachkräftemangel und es wird ihn auch nicht geben. Von großer Bedeutung sind daher auf jeden Fall die Perspektiven auf den einzelnen Teilarbeitsmärkten, also die Berufsaussichten im Kontext der unterschiedlichen fachlichen Profile.
Welche Funktion erfüllt das von Ihnen initiierte „Informationssystem Studienwahl und Arbeitsmarkt“ (ISA)? Worum geht’s?
Nun, ISA gibt Studienberechtigten und Studierwilligen Informationen über die quantitative Entwicklung von Studienangeboten sowie zur Erwerbstätigenentwicklung.
Die Daten stammen aus der Hochschulstatistik, der Arbeitsmarktstatistik und dem Mikrozensus. Über einen mittelfristigen Zeitraum von fünf bis sieben Jahren lassen sich damit Perspektiven erfassen, die vor allem mit Blick auf einen erfolgreichen Berufseinstieg von hoher Relevanz sind. Man weiß quasi, was sich gerade in der Pipeline befindet.
Die daraus ableitbare Bandbreite und Orientierung gibt dann Auskunft darüber, ob sich Bereiche eher verdunkeln oder aufhellen. Auf der anderen Seite verschieben sich die Strukturen und Profile sowohl am Arbeitsmarkt als auch im Hochschulsektor. Für die an den Hochschulen erworbenen Abschlüsse und Fächer finden sich am Arbeitsmarkt nur bedingt passgenaue Aufnahmemöglichkeiten. Nicht nur aus inhaltlichen Gründen sondern auch wegen der Nachfrage strukturieren sich Fächer immer wieder um. Ein Stichwort hierzu ist beispielsweise auch „Interdisziplinarität“. Aber das sind langwierigere Prozesse. Von daher sind langfristige und treffsichere Prognosen aufgrund der Arbeitsmarktdynamik und auch zu erwartender globaler Verwerfungen recht schwierig zu operationalisieren.
Informationssystem Studienwahl und Arbeitsmarkt (ISA)
Mit der Fülle von Entscheidungen, die junge Menschen heute im Hinblick auf ein zukünftiges Studium treffen, hat sich ihr Informationsbedarf erhöht. Ganz erheblich richtet sich ihr Interesse auf die Entwicklung der Studienangebote und auf die sich für Hochschulabsolventen bietenden Beschäftigungsperspektiven des Arbeitsmarktes.
Im Bereich der Hochschulstatistik und der Arbeitsmarktforschung gibt es Jahr für Jahr eine Flut von Daten, die für Fragen nach der Entwicklung von Fächern und Erwerbstätigkeit einen wertvollen Informationsgehalt haben. Die Zielsetzung von ISA besteht darin, diese Daten übersichtlich und adressatengerecht nach einer speziellen Systematik und Auswertung zusammenzustellen, um ein hohes Maß an Orientierungsmöglichkeiten zu geben.
ISA will damit primär Schülern, Studienberechtigten und Studierenden - aber auch Lehrenden und anderen Hochschulinteressierten - internetseitig überschaubare datengestützte Informationen zur Studienwahl der am meisten nachgefragten Fächer anbieten und darüber hinaus mit Blick auf deren Arbeitsmarktperspektiven weiterführende Informationen geben.
Homepage von ISA: www.isa-info.de
Und was unterscheidet Ihre Analyse und Perspektive von den anderweitig bereits schon vorhandenen „Engpassanalysen“ und sonstigen Untersuchungen zum Thema?
Mit Blick auf die zukünftige Bedarfssituation von Akademikern in Deutschland sind in jüngerer Zeit verschiedene Studien und Projektionen und Prognosen mit unterschiedlichen Resultaten erschienen. Die Studien fokussieren oftmals gegenwärtige Anforderungen und gelangen in der Regel für ganz bestimmte Berufsfelder wie zum Beispiel Energie und Elektro sowie Maschinen- und Fahrzeugtechnik zu Engpassaussagen. Oftmals gehen Studien auch von verschiedenen Trendfortschreibungen aus, die in ihrer Wirkungsstärke variieren und man nimmt weiter bestimmte Wechselwirkungen an. Vor diesem Hintergrund werden Szenarien in Bezug auf Arbeitskräfteangebot und -nachfrage entwickelt und schließlich bilanziert. Diese Bilanzierung erfolgt auch nach Branchen, wobei der Fokus langfristig auf Szenarien der Arbeitsmarktlandschaft der nächsten zwanzig Jahre gelegt wird. Die Modelle sind transparent und nachvollziehbar, aber ob sie zutreffen werden, bewegt sich in einer ganz anderen Dimension.
Aber jetzt kommen wir zu ISA: Vor dem Hintergrund, dass der Gesamtbedarf unbestritten groß ist, aber nach Bandbreiten durchaus sehr unterschiedlich eingeschätzt wird, stehen hier wie oben bereits erwähnt unter mittelfristiger Perspektive die zu erwartenden Absolventenströme des Hochschulsektors nach Fachrichtungen im Fokus. Gibt es sehr starke Disparitäten und Verwerfungen? Oder werden Fächer, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Durchsetzung gestufter Studienprofile, deren Absolventen z.T. bisher schon Schwierigkeiten beim Einstieg hatten, ihre Absolventenzahlen in näherer Zeit noch stark erhöhen? Vor dem Hintergrund der Befunde, dass man einschätzen kann, wie groß das ungefähre Absolventenpotential einzelner Fächer in einigen Jahren sein wird, und unter Heranziehung weiterer Indikatoren wie beispielsweise Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit erfolgt dann eine entsprechende Quantifizierung und Orientierung.
Und welche Vorhersagen lassen sich anhand dieser Daten seriös machen? Wie wenig man sich auf die „Sicherheit“ einer auf diesen Grundlagen getroffenen Studienwahl verlassen könne, gestand unlängst selbst einer der bedeutendsten wirtschaftsnahen Ökonomen, Thomas Straubhaar, im SPIEGEL-Interview.
Michael Weegen, Dr. phil., Bildungswissenschaftler und Hochschulplaner; zwölfjährige administrative Tätigkeit als Sachgebietsleiter/ Dezernent i.V. für Hochschulplanung, Statistik und Strukturentwicklung; seit 1999 Gründer und Leiter von ISA an der Universität Duisburg-Essen.
Klar, niemand kann Hellsehen! Richten wir den Fokus einmal zwanzig Jahre zurück: Da gehörten der Cyberspace und die internetbasierten Dienste zum Science Fiction Genre.
Will sagen: Eine Vervierfachung der Informatikeranfängerzahlen und einen derartigen Hype der Branche hätte damals kaum jemand für wahrscheinlich gehalten. Hinzu kommt noch, dass antizyklische Verwerfungen mit Blick auf die Studiennachfrage die Hochschulen seit eh und je durchziehen. Wir haben das bei den Lehrern erlebt und auch bei den Ingenieuren in den achtziger Jahren. Aber dann kam die Wiedervereinigung. Sie löste nicht zu erwartende Prozesse auf dem Akademikerarbeitsmarkt aus. Wer sich vorher entschied, antizyklisch zu studieren, lag auf einmal voll im Trend.
Ist es denn nach wie vor so, dass Medizin, Jura und vor allem Ingenieurwesen die „sichersten Perspektiven versprechen, was den Arbeitsmarkt angeht?
Die von Ihnen angesprochenen Fächer zeigen zunächst mit Blick auf die entsprechenden Teilarbeitsmärkte stärkere beziehungsweise mittlere Kohärenzen: Medizinabsolventen werden in der Regel Ärzte. Juristen sind hingegen auf klassischen Teilarbeitsmärkten aber auch in ganz anderen Bereichen tätig. Bei den Humanmedizinern ist für den mittelfristigen Zeitraum die Perspektive eindeutig positiv.
Die Ingenieure sind als Gruppe nicht homogen und zudem stark diversifiziert. Sie haben aber überwiegend positive Aussichten. Das ist bei anderen Fächern nicht unbedingt durchgängig der Fall. Bei den Juristen wird sich positiv auswirken, dass die Anfängerzahlen nicht stark gestiegen sind und sie zudem von der IT-Branche zunehmend nachgefragt werden. Gleichzeitig haben sie ihre Strukturen vornehmlich an Fachhochschulen neu ausgerichtet und das stark arbeitsmarktorientiert. Mit Blick auf die Vergangenheit muss man insofern konstatieren, dass sich ein Studium bisher in Bezug auf ein ganzes Erwerbsleben in der Regel gelohnt und auch ausgezahlt hat.
Und wie sind die Trends in anderen Bereichen? Was gibt es an Verallgemeinerbarem und Speziellem in Bezug auf einzelne Studienbereiche und Teilarbeitsmärkte?
Durch den Bologna-Prozess ist die oben angerissene Entwicklung beschleunigt worden. In einem Fach wie beispielsweise Psychologie führt das nun jedoch zu einem anderen Ergebnis: Innerhalb von zehn Jahren haben sich die grundständigen Anfängerzahlen durch den Wegfall der Diplomstudiengänge und die Einführung des Bachelors nahezu verdreifacht. Für die späteren Absolventen hat dieser Anstieg mit Sicherheit Konsequenzen in Bezug auf die Arbeitsmarktperspektiven in fünf oder sieben Jahren. Der immer wieder politisch beschworene zukünftige Belastungsrückgang der Hochschulen könnte so durch einen Run auf die Masterplätze konterkariert werden.
Welche Bereiche weisen aktuell welche Entwicklungen auf? Bitte skizzieren Sie doch die prognostizierten Arbeitsmarktaussichten auf drei oder vier Teilarbeitsmärkten…
Die Wirtschaftsingenieure werden trotz großer Studienanfängernachfrage strukturell bedingt zukünftig gut am Arbeitsmarkt aufgestellt sein.
Verwaltungswesen bleibt nach wie vor - bei entsprechendem Abschluss - aufgrund der "Einstellungsgarantie" bei Justiz, Polizei und Verwaltung eine sichere Bank.
Und mit dem endgültigen Abschied vom Diplom-Psychologen und der damit einhergehenden Nachfrageöffnung werden sich in dem hier in Rede stehenden Zeitraum auf keinen Fall Verbesserungen ergeben. Die Positionierung des Bachelorpsychologen am Arbeitsmarkt bleibt unklar.
Wer mehr über die Entwicklung wissen will, kann sich bei ISA weiter vertiefen.
Hand aufs Herz, würden Sie Ihren eigenen Kindern raten, anhand vor allem solcher Entwicklungen ihre Studienwahl zu treffen?
„Realisiert, soweit ihr könnt, eure Neigungen und euer Potential!“, würde ich ihnen raten. Denn entscheidet man sich bewusst gegen seine Neigungen und richtet sich einseitig nach Karrieretrends, ist die Wahrscheinlichkeit, ein glücklicher Mensch zu werden, sicherlich erheblich geschmälert. "Es gibt aber auch viele „Eingrenzer“ und „Abwäger“, denen die eigene Neigung zwar noch bewusst ist, für die diese aber eben nicht die entscheidende Rolle spielt. Und ich sehe in den letzten Jahren auch immer mehr „Abwähler“, die machen, was am Ende übrig bleibt von dem was sie nicht wollen oder können. Hier empfehle ich, noch mehr als bei den anderen auch, einen professionellen Beratungsprozess anzusteuern. Und mit Blick auf die Facette Arbeitsmarktperspektiven habe ich auch meinen Kindern in diesem Prozess ISA empfohlen."
Quellen zum Weiterlesen