Zurückhaltend bewerben?Selbstmarketing für Introvertierte
Von Turid Müller
1. Die Welt will uns laut – oder?
„Es ist nachvollziehbar, dass viele Introvertierte sich vor sich selbst verstecken. Wir leben in einem Wertesystem, das vom 'Ideal der Extraversion' geprägt ist (...), dem allgegenwärtigen Glauben, der Idealmensch sei ein Alphatier und fühle sich im Rampenlicht wohl.“
(Cain, 2013)
Unsere Welt ist wie gemacht für Extrovertierte: Selbstvermarktung gehört inzwischen in jedem Beruf und bereits in Schule und Studium zu den Softskills, die im Köcher des Erfolgs nicht fehlen dürfen. In Assessment Centern und Bewerbungsgesprächen stechen die heraus, die von sich reden machen. Und auch bei Networking und Öffentlichkeitsarbeit braucht es einige Offensive, um sichtbar zu werden. So ist es kein Wunder, dass häufig diejenigen weiter kommen, die am meisten Bohei um sich machen, während die Stillen zurück bleiben.
Doch ob wir es zulassen, dass diejenigen an uns vorbei ziehen, die weniger drauf haben aber lauter schreien, liegt in unserer Hand: Auch für Introvertierte in einer Welt der Extrovertierten gibt es Mittel und Wege, sich auf der Karriereleiter zu behaupten.
2. Intraversion und Extraversion: Was bedeutet das überhaupt?
„Introvertiert, extravertiert? Vertiert sind sie alle.“
(Ulrich Erckenbrecht)
Die Begriffe stammen aus der Feder des Psychoanalytikers C.G. Jung. Im Persönlichkeitsmodell Big Five stellen Extraversion und Introversion die beiden Pole eines der fünf beschriebenen Persönlichkeitsfaktoren dar. Extrovertierten fallen Kontaktsuche und Aufgeschlossenheit gegenüber der Umwelt leicht, während Introvertierte eher auf die Innenwelt ausgerichtet sind (Dorsch - Psychologisches Wörterbuch).
Extrovertierte Menschen benötigen mehr äußere Reize als Introvertierte. Während ein introvertierter Mensch nach einem Arbeitstag eher Rückzug benötigt, um nicht in Überforderung und Erschöpfung zu geraten, sehnt sich ein extrovertierter Mensch eher nach stimulierenden Kontakten und Aktivitäten (Cain, 2013). Das zwar seit langem in der Wissenschaft herangezogene Konzept, gewinnt erst seit Kurzem durch Arbeiten wie die hier Vorgestellten zunehmend an öffentlicher Bedeutung. Höchste Zeit!
3. Verkannte Qualitäten
„Die Introversion - zusammen mit ihren Attributen der Empfindsamkeit, Ernsthaftigkeit und Schüchternheit - gilt heute als Persönlichkeitsmerkmal zweiter Klasse (...).“
(Cain, 2013)
Introvertiertheit wird häufig mit Schüchternheit gleichgesetzt. Zwar gibt es eine gewisse Schnittmenge, man sollte Schüchternheit und Introvertiertheit aber keinesfalls verwechseln. Nicht alle Introvertierten sind automatisch schüchtern. Und manche sind es nur, weil sie seit Kindertagen für ihre Introvertiertheit beschämt worden sind (Cain, 2013). Vielen Introvertierten fällt es folglich nicht unbedingt leicht, sich zu akzeptieren. Vielleicht versuchen sie sogar, extrovertiert zu wirken. Aber die eigenen Stärken können sich doch erst gänzlich entfalten, wenn wir akzeptieren wer wir sind. Nur so können wir unsere Stärken als solche erkennen.
4. Introvertiertheit als Stärke
„Stille Wasser sind tief“
(Sprichwort)
Introvertiertheit ist kein Makel, sondern eine Qualität – eine Qualität, die oft unterschätzt wird. Viele berühmte Persönlichkeiten waren und sind introvertiert – z.B. Albert Einstein und viele bekannte KünstlerInnen. Ohne Introvertierte wäre die Welt vermutlich um zahlreiche künstlerische und wissenschaftliche Errungenschaften ärmer. Die speziellen Gaben der Stillen haben der Gesellschaft viel zu geben und stellen einen wesentlichen Ausgleich zur derzeitigen Strömung dar.
Doch wie kann es als introvertierter Mensch gelingen, überhaupt an eine Position zu gelangen, von wo aus sich etwas erreichen lässt, wenn die Bewerbungsverfahren auf Extrovertierte zugeschnitten zu sein scheinen?
Dabei kann Lektüre unterstützen. Neben Susan Cains Klassiker „Still“* gibt es hilfreiche Literatur, wie zum Beispiel „Leise überzeugen“ von Natalie Schnack*. Im Folgenden habe ich einige der Tipps zusammengefasst, die sich in den beiden Werken für das Berufsleben finden.
5. Susan Cains Tipps
„Das Geheimnis des Lebens ist, sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Für die einen ist dies das Rampenlicht am Broadway oder ein sonnenverwöhnter Strand, für andere ein von einer Lampe erleuchteter Schreibtisch.“
(Cain, 2013)
Susan Cain, selbst introvertiert, rechnet in ihrem Buch mit dem vorherrschenden Extraversions-Wahn ab, und geht unter anderem auf Forschungsergebnisse, Berufsfindung und Lebensführung ein. Sie empfiehlt allen Introvertierten, die einen Vortrag halten müssen, Konzentration auf die Vorbereitung.
Dazu kann gehören, die Rede vorzuformulieren und Techniken großer RednerInnen zu studieren, sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen, die eigenen Schokoladenseiten und Stolpersteine zu kennen sowie sich in der ungewohnten Rolle zu üben. Das beinhaltet auch, sich als introvertierter Menschen kennen zu lernen und für sich und seine speziellen Bedürfnisse zu sorgen. Dazu gehört z.B., aufgetankt zu einem Bewerbungsgespräch zu gehen, statt sich am Abend vorher auf eine Kräfte-zehrende Party gequält zu haben.
In zahlreichen Videos von Vorträgen und Interviews gibt Cain wertvolle Hinweise für den Alltag. Das hochgelobte und von vielen introvertierten Menschen gehasste Networking zum Beispiel gelingt laut Cain am besten, wenn man den Druck raus nimmt: Warum sich selbst mit der Erwartung blockieren, man müsse doch besser Netzwerken lernen und als gut gelauntes Partytier mit zwanzig neuen Visitenkarten in der Tasche von jedem Empfang zurück kehren? Das bringt nichts, wenn es nicht dem eigenen Naturell entspricht. So können keine nachhaltig tragfähigen Kontakte entstehen. Warum nicht stattdessen die eigenen Neigungen achten und nutzen?
Probier es aus: Auf der nächsten Party such' dir den Menschen, der dich am meisten interessiert und beginne eine Gespräch über Themen, die dir liegen. Vielleicht kommst du nur mit einer Visitenkarte zurück. Aber du hattest einen angenehmen Abend, hast dich nicht verbogen und hast im Zweifelsfall sogar eine echte Verbindung aufbauen können.
6. Natalie Schnacks Tipps
„Introversion ist ein Schatz – heben Sie ihn!“
(Natalie Schnack auf www.natalieschnack.de)
Natalie Schnack, Sichtbarkeits-Coach, weiß, dass Klappern zum Handwerk gehört. Sie zeigt Introvertierten in ihrem Buch Wege auf, auch leise zu mehr Präsenz zu finden. Dabei empfiehlt sie unter anderem, bremsende Denk- und Verhaltensmuster abzulegen. Hierzu gehört ein Gegengift gegen einengende Klischees im eigenen Kopf: Wer zum Beispiel „in der Bescheidenheits-Schublade gelandet ist“, dem fällt es schwer, mit seinen Pfunden zu wuchern, und stellt sein Licht eher unter den Scheffel. Komplimente und Lob können schwer ausgehalten werden. Und Menschen, die – anders als sie – mit ihrem Erfolg glänzen, scheinen suspekt. Dass Eigenlob nicht stinkt, müssen besonders Introvertierte oft erst lernen. „Leise überzeugen“ zeigt wie.
Als die „die drei größten inneren Barrieren" macht die introvertierte Unternehmerin „die Selbstverständlichkeitsfalle“, den „Vergleich mit anderen“ und „das Nie genug-Prinzip“ aus: Der vermeintliche Schutz, so Schnack, wird uns dabei zum Verhängnis. Doch: Was für uns selbstverständlich scheint, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit für andere etwas ganz Besonderes.
Seit geraumer Zeit kursiert im Internet das Bild der Tiere, die man fair unterrichten will, indem man sie gleich behandelt. Die gemeinsame Aufgabe: Auf einen Baum klettern. Was für den Affen leicht ist, kann für Fisch und Elefant eine Unmöglichkeit darstellen. Was für den Affen selbstverständlich scheint, ist eine Gabe. Warum sollte der Fisch aber klettern lernen? Warum nicht einfach das schätzen, was er kann? Warum sich mit dem Affen vergleichen?
Also kurz gesagt: Sichtbarkeit ja – aber auf eine stimmige, den Eigenarten entsprechende Weise. Wer z.B. die Angst vorm Prahlen nicht los wird, kann anekdotisch erzählen, was der eigene Weg bisher mitbrachte.
Diese Selbstakzeptanz schließt allerdings Entwicklung und Erweiterung des eigenen Handlungsspielraumes nicht aus. Und so geht die Autorin auch auf Techniken ein, die Introvertierte in einer extrovertierten Welt unterstützen können: Das Konzept von Hoch- und Tiefstatus aus dem Improvisationstheater ist zum Beispiel hervorragend geeignet, um die eigene Präsenz zu erhöhen und sich in Wettbewerbssituationen zu behaupten.
Das zu lernen ist so schwer nicht, denn im Alltag haben wir alle – auch wenn es nicht besonders rühmlich sein mag – ein Gespür für dieses Machtgefälle zwischen Personen. Durch lustvolles Schauspielern im Alltag kann diese Improvisationstheater-Technik helfen, in entscheidenden Momenten Hochstatus nach außen darzustellen, auch wenn wir ihn innerlich gerade nicht empfinden können. Statusarbeit bewirkt außerdem eine größere Leichtigkeit, und eine humorvolle Distanz im Umgang mit dem leidigen Thema.
Turid Müller – Schauspielerin und Diplompsychologin – arbeitet an den Schnittstellen von Kommunikation und Kreativität. Unter anderem als Leiterin von Kreativitäts- & Präsentationstrainings.
Und als „Teilzeitrebellin“ im Bereich Chanson/Musikkabarett:
Improvisationstheater und speziell die Statusarbeit haben in der Tat Veränderungspotenzial. In meiner Arbeit als Trainerin werde ich immer wieder Zeugin von tiefgreifenden Entwicklungen und von Menschen, die über sich hinaus wachsen. - Versuch es mal: Kopf hoch, Brust raus! Langsam sprechen! Pausen sind mehr als ok und verleihen deinen Worten Gewicht. Die Zuhörenden wissen sicher, wie bedeutsam das ist, was du zu sagen hast. Nimm dir den Raum! Lass dir Zeit für Punkte, Absätze und Atempausen. Schon allein durch das Feedback, das dein Körper dir gibt, wenn du ihn durch diese körperlichen Merkmale in Hochstatus versetzt, wirst du dich vermutlich gleich ruhiger und selbstsicherer fühlen.
Es kann bei den ersten Versuchen allerdings auch nach hinten los gehen: Wer sich im Hochstatus nicht zu Hause fühlt, der fühlt sich beim Verlassen der Komfortzone wohlmöglich zunächst unwohl. Aber auch hier hilft Übung - mit FreundInnen, im Impro-Kurs der Uni, am Telefon, in der Bahn, vor dem wichtigen Gespräch mit der Bank. Langsam steigern ist angesagt! Rumprobieren! Spielerisch werden!
7. Die Perlen erkennen
„Würden wir begreifen, wer wir wirklich sind, wie nichtig würde uns all unser Kummer erscheinen.“
(Östliche Weisheit, zitiert nach www.aphorismen.de)
Introvertierte Menschen können die Asse spielen, die sie im Ärmel haben: Sie können auf ihren Blog verweisen, der bereits eine hohe Zahl Follower angesprochen hat, sie können mit fundierter Vorbereitung glänzen, das Bewerbungsgespräch vorher im Freundeskreis durchspielen, sie können sich ihre gute Beobachtungsgabe und Selbstreflektion zu Nutze machen und sie können sich darauf verlassen, dass weit mehr Menschen ähnlich ticken als sie annehmen mögen. Smalltalk z.B. muss nicht zwangsläufig oberflächlich sein. Vermutlich würden sich viele Menschen über tiefere Themen als das Wetter freuen. – Vielleicht punktest Du ja im nächsten Gespräch mit einem Gesprächseinstieg, den die Personalchefin so noch nie erlebt hat?
„… I also believe that introversion is my biggest strenght. I have such a strong inner life that I´m never bored and only occasionally lonely. No matter what mayhem is happening around me, I know I can always turn inward.“
(Susan Cain)
Literaturtipps
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Weiterlesen im Web
Online gibt es viele Typen-Test, die eine Hilfe dabei sein können, sich klarer zu werden, ob man selbst eher introvertiert oder eher extrovertiert ist.
www.intros-extros.com
www.natalieschnack.de/typentest.pdfSusan Cains inspirierender TED Talk kann einen ersten Einstieg ins Thema geben.
Ihre Homepage liefert vertiefende Anregungen.Was Introvertiert sein bedeutet und viele hilfreiche Informationen und Tipps wie z.B. „Geeignete Berufe für Introvertierte“ findest du unter www.introvertiert.org
Das im Artikel angegebene Datum entspricht der letzten Aktualisierung der Redaktion von Studis Online.