unsereuni.atStudierendenproteste in Österreich
Österreich hat vergleichsweise wenige Studierende. Im OECD-Durchschnitt haben 2007 38,7 Prozent eines Jahrgangs einen Tertiärabschluss A erreicht. In Österreich waren es 22 Prozent. Zum Vergleich: Deutschland weist hier einen Wert von 23 Prozent aus, ein Wert, der gemeinhin als deutlich zu gering gilt. Nun steigen die Studierendenzahlen in Österreich – wohl insbesondere bei den Frauen – rasant an, Prognosen gehen von insgesamt 285.000 bis 300.000 Studierenden in diesem Semester in Österreich aus. Der bisherige Höchststand lag bei 242.598 Studierenden im Jahr 2000 – dem Jahr vor der Einführung der Studiengebühren.
Inzwischen sind die Studiengebühren zu einem großen Teil – wenn auch nicht vollständig – wieder abgeschafft. Und: Österreich hat kaum Zulassungsbeschränkungen. Daher wird ein Teil der steigenden Studierendenzahlen auf so genannte NC-Flüchtlinge aus Deutschland zurückgeführt. Nun fordert der österreichische Wissenschaftsminister und designierte EU-Kommissar Johannes Hahn (ÖVP) Zulassungsbeschränkungen und Studiengebühren als Reaktion auf die steigenden Studierendenzahlen. Es scheint demnach keinen Konsens (mehr) darüber zu geben, den Anteil der Studierenden tatsächlich zu erhöhen zu wollen.
Die Rahmenbedingungen sind in Österreich neben den auch in Deutschland bekannten Problemen der Umstellung auf die konsekutiven Studiengänge also das Thema Zulassungsbeschränkungen. Diese sind in Österreich vergleichsweise moderat – Österreich hat bspw. auch einen erheblich höheren Anteil an sogenannten nicht-traditionellen (z.B. Abitur auf dem zweiten Bildungsweg) Studierenden als Deutschland. Zweitens gilt es, die Studiengebührenfreiheit zu verteidigen bzw. vollständig zu erkämpfen, da bspw. für nicht-EU-AusländerInnen noch Gebühren erhoben werden. Zudem fehlt Geld, auch deshalb, weil Österreich ähnlich wie Deutschland Steuern gesenkt hat – Einnahmen, die heute fehlen. Aber: Geld ist keinesfalls alles, es geht um Gleichstellung, behindertengerechtes Lehren und Lernen und um Demokratie.
Die Proteste
Evolution eines Logos: Zuerst "Uni brennt" (oben links), nun "Unsere Uni" – denn es geht ja darum, dass die Studierende sich die Uni zu eigen machen wollen, was "Unsere Uni" besser deutlich macht
Die Proteste in Österreich kommen zwar angesichts der Situation an den Hochschulen nicht überraschend – ihre Dynamik überrascht aber schon. Begonnen hat alles an der Akademie der bildenden Künste am 20.10.2009. Der Audimax der Universität Wien ist seit dem 22.10. besetzt, und bis auf die Montanuniversität Leoben ist an allen österreichischen Universitäten Protest angesagt. Dabei dominiert das Geschehen an der Wiener Hauptuniversität – die übrigens mit knapp 77.000 Studierenden die größte Hochschule im deutschsprachigen Raum ist – das mediale Interesse. Dies sicherlich auch wegen des ungewöhnlichen Stils: Die BesetzerInnen organisieren sich basisdemokratisch, Entscheidungen werden in den täglichen Plena ausdiskutiert und getroffen, Arbeitsgruppen sorgen für Inhalte, ein kulturelles Programm wird ebenso organisiert wie ein alternativer Vorlesungsplan.
Die BesetzerInnen achten darauf, dass keine "Köpfe" produziert werden, d.h. die Vertretung nach außen erfolgt wechselweise und nicht durch einen Sprecher oder eine Sprecherin. Diese Debattenkultur hat den BesetzerInnen viel Respekt eingebracht, und die dabei stattfindende Politisierung ist auch für die Zeit nach dem Streik nicht zu vernachlässigen. Ein nicht unwesentlicher Anteil österreichischer Prominenz hat die Studierenden im Audimax besucht, sei es für kulturelle Events oder zur Bekundung von Solidarität. Für die vermutlich größte Aufmerksamkeit hat dann eine Demonstration am vergangenen Mittwoch mit 10.000 bis 50.000 Studierenden gesorgt. Welche dieser Zahlen auch stimmen mag: Die Anzahl ist enorm.
Die BesetzerInnen selber betonen, dass offensichtlich die Besetzung des Audimax und die folgende Berichterstattung in den Medien dazu geführt hat, dass sich immer mehr Studierende auch wagen, ihre Meinung kundzutun. Dabei wird sowohl die Sorge des eigenen Fortkommens deutlich – ist der Bachelor wirklich als Voraussetzung für die eigene Entwicklung geeignet? – zudem debattieren die BesetzrerInnen aber auch grundlegende Fragen des Zusammenlebens in der Gesellschaft.
Die Forderungen
Die Forderungen der BesetzerInnen der Uni Wien (Stand 02.11.) lauten:
Bildung statt Ausbildung. Hier wird bspw. auf Knock-Out-Prüfungen, Übergangsbeschränkungen zu Master und PhD, die freiere Zusammenstellung der Bildungsinhalte und die Anrechenbarkeit eingegangen. Ziel ist es, Bildung in einem umfassenden Sinn wieder zu stärken.
Redemokratisierung: hierbei geht es um die demokratische Mitbestimmung an den und demokratische Gestaltung der Universitäten.
Uni als Lebensraum: Die Selbstorganisation der Studierenden soll geschaffen und geschützt und entsprechende Freiräume erkämpft werden.
Das Behindertengleichstellungsgesetz muss an allen österreichischen Universitäten umgesetzt werden, um ein barrierefreies Studieren zu ermöglichen.
Verbesserungen der Arbeitsbedingungen des Lehrpersonals.
Die Reaktionen
Erwartungsgemäß gehen die Reaktionen weit auseinander. Konservative Kräfte versuchen, Studiengebühren wieder hoffähig zu machen und sie fordern – wie auch der sozialdemokratische Bundeskanzler Faymann – die Einführung von Zugangsbeschränkungen. Daneben erfahren die Studierenden viel Zuspruch aus Verbänden und Gewerkschaften. Und sie haben erreicht, dass die Ausgaben für Hochschulen bis zum Jahr 2020 erheblich erhöht werden sollen. Nachdem die offizielle Politik – allen voran Wissenschaftsminister Hahn – am Anfang versuchte, die Proteste zu ignorieren bzw. zu delegitimieren geht es jetzt darum, Gelder frei zu machen. Dennoch: Die großen Forderungen der Studierenden werden (noch) nicht angegangen, so dass die Gründe für die Besetzungen nach wie vor vorhanden sind.
Was hat das mit Deutschland zu tun?
Wichtig scheint hier vor allem die Forderungen nach einem freien Hochschulzugang zu sein. Denn in der Tat: Es ist ein Problem für ein kleines Land wie Österreich – die EinwohnerInnenzahl beträgt etwa 10% der EinwohnerInnen Deutschlands – wenn der große Nachbar (eben Deutschland) eine Trittbrettfahrermentalität an den Tag legt, indem er die Studierenden nicht an die eigenen Hochschulen lässt (NC, Studiengebühren) und dann die Kosten dem Nachbarn aufbürdet.
Der Bildungsstreik vom Sommer in Deutschland dürfte in den nächsten Tagen eine Fortsetzung findet (für Termine und Pläne siehe bildungsstreik.net). Angeregt auch von den Protesten in Österreich haben an einigen Unis bereits Hörsaalbesetzungen stattgefunden. So heute an der Uni Münster (siehe AStAs der Uni Münster) und bereits gestern an der Uni Heidelberg (siehe bildungsstreik-hd.de). In Berlin gab es diverse symbolischer Unterstützungsaktionen, so wurden Schilder mit Straßennamen umdekoriert oder Flash-Mobs organisiert (siehe z.B. hier).
Weitere Informationen
- www.unsereuni.at (Homepage der BesetzerInnen der Uni Wien, dort auch Infos zu den Protesten an anderen österreichischen Hochschulen)
- Aufruf der Protestierenden an der Uni Wien, ihrem Beispiel auch in Deutschland zu folgen
- Bundesweiter Bildungsstreik 2009 (Vernetzungsseite des Bildungstreik 2009 in Deutschland)
- Der freie zusammenschluss von studentInnenschaften solidarisiert sich mit den Protesten in Österreich (Presseerklärung, 28.10.2009)