Wahlprüfsteine HochschuleWahlen zur Bürgerschaft in Hamburg: Was DIE LINKE will
Die Hochschulen sind chronisch unterfinanziert. Sie sind damit zunehmend von Spendengeldern und Drittmitteln abhängig gemacht worden. DIE LINKE tritt dafür ein, dass die öffentliche Finanzierung der Hochschulen deutlich aufgestockt wird. Für eine unabhängige Wissenschaft ist allerdings nicht nur eine ausreichende Finanzierung notwendig. Damit die Ziele und Methoden von Forschung und Lehre unabhängig von ökonomischen Zwängen definiert werden, müssen die Hochschulen demokratisiert werden. Welche Forschung wichtig ist und welche nicht, darf weder ein externer Sponsor, noch allein die Hochschulleitung entscheiden. Wir treten ein für demokratisch gewählte Gremien, in denen ProfessorInnen, wissenschaftliche, Verwaltungs- und technische MitarbeiterInnen sowie Studierende gleichermaßen mitbestimmen.
Forschung und Lehre dürfen sich dabei nicht im Elfenbeinturm vollziehen, sondern müssen auf die gesellschaftliche und berufliche Praxis Bezug nehmen. Es ist Aufgabe der Hochschulen, die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch zu hinterfragen, Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen und wissenschaftliche Grundlagen für soziale und ökologische Reformen zu schaffen. Praxisnahe Ausbildung heißt für uns nicht, dass sich Absolventinnen und Absolventen möglichst reibungslos den Anforderungen des Arbeitsmarktes anpassen. Das neoliberale Leitbild der Employability (Beschäftigbarkeit) lehnen wir ab. Wir fordern stattdessen eine kritische Praxisorientierung, die die Absolventinnen und Absolventen in die Lage versetzt, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen eigenständig zu gestalten und aktiv in gesellschaftliche Entwicklungen einzugreifen.
2. Brauchen wir weiter eine Trennung in Fachhochschulen und Universitäten, gerade im Hinblick darauf, dass Bachelor und Master gleichwertig sein sollen, egal wo studiert wurde?
Wir stellen uns gegen ein Zwei-Klassen-System in der Hochschullandschaft. Wir wollen, dass Bachelor und Master an Universitäten und Fachhochschulen tatsächlich als gleichwertig anerkannt werden. Über die Unterscheidung von forschungs- und anwendungsorientierten Masterstudiengängen versuchen die KultusministerInnen, die alte Hierarchie zwischen Unis und FH’s durch die Hintertür wieder einzuführen. So wird den AbsolventInnen von Fachhochschulen weiterhin der Wechsel an eine Universität erschwert und die Promotionsberechtigung wird nach wie vor häufig in Frage gestellt. Nicht zuletzt erhalten FH-AbsolventInnen beim Berufseinstieg weniger Lohn. Wir unterstützen die Gewerkschaften in ihrer Forderung, die tarifliche Eingruppierung von Bachelor- und Master-AbsolventInnen der FH’s den Uni-AbsolventInnen gleich zu stellen. Die öffentliche Hand sollte hier mit gutem Beispiel vorangehen und die Ungleichbehandlung von FH- und Uni-AbsolventInnen in den Laufbahnen des öffentlichen Dienstes endlich beenden.
Es gibt keinen Grund, "theorieorientierte" Bildung pauschal für höherwertiger zu halten als "praxisorientierte". Trotzdem hat diese Sichtweise in der Bundesrepublik Tradition. Dies führt auch dazu, dass Berufserfahrung und Qualifikationen aus der beruflichen Bildung von den deutschen Hochschulen kaum anerkannt werden. In kaum einem anderen Land ist der Hochschulzugang aus der beruflichen Praxis so schwierig wie hier und wird so wenig wahrgenommen. DIE LINKE tritt dafür ein, dass der Hochschulzugang für BewerberInnen ohne klassische Hochschulzugangsberechtigung deutlich ausgebaut wird.
3. Nach wie vor kommt es zu vielen Studienabbrüchen oder längeren Orientierungsphasen nach Abschluss des Studiums. Wie kann die Beratung von (zukünftigen) Studierenden, aber auch von Absolventinnen und Absolventen verbessert werden?
Studienabbrüche haben sehr unterschiedliche Ursachen. Viele Fachwechsel sind unterstützenswert, weil sie zum Ausdruck bringen, dass Studierende weiterdenken, neue Interessen entwickeln oder neue Schwerpunkte setzen. Studien machen allerdings immer wieder deutlich, dass ein Großteil der StudienabbrecherInnen sich aus finanziellen Gründen zum Abbruch gezwungen sieht. Um den hohen AbbrecherInnenquoten zu begegnen, brauchen wir daher zu allererst eine umfassende Reform der Ausbildungsförderung (BAföG). Die Einführung von Studiengebühren hat in den letzten Semestern zu unzähligen Studienabbrüchen geführt. Sozial gerechte Studiengebühren gibt es nicht. Wir treten für die Abschaffung jeglicher Studiengebühren ein.
Hierüber hinaus muss die Beratung von Studierenden deutlich ausgebaut werden. Hier fehlt es an allen Ecken und Enden. Weil viel zu wenig Lehrende an den Hochschulen arbeiten, ist eine individuelle Betreuung in den Lehrveranstaltungen die Ausnahme. Die Studieneingangsphasen sind meist viel zu kurz und wurden in den letzten Jahren weiter zusammengestrichen. In vielen Studiengängen wird die Betreuung der ErstsemesterInnen allein von den Fachschaften getragen. Die psychologische Beratung von Studierenden ist an den meisten Hochschulen überlaufen – wenn sie überhaupt vorhanden ist. Die Sozialberatung wird teilweise vom Studentenwerk, häufig allein von den Studierendenschaften selbst getragen und finanziert. Eine intensive Beratung und Begleitung von Studierenden in der Abschlussphase ist an den allermeisten Hochschulen unbekannt. Umfassende Beratung der Studierenden gehört nach unserer Auffassung zu den Kernaufgaben der Hochschulen. Diese müssen daher dringend in die Lage versetzt und dazu angehalten werden, dieser Aufgabe nachzukommen.
4. Der Umbau der Studiengänge in Richtung Bachelor/Master hat zu vielen Irritationen geführt. So ist z.B. der Anteil derer, die ein Auslandssemester einplanen, in Bachelor-Studiengängen im Vergleich zum Diplom zurückgegangen - obwohl doch ein erklärtes Ziel der Reform mehr Internationalität und Mobilität ist. Auch ist noch offen, wie viele Studierende nach dem Bachelor einen Master anstreben werden. Inwieweit wollen Sie hier eingreifen - und dazu bundesweite oder auch europaweite Initiativen ergreifen?
Die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen war mit dem Versprechen verbunden, die Studienbedingungen flexibler zu machen und den Studierenden neue Möglichkeiten zu eröffnen. Das Gegenteil ist erfolgt: Die neuen Studiengänge sind in ihrer großen Mehrzahl sehr viel inflexibler als die alten. Wahlmöglichkeiten wurden eingeschränkt, Anwesenheitspflichten, enge Fristen und unzählige Prüfungen neu eingeführt. Unter dem Deckmantel der Internationalisierung wurden so neue Studiengänge geschaffen, die Auslandssemester nur noch schwer zulassen. Dieser Trend muss umgekehrt werden. Auslandsaufenthalte müssen nicht nur jedem und jeder möglich sein, sondern auch offensiv gefördert werden. Hierzu gehört auch das Angebot gebührenfreier Sprachkurse für alle Studierenden. Die Studiengänge sollen außerdem jedem und jeder den Raum geben, eigenständig Schwerpunkte zu setzen. Ein Studium darf nicht daraus bestehen, dass die Studierenden auswendig lernen und von einer Klausur zur nächsten gehetzt werden.
Mit der aktuellen Ausgestaltung von Bachelor- und Masterstudiengängen wird ein Zwei-Klassen-System in der Hochschulbildung geschaffen: Während die Elite in Masterstudiengängen eine bessere Betreuung genießt, vielfach neue Möglichkeiten interdisziplinären Lernens bekommt und gegebenenfalls im Ausland studiert, wird die Mehrheit der Studierenden im Bachelor mit schlechteren Bedingungen abgespeist als in den traditionellen Studiengängen. DIE LINKE setzt sich dafür ein, dass die Studienbedingungen im Bachelor nicht hinter denen im Master zurückstehen und dass alle Bachelor-AbsolventInnen auch einen Masterstudiengang aufnehmen können. Auch auf europäischer Ebene muss klargestellt werden, dass eine Internationalisierung der Studiengänge nicht erst im Master beginnen kann.
5. Halten Sie am BAföG fest, welche Verbesserungen können Sie sich dabei vorstellen bzw. welche Alternative schwebt Ihrer Partei vor? Oder sehen Sie die Zukunft eher in Studienkrediten? Warum?
Wer aus einem finanzschwachen Elternhaus kommt, kann nur studieren, wenn er für seinen Lebensunterhalt eine Förderung erhält. Das BAföG muss deshalb deutlich ausgebaut werden. Die von der Bundesregierung beschlossene Erhöhung der BAföG-Sätze um zehn Prozent reicht noch nicht einmal, um die Inflation auszugleichen und den Stand von 2001 wieder zu erreichen. Das BAföG muss außerdem wieder auf einen Vollzuschuss umgestellt werden, denn die Aussicht, am Ende des Studiums vor einem Schuldenberg zu stehen, schreckt gerade junge Menschen aus nichtakademischen Elternhäusern vom Studium ab. Aus diesem Grund können auch Studienkredite keinen Ersatz für die Ausbildungsförderung bieten. Mittelfristig muss das BAföG zu einer elternunabhängigen Förderung ausgebaut werden, denn StudienanfängerInnen sind erwachsene Menschen, deren Bildungsweg nicht vom guten Willen der Eltern abhängig sein sollte.
6. Allgemeine Studiengebühren wurden in ihrem Bundesland vor kurzem eingeführt. Wollen Sie an den Gebühren festhalten oder sehen Sie Änderungsbedarf und in welcher Art?
Bildung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht. DIE LINKE unterstützt daher das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren. Gemeinsam mit Studierendenschaften und Gewerkschaften kämpfen wir dafür, dass Studiengebühren jeglicher Form abgeschafft werden – das gilt für sogenannte Verwaltungsbeiträge genauso wie für Studienkontenmodelle. Studiengebühren lösen kein einziges Problem. Sie werden an der strukturellen Unterfinanzierung der Hochschulen nichts ändern. Stattdessen verschärfen sie die soziale Auslese. Schon heute kommen nur rund zehn Prozent der Studierenden aus nichtakademischen und finanzschwachen Schichten. Außerdem machen Studiengebühren Bildung zu einer Ware und drängen allgemeinbildende Inhalte und kritische Wissenschaft zurück. Sie sind auch ein geschlechtsspezifisches Problem: Frauen verdienen mehr als zwanzig Prozent weniger als Männer. Daneben führen Betreuungsunterbrechungen für Angehörige dazu, dass sie deutlich länger als Männer Studiengebühren zurückzahlen. DIE LINKE fordert ein gebührenfreies Studium – damit es nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängt, ob Frau oder Mann ein Hochschulstudium beginnt.
7. Im internationalen Vergleich studieren in Deutschland immer noch verhältnismäßig wenige junge Menschen. Was wollen Sie tun, um diesen Umstand zu ändern?
Um die Studierendenzahlen zu erhöhen, muss zu allererst die Zahl der Studienplätze erhöht werden. Wer eine Hochschulzugangsberechtigung erworben hat, der hat auch ein Recht auf einen Studienplatz. Trotzdem bleiben die Hochschultüren für immer mehr BewerberInnen verschlossen. Für die allermeisten Studiengänge ist inzwischen ein Numerus clausus eingeführt worden. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Eingriff nur vorübergehend für möglich erklärt. Eine dauerhafte Einschränkung des Hochschulzugangs widerspricht dem Grundgesetz. Damit ausreichende Kapazitäten geschaffen werden können, müssen die Ausgaben für Hochschulen deutlich aufgestockt werden.
Damit ein solcher Ausbau der Hochschulbildung nicht nur Jugendlichen aus reichen Elternhäusern zugute kommt, müssen gleichzeitig Studiengebühren abgeschafft und das BAföG ausgebaut werden. Wir brauchen außerdem eine grundlegende Reform des Schulsystems. Jugendliche aus finanzschwachen Elternhäusern oder mit Migrationshintergrund werden im Schulsystem vielfach nach unten durchgereicht. Viel zu wenige erreichen die Hochschulzugangsberechtigung. DIE LINKE setzt sich daher für eine Gemeinschaftsschule ein, in der alle bis zur zehnten Klasse zusammen lernen, in der jede und jeder individuell gefördert wird, die Nachteile ausgleicht und keinen zurücklässt.
8. Inwiefern halten Sie unser Bildungssystem für gerecht? Was ist Chancengerechtigkeit für Sie, was bedarf es hierfür?
Das Recht auf Bildung wird in Deutschland tagtäglich verletzt. Zu diesem Ergebnis kam im März 2007 Vernor Muñoz, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung. In keinem anderen Industrieland hängt der Bildungserfolg junger Menschen so stark von der sozialen Herkunft der Eltern ab. Viele Kinder mit schlechteren Ausgangsbedingungen werden im Schulsystem nach unten abgeschoben. Jede und jeder zehnte verlässt die Schule ohne jeden Abschluss. Diese Misere setzt sich in der beruflichen Bildung fort. Seit Jahren bekommt nur etwa die Hälfte der Bewerberinnen und Bewerber einen betrieblichen Ausbildungsplatz. Junge Menschen ohne qualifizierte Berufsausbildung sind vielfach gezwungen, schlecht bezahlte Jobs ohne berufliche Perspektive anzunehmen. Weiterbildung schafft hierbei keinen Ausgleich, sondern wird vor allem von denjenigen wahrgenommen, die bereits ein hohes Bildungsniveau erreicht haben.
Wir treten dafür ein, dass allen Menschen gute Bildung ermöglicht wird – unabhängig vom eigenen Geldbeutel bzw. dem der Eltern. Hierfür müssen die Bildungsausgaben deutlich gesteigert werden. Wir widersetzen uns der herrschenden Bildungspolitik, nach der Bildung vorrangig auf wirtschaftliche Verwertungsinteressen ausgerichtet ist. Bildung ist für uns keine Ware. Sie ist ein Menschenrecht und Voraussetzung für Persönlichkeitsentfaltung sowie gesellschaftliche Handlungsfähigkeit. Das Bildungssystem muss deshalb von Grund auf reformiert werden.
9. In den letzten Jahren wurde allgemein verkündet, dass die Hochschulen mehr "Autonomie" erhalten sollen. Faktisch bezog sich das vor allem darauf, dass die Hochschulleitungen und externe Gremien wie ein Hochschulrat mehr Entscheidungsbefugnisse erhalten - auf Kosten von demokratischen Gremien wie dem Hochschulsenat. Auch die Stimme der Studierenden wurde dadurch nicht gestärkt, sondern eher geschwächt. Was halten Sie von Selbstverwaltung und Mitbestimmung an und in Hochschulen? Planen Sie hier Veränderungen?
Hochschulen gehören nicht nur den ProfessorInnen und PräsidentInnen. Niemand wird bezweifeln, dass der Hochschulbetrieb zusammenbricht, wenn Studierende und Beschäftigte einfach mal zu Hause bleiben. DIE LINKE wehrt sich dagegen, dass die Politik der Hochschulen trotzdem immer noch und sogar immer mehr in Klüngelrunden und Hinterzimmern gemacht wird. ProfessorInnen, akademischer Mittelbau, Beschäftigte in Technik und Verwaltung sowie Studierende haben alle dasselbe Recht, über die Entwicklung ihrer Hochschule mitzubestimmen. Hochschulgremien müssen daher grundsätzlich viertelparitätisch besetzt sein.
Wir meinen: Autonomie braucht Demokratie. Gerade wenn den Hochschulen mehr Entscheidungsspielräume gegeben werden, muss das Landeshochschulgesetz eine umfassende demokratische Mitbestimmung aller Gruppen garantieren. Die eingeführten Hochschulräte stehen diesem Anspruch entgegen. Durch ihre Einrichtung wurden wichtige Kompetenzen der legitimierten akademischen Gremien in intransparente Kaminrunden verlagert. Sie wurden außerdem einseitig durch Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft besetzt. Hochschulräte machen nur dann Sinn, wenn sie verschiedene gesellschaftliche Gruppen wie Gewerkschaften, Umweltverbände und SchülerInnenvertretungen gleichberechtigt einbinden und die demokratische Entscheidungsfindung innerhalb der Hochschulen nicht beschneiden.
Zur demokratischen Teilhabe gehört auch das politische Mandat der Verfassten Studierendenschaften. Wir wehren uns dagegen, dass sich die ASten weiter ständig der Gefahr von Klagen ausgesetzt sehen, weil sie sich nicht "allgemeinpolitisch" äußern sollen. Hochschulpolitik lässt sich nicht von allgemeinen politischen Erwägungen trennen. Im Oktober 2006 hat ein Mitglied der Jungen Union den Marburger AStA verklagt, weil dieser eine Veranstaltung zur katastrophalen Politik der hessischen Landesregierung unter Roland Koch unterstützt hat. So wird versucht, Kritik mundtot zu machen und zu kriminalisieren. DIE LINKE tritt daher dafür ein, dass ein umfassendes politisches Mandat im Landeshochschulgesetz festgeschrieben wird.
10. Der Frauenanteil unter Studierenden liegt inzwischen bei fast 50%. Es gibt aber immer noch starke geschlechtsspezifische Unterschiede, welche Fachrichtung studiert wird (z.B. Elektrotechnik und Maschinenbau: nur um die 5% Studentinnen an Universitäten). Welche konkrete Maßnahmen planen Sie daher, um Frauen zu motivieren und zu unterstützen, besonders in den bisher eher "Männerdominierten" Studienfächern ein Studium aufzunehmen?
Die Studienfachwahl wird nach wie vor von überkommenen Rollenbildern beeinflusst. Geschlechterstereotype sind hartnäckig, doch das heißt keinesfalls, dass wir ihnen machtlos gegenüber stehen. Aktuell werden sie von den Bildungsinstitutionen hingegen aktiv reproduziert. Selbst wenn sich Frauen explizit nach vermeintlichen "Männerberufen" erkundigen, werden ihnen von der öffentlichen Berufsberatung allzu häufig stattdessen Ausbildungs- bzw. Studiengänge in klassischen "Frauenberufen" empfohlen. Wir brauchen daher ein umfassendes Fortbildungsprogramm für BerufsberaterInnen.
Es gibt durchaus wichtige Forscherinnen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Um den Bereich weniger als unerreichbare Männerdomäne erscheinen zu lassen, müssen wir ihre Leistungen stärker sichtbar machen. Da sexuelle Anspielungen und Diskriminierungen von Frauen leider nach wie vor zum Hochschulalltag gehören, müssen Beratungsstellen und Unterstützungsstrukturen für Frauen an den Hochschulen deutlich ausgebaut werden. Ein besonderes Problem bilden verpflichtende Vorpraktika für die ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge. Da Frauen in diesem Bereich deutlich schwerer Praktikumsplätze finden und die Hemmschwelle hoch ist, ausgerechnet mit einem unbetreuten Praktikum in ein männerdominiertes Berufsfeld zu starten, schrecken sie Frauen spezifisch vom Studium ab.
Wie Studien zeigen, werden natur- und ingenieurwissenschaftliche Studiengänge dann für Frauen attraktiver, wenn sie interdisziplinär arbeiten, Team- und Projektarbeit anstelle des einsamen Werkelns im Labor in den Vordergrund stellen, wenn sie praxisbezogen sind, das berufliche Tätigkeitsfeld beleuchten, die Rolle und Geschichte des Faches kritisch hinterfragen und Entwicklungsperspektiven diskutieren. Da all diese Reformansätze nicht nur aus geschlechterpolitischer Perspektive Sinn machen, sollte ihrer Umsetzung eigentlich nichts im Weg stehen. Solange allerdings klassische "Männerfächer" ausstrahlen, dass sie Veränderungen grundsätzlich eher ablehnend gegenüberstehen, sind sie gerade für Frauen unattraktiv.
11. Im wissenschaftlichen Mittelbau und bei C3- (und noch mehr bei C4-) Professuren ist schließlich ein geringer Frauenanteil offensichtlich - der sogar geringer ist als bspw. in der Türkei. Was wollen Sie unternehmen, damit mehr Frauen eine wissenschaftliche Karriere anstreben, um so letztlich auch zu mehr Professorinnen zu kommen?
Die Schere zwischen männlichen und weiblichen Laufbahnen in der Wissenschaft öffnet sich in der Phase der Promotion. Weniger Frauen als Männer schreiben eine Doktorarbeit, und nach der Doktorarbeit entscheiden sich Frauen seltener als Männer dazu, in der Wissenschaft zu bleiben. Um die wissenschaftliche Laufbahn für Frauen attraktiver zu machen, wären eine bessere soziale Absicherung in der Promotion und die Finanzierung von Erziehungspausen in Stipendien, aber auch auf Hochschul- und Drittmittelstellen erste Schritte.
Um die Wissenschaft stärker für Frauen zu öffnen, müssen aber auch akademische Männernetzwerke aufgebrochen werden. Berufungsverfahren für Professuren müssen transparenter werden. Berufungskommissionen sollten geschlechterquotiert besetzt werden. Eine stärkere Beteiligung der Studierenden und der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen in den Kommissionen ist für eine umfassende Würdigung der KandidatInnen unbedingt notwendig, für eine höhere Transparenz wichtig und ermöglicht auch einen größeren Anteil von Frauen in den Kommissionen.
Nicht zuletzt muss der Übergang vom Bachelor in den Master geöffnet und für eine stärkere Beteiligung von Frauen an Masterstudiengängen geworben werden. Denn die ersten Statistiken über die AbsolventInnen der neuen Studiengänge deuten darauf hin, dass sich die Schere zwischen weiblichen und männlichen Laufbahnen in der Wissenschaft künftig bereits beim Übergang vom Bachelor in den Master öffnen könnte. Dies müssen wir unbedingt verhindern.
12. Was bedeutet Geschlechtergerechtigkeit für Sie, ganz allgemein und speziell im Kontext der Bildungspolitik?
Chancen im gesellschaftlichen Leben, im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt dürfen nicht abhängig sein vom Geschlecht oder von der sexuellen Orientierung. Von diesem Anspruch sind wir leider noch weit entfernt: Frauen verdienen auch bei gleicher Qualifikation deutlich weniger als Männer. Ihr Durchschnittseinkommen liegt über 20 Prozent niedriger. Sie sind im Schnitt länger arbeitslos und arbeiten häufiger unter prekären Beschäftigungsbedingungen. Im Hinblick auf die Angleichung der Einkommen nimmt Deutschland unter den EU-Staaten den drittletzten Rang ein, im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Ländern nimmt die Lohnungleichheit in der Bundesrepublik sogar wieder zu. Das Steuerrecht begünstigt mit dem Ehegattensplitting die Ein-Verdiener-Ehe. Beitragsfreie Kinderbetreuung für alle Altersstufen ist nach wie vor Zukunftsmusik, hiervon sind Frauen auch heute überdurchschnittlich betroffen.
Auch im Bildungssystem werden Frauen und Männer nach wie vor ungleich behandelt. Diese Ungleichheiten müssen wir abbauen. Aber nicht nur das: Das Bildungssystem muss junge Menschen über geschlechtsspezifische Diskriminierung aufklären und mit ihnen Entwicklungsperspektiven diskutieren, damit es aktiv zu einer Bekämpfung der Geschlechterungerechtigkeit in allen gesellschaftlichen Bereichen beitragen kann. Die Schule steht vor der Herausforderung, Geschlechterstereotype zu überwinden, Frauen für Männerdominierte Bereiche zu begeistern und umgekehrt. Gerade in Ausbildung und Hochschule müssen Frauen spezifische Beratung und Unterstützung erfahren, damit ihnen nicht weiterhin viele Möglichkeiten strukturell verschlossen bleiben.
13. Es entsteht inzwischen oft der Eindruck, dass das Finanzministerium die anderen Ressorts regiert. Sind Sie der Meinung, Bildungsreformen müssten "kostenneutral" umgesetzt werden und warum sehen Sie das so?
Wir setzen uns dafür ein, dass die Ausgaben für Bildung deutlich aufgestockt werden. Unser Ziel ist eine Anhebung der Bildungsquote auf sechs Prozent. Bundesweit stünden damit für Ganztagsschulen, eine bessere Ausstattung der Schulen mit Personal, flächendeckende Kita-Versorgung, Erhöhung der Anzahl der Studierenden und eine bessere Finanzierung der Aus- und Weiterbildung 43 Milliarden mehr zur Verfügung als heute. Diese Summe können Länder und Kommunen kaum allein stemmen. Wir setzen uns daher für einen Bildungspakt von Bund, Ländern und Kommunen ein. Perspektivisch wollen wir die Bildungsausgaben verbindlich an einen bestimmten Anteil des Bruttoinlandsprodukts koppeln, damit Haushaltskonsolidierungen nicht mehr auf Kosten von Kitas, Schulen und Hochschulen stattfinden.
Bildung ist ein Menschenrecht und darf nicht kaputtgespart werden und zum Privileg für wenige verkommen. Bildung ist nicht nur eine wichtige Grundlage für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung und den beruflichen Werdegang. Sie ist auch eine wichtige Basis für gesellschaftlichen Fortschritt. Als öffentliches Gut sollte sie daher aus öffentlichen Geldern bedarfsdeckend finanziert werden. Dafür muss sie im Hamburger Haushalt eine höhere Priorität erhalten.