„Herbstnöte-Kampagne“Lernen am Limit und kein Dach überm Kopf
Wohnungsnot, unzureichendes BAföG, immer noch überfüllte Hochschulen – genug Gründe für Proteste.
Studis Online: Sie studieren in Lüneburg, einer Stadt, in der es eher beschaulich und provinziell zugeht. Gilt das auch für den Wohnungsmarkt?
Ronja Hesse: Der Druck auf dem Wohnungsmarkt ist sicherlich nicht so groß wie zum Beispiel in München Hamburg oder Frankfurt. Die Nähe zu Hamburg und die touristische Prägung der Stadt wirken aber schon preistreibend und wie in praktisch allen Städten in Deutschland haben auch hier die Mieten deutlich angezogen in den letzten Jahren. Dass die Lage auf dem Wohnungsmarkt ziemlich unentspannt ist, zeigt sich aktuell einmal mehr zu Semesterbeginn.
Wie stellt sich die Situation dar?
Es gibt immer noch eine ganze Menge Studierende, insbesondere Studienneulinge, die zum Vorlesungsstart ohne feste Bleibe sind. Die müssen dann zusehen, dass sie in den diversen Notquartieren unterkommen, die in erster Linie durch den örtlichen AStA angeboten werden. Andere finden Zuflucht bei Freundinnen und Freunden oder pendeln erst einmal zur Uni. Bis alle ein eigenes Dach über dem Kopf haben, kann es noch Wochen, mitunter Monate dauern. Das erlebt man hier schon seit Jahren.
Aber Sie selbst sind versorgt?
Ich lebe inzwischen in Berlin, habe eine Wohnung und beginne bald mit meiner Bachelor-Arbeit.
Gerade in der Hauptstadt ist die Lage für Studierende ja besonders prekär. Es gibt kaum Wohnheimplätze und auf dem freien Wohnungsmarkt herrscht ein riesiges Gedränge. Mehr noch gilt das für München, dort zahlt man für ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft 600 Euro und mehr. Was halten Sie davon, die staatliche Studienfinanzierung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) um eine ortsabhängige Komponente zu ergänzen. Zum Beispiel sprechen sich die Grünen und die FDP dafür aus, die BAföG-Wohnpauschale so zu staffeln, dass man da, wo die Lebenshaltungs- und Wohnkosten besonders hoch sind, auch mehr Unterstützung erhält.
Das ist ein Ansatz, kann aber nur ein Teil einer umfassenden Strategie sein. Aber ganz klar: Die 250 Euro, die man derzeit als Wohnpauschale bekommt, reichen nicht aus, egal ob man in Lüneburg, Mannheim oder Köln studiert. Allenfalls in ein paar Städten in Ostdeutschland kommt man damit über die Runden und auch da häufig nur, wenn man einen der raren Wohnheimplätze ergattert. Hier besteht auf alle Fälle dringender Handlungsbedarf, aber das genügt bei weitem nicht, um der Gesamtproblematik gerecht zu werden.
Dennoch die Frage: Auf welches Niveau wünscht sich der fzs die Bafög-Wohnpauschale?
Ronja Hesse (Jahrgang 1994), studiert Philosophie und Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg und ist seit einem Monat eines von vier neu gewählten Vorstandsmitgliedern beim freien zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs). Der bundesweite Dachverband von verfassten und nichtverfassten Studierendenschaften vertritt derzeit rund 800.000 Studierende an knapp 80 Hochschulen und Universitäten in ganz Deutschland.
Das lässt sich so leicht nicht sagen. Ich war zuletzt im thüringischen Schmalkalden, da kann man anscheinend locker für 250 Euro wohnen, während das in München nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Im Mittel müsste die Wohnpauschale um mindestens 150 Euro erhöht werden, um den realen Erfordernissen zu entsprechen. Aber es braucht wie gesagt mehr: Wir plädieren für ein Studienhonorar, das deutlich über den derzeitigen BAföG-Höchstsatz hinausgehen und das allen als Vollzuschuss zur Verfügung stehen müsste, also unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, vom Alter, der familiären Situation und der Herkunft.
An welche Größenordnung denken Sie dabei?
Dazu gibt es verschiedene Modelle, die von 850 Euro bis 1.100 Euro pro Monat reichen. Auf jeden Fall sollte der Satz mindestens das abbilden, was Studierende heute im Durchschnitt zum Leben brauchen. Allerdings wären sie dann eben nicht mehr darauf angewiesen, jobben zu gehen, und könnten sich voll auf ihr Studium konzentrieren.
Was bräuchte es in Ihren Augen noch an Maßnahmen, um der grassierenden Wohnungsnot zu begegnen?
Das Grundproblem besteht darin, dass die Wohnraumversorgung nicht mehr am Bedarf und Bedürfnis der Menschen ausgerichtet ist, zu bezahlbaren Preisen zu wohnen. Es sind fast nur noch die Gewinninteressen von Hausbesitzern und Immobilienkonzernen, die bestimmen, was läuft oder was nicht läuft. Diese kapitalistische Verwertungslogik gilt es zu durchbrechen und da ist die Politik gefragt: Der seit Jahrzehnten vernachlässigte soziale Wohnungsbau muss wieder kräftig angekurbelt werden. Es müssen deutlich mehr Wohnheimplätzte für Studierende geschaffen werden. Es braucht eine echte Mietpreisbremse – nicht nur eine auf dem Papier –, die die Preistreiberei bei den Mieten verunmöglicht. Es braucht außerdem alternative Wohnkonzepte und Rezepte, den bestehenden Leerstand zu nutzen.
Die Bundesregierung würde behaupten, all das demnächst zu liefern. Die Mietpreisbremse will sie qua Gesetz „verschärfen“ und beim jüngsten „Wohngipfel“ wurde vereinbart, fünf Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau zu stecken. Was wollen Sie mehr?
Das könnte man als reine Symbolpolitik bezeichnen. Laut Mieterbund und Gewerkschaften reichen diese fünf Milliarden Euro nicht einmal dazu, den ohnehin kläglichen Bestand an Sozialwohnungen zu erhalten. Überhaupt war dieser Wohngipfel eine einzige Farce, von den Vertretern der Betroffenenorganisationen durfte ein einziger für 90 Sekunden vorsprechen. Die angekündigten Vorhaben sind nicht im Entferntesten dazu angetan, die nötige Umkehr einzuleiten und dem Staat wieder deutlich mehr Zugriffsmöglichkeiten auf dem Wohnungssektor zu ermöglichen.
Was folgt daraus? Wie stehen Sie zu radikaleren Forderungen, etwa der, Hausbesitzer zu enteignen, sofern diese mit Leerständen auf steigende Preise spekulieren?
Da bin ich und sind wir vom fzs sehr dafür. Es darf einfach nicht sein, dass, wie zum Beispiel hier in Berlin, riesige Wohnflächen zwecks Spekulation oder aus steuerrechtlichen Gründen ungenutzt vor sich hin gammeln, während im selben Moment Zehntausende nach einer bezahlbaren Bleibe suchen. So etwas gehört sanktioniert und wo entsprechende Strafen nicht greifen, muss am Ende eben enteignet werden.
Ihr Verband hat dieser Tage seine neue „Herbstnöte-Kampagne: Lernen am Limit“ vorgestellt. Zum Thema Wohnen heißt es da: „Wohnraum wird nach seiner ökonomischen Verwertbarkeit ausgerichtet und nicht an Bedürfnissen von Menschen orientiert.“ Das kann man eine Binsenweisheit nennen oder muss man das den Studierenden von heute erst einmal klarmachen?
Die Gesetze des Kapitalismus durchdringen heute praktisch sämtliche Lebensbereiche und Wohnen ist nur einer davon. Das Problem liegt darin, dass Studierende, so wie viele Menschen, mit dieser scheinbaren Notwendigkeit von Kind auf großgeworden sind und es in unserer Gesellschaft eben ein gutes Stück Arbeit ist, das zu hinterfragen. All das gehört zu unserer Sozialisation, die allermeisten kennen es nicht anders und können es sich auch nicht anders vorstellen. Hier muss man manchmal vielleicht auch das Banale wiederholen und sagen, dass auch der Wohnungsmarkt vom Profitstreben beherrscht wird und sich dem nur mit staatlicher Regulierung entgegenwirken lässt.
Ist es schon so weit gekommen, dass sich Studierende über Alternativen gar keinen Kopf mehr machen, nicht nur bezogen auf den Wohnungsmarkt, sondern auch mit Blick auf andere gesellschaftliche und globale Verwerfungen, etwa Armut, Klimawandel, Krieg?
Ich würde nicht sagen, dass es kein Bewusstsein für diese Probleme gibt. Es hakt vor allem daran, etwas dagegen zu unternehmen, sich zu organisieren, sich zu solidarisieren und sich daran zu machen, gemeinsam in Aktion zu treten in der Überzeugung, etwas an den Verhältnissen ändern zu können. Das hängt aber auch damit zusammen, dass sich viele Studierende in Zwängen befinden, die sich nicht einfach wegreflektieren lassen.
Müssten sich die Leute nicht wenigstens beim Thema Wohnen packen lassen? Hier ist ja praktisch jeder einzelne ganz unmittelbar von der Misere betroffen.
Den Eindruck haben wir sehr wohl. Das Problem trifft eigentlich jeden, selbst diejenigen, die sich in eines dieser überteuerten privaten Luxuswohnheime einquartieren. Auch die müssen an anderer Stelle Abstriche machen. Oder nehmen wir BAföG-Empfängerinnen oder -Empfänger, die für ihr WG-Zimmer in Köln nicht 250 Euro sondern das Doppelte hinlegen und sich dann überlegen müssen, wo das Geld für den restlichen Lebensunterhalt herkommt. Hier nehmen Menschen ganz persönlich und am eigenen Leib Ungerechtigkeiten wahr, die kapitalistische Verwertungsprinzipien mit sich bringen. Das ist ja auch gerade die Intention unserer Kampagne, die Leute da abzuholen, wo sie gerade sind, verbunden mit der Hoffnung, dass das auch ein Stück zu ihrer Politisierung beiträgt.
Ist das nur eine Hoffnung oder schon eine konkrete Erfahrung?
Die Wohnproblematik ist tatsächlich ein Thema, das derzeit viele Studierende dazu bringt, auf unterschiedlichste Weise aktiv zu werden: durch individuelle kreative Lösungen, durch Proteste, durch gemeinsames Organisieren. Dabei hilft auch das gestiegene mediale Interesse. Der allgemeine Wohnungsnotstand, im speziellen auch die studentische Wohnungsnot, erregt momentan viel öffentliche Aufmerksamkeit. Das macht den Leuten klar: „Ich bin nicht der einzige, dem es so geht, in derselben Lage befinden sich unzählige mehr.“
Wie verhält sich das bei den weiteren Punkten, um die sich ihre Kampagne dreht: die Mängel bei der Studienfinanzierung, die schlechten Studienbedingungen, die Ökonomisierung von Bildung. Auch das sind ja alles nur Anzeichen einer, man könnte sagen, durchneoliberalisierten Gesellschaft, Folgen von jahrelanger Entstaatlichung, Privatisierung, Entsolidarisierung. Kann man der Studentengeneration von heute mit solchen Kategorien überhaupt noch kommen?
Ja, auf jeden Fall, aber das Unterfangen ist aus besagten Gründen nicht leicht. Dass Seminare überlaufen sind, die Betreuung unzureichend ist, die Bibliotheksbestände veraltet sind, dass der Arbeits- und Prüfungsstress enorm ist – damit sind Studierende heute vom ersten Tag an konfrontiert, es gehört zur Normalität. Man arrangiert sich halt damit und macht sich keine Gedanken darüber, dass es auch anders und besser laufen könnte oder dass auch diese Zustände Ausdruck derselben neoliberalen Entwicklung sind, die die Mieten immer weiter in die Höhe treiben. Unsere Kampagne haben wir deshalb ganz gezielt auf den Herbst und den Semesterstart terminiert. Hier werden quasi alle Probleme auf einmal akut und lassen sich zusammendenken als Teil umfassenderer gesellschaftlicher Missstände. Sehr gut begreifbar wird das auch durch unsere Zusammenarbeit mit der Initiative „Lernfabriken …meutern“, die auch von Schülerinnen und Schülern getragen wird. An den Schulen in Deutschland herrscht derzeit ja ein gewaltiger Lehrkräftemangel. Die Schülerinnen und Schüler von heute sind die Studierenden von morgen und schlechte Bildung wird für sie praktisch zum ständigen Begleiter.
Was fordern Sie in diesem Zusammenhang?
Wir haben dazu umfassende Forderungen entwickelt, vorneweg die nach einer Anpassung und Umstrukturierung des BAföGs hin zu einer eltern-, herkunfts-, einkommens- und altersunabhängigen Unterstützung, die als Vollzuschuss gezahlt wird und wirklich zum Leben reicht. Natürlich müssen Studien- und alle Arten von Bildungsgebühren gänzlich abgeschafft werden, das gilt auch für sogenannte Langzeitstudiengebühren und Studiengebühren für nicht-EU Ausländer. Ein wichtiger Punkt ist die Hochschulfinanzierung. Hier fordern wir eine bedarfsgerechte Finanzierung der Hochschulen einschließlich der flächendeckenden Schaffung von besseren Beschäftigungsverhältnissen, besseren Lehrbedingungen sowie eine verbesserte Betreuungsrelation.
Der fzs war historisch stets politisch links verortet. Wie links und radikal will und kann der fzs heute noch sein, ohne abschreckend auf Menschen zu wirken, die „links sein“ als etwas Überholtes und Gestriges ansehen?
Natürlich bekommen wir solche Vorwürfe zu hören. Andererseits werden die politischen Positionen des Verbandes demokratisch durch die beteiligten Mitgliedshochschulen bestimmt. Viele Positionen des fzs mögen radikal erscheinen oder es auch sein. Aber für uns sind es ganz grundlegende Forderungen. Etwa dass alle bezahlbaren Wohnraum haben und das Wohnraumpolitik sich an den Bedürfnissen derer orientiert, die wohnen. Teil eines Weges dahin kann eben auch sein, Hausbesitzer zu enteignen, wenn sie mit Leerstand spekulieren. Was manch einem radikal vorkommen mag, ist für uns also ein probates Mittel, um Menschen zu bezahlbarem Wohnraum zu verhelfen. Und dieses Ziel teilen ganz bestimmt auch viele Studierende, die sich selbst nicht als links bezeichnen.
Die grassierende Wohnungsnot macht auch dem Studenten zu schaffen, der es mit der AfD hält. Wäre das für Sie also ein willkommener Mitstreiter?
Ganz bestimmt nicht, zumal in diesen Kreisen ja nicht der Kapitalismus das Problem ist, sondern Flüchtlinge und Migranten, die den Deutschen angeblich die Wohnungen wegschnappen. Wir wehren uns entschieden dagegen, verschiedene Gruppen entlang religiöser, ethnischer oder geschlechtlicher Grenzen gegeneinander auszuspielen. Wer das propagiert, hat bei uns nichts zu suchen.
Aber solche Einstellungen gibt es gewiss auch unterer Studierenden. Welche Rolle spielt die AfD heute an den Hochschulen?
Was den Organisationsgrad der sogenannten Campus Alternative und ihre Präsenz in den Studierendenparlamenten angeht, ist der Einfluss der AfD eher gering. Von den rechten Studis, die es leider gibt, fühlen sich offenbar nur wenige durch die AfD angezogen. Mehr Zulauf hat und stärker in Aktion tritt dagegen die Identitäre Bewegung, die mit ihrer völkischen Ideologie aber nicht minder gruselig ist wie die AfD.
Zurück zu „Lernen am Limit“. Wer alles trägt Ihre Kampagne mit?
Wir sind damit sehr breit aufgestellt. Von den parteinahen Hochschulgruppen unterstützen uns Campusgrün, die Juso-Hochschulgruppen und Die Linke.SDS. Dazu kommen die Studierendenvertretungen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft sowie von ver.di, das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren, der Bundesverband Ausländischer Studierender und verschiedene Landesstudierendenvertretungen wie die aus Thüringen und Hessen.
Was steht an Aktionen auf dem Programm?
Es wird Aktionen zwischen 15. Oktober und 14. November geben. Mit dabei sind Gruppen in mindestens 20 Städten. Am 15. Oktober gibt es einige größere Camps, vor allem auf die Aktion in Frankfurt am Main sind wir gespannt. Der 14. November ist dann für Vollversammlungen und Protestplena gedacht, welche in verschiedenen Formen in fast allen beteiligten Städten stattfinden werden. In der Zwischenzeit gestalten alle Ortsgruppen die Kampagne so, wie es die lokalen Gegebenheiten und ihre Kapazitäten es zulassen. Alle Gruppen, die sich eines Themas innerhalb der Kampagne annehmen wollen, sind nach wie vor eingeladen, sich mit uns zu organisieren. (rw)