MEMORANDUM 2015Bildungslobbyismus der Kapitalseite – der Entwertung von Bildung solidarisch entgegentreten
Akademisierung und Profit
Dieser Artikel beruht auf dem Bildungspolitik-Kapitel des „Memorandum 2015 – 40 Jahre für eine soziale und wirksame Wirtschaftspolitik gegen Massenarbeitslosigkeit“ der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik.
Das Buch ist erschienen bei PapyRossa, ISBN 978-3-89438-584-2.
Wir danken der AG für die Erlaubnis, diesen Auszug bei Studis Online veröffentlichen zu dürfen.
Die zunehmende Akademisierung der Lohnarbeit scheint heute eine Entwicklungstendenz zu sein. So hat sich allein in Deutschland zwischen 1999 und 2012 die Relation bei den Erwerbstätigen (im Alter zwischen 25 und 64 Jahren) zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit beruflichem Abschluss (vor allem duales System) und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Hochschulabschluss vom Verhältnis 3,5 zu 1 zum Verhältnis 2,7 zu 1 verschoben. Der prozentuale Anteil der erwerbstätigen Akademikerinnen und Akademiker an der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren stieg in diesen 13 Jahren von 13,5 Prozent (1999) auf fast 18,0 Prozent (2012) an (eigene Berechnungen; außerdem: Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, Tab. I1-1a). Seit 1995 hat sich die Anzahl der Studienanfängerinnen und -anfänger nahezu verdoppelt. Trotzdem sind Akademikerinnen und Akademiker nach wie vor die Beschäftigtengruppe mit dem niedrigsten Arbeitslosigkeitsrisiko nach ihrem Berufsabschluss.
Der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit sieht die Gründe für diese Entwicklung in der Computerisierung der Arbeitswelt, in der sogenannten organisatorischen Revolution in den Betrieben, in den immer wichtiger werdenden „Multitasking-Arbeiten“ und in der Verlagerung einfacher Tätigkeiten ins Ausland. „Heute zeigt sich in allen unseren Daten ein Trend zur Höherqualifizierung.“ (Keuler 2013, S. 59)
Im Durchschnitt verdient eine Akademikerin bzw. ein Akademiker natürlich mehr als eine beruflich ausgebildete Arbeitnehmerin bzw. ein beruflich ausgebildeter Arbeitnehmer. Theoretisch könnten eine weitere empirisch beobachtbare Langfristentwicklung – die Verlagerung der Produktionsschwerpunkte in den Dienstleistungsbereich (Reuter 2010, unter Bezug auf Jean Fourastié) – sowie der zunehmende Bedarf an wissenschaftlichem Personal eine große Chance für die Arbeitnehmerseite darstellen. Wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die geringeren Rationalisierungsmöglichkeiten im tertiären Sektor und die größere Bedeutung von Bildung immer wichtiger werden, müssten sie eigentlich den verstärkten Kampf um den kleiner werdenden Mehrwert der kapitalistischen Produktion (Reuter 2010, unter Bezug auf Keynes) stärker für sich entscheiden können. Die höhere Nachfrage nach Akademikerinnen und Akademikern müsste sich eigentlich als „Aufwertung“ von Bildung für jede bzw. jeden, die bzw. der sich bildet, in einem guten Leben niederschlagen.
Das heißt, für die Arbeitgeber müssten diese Prozesse eigentlich mit höheren Lohnkosten einhergehen. Für die deutsche Kapitalseite kommt hinzu, dass sie im internationalen Vergleich besonders viel für Akademikerinnen und Akademiker bezahlen muss. Denn in Deutschland ist der Anteil der akademischen Beschäftigten im internationalen Vergleich eher gering. Nach den aktuellen Zahlen der OECD sind deutsche Akademikerinnen und Akademiker die „zweitteuersten“ in einem Ranking, das 21 OECD-Staaten umfasst (eigene Berechnungen; außerdem: OECD 2014). Betrachtet man den internationalen Standortwettbewerb aber empirisch, so wird deutlich: Diese Kosten scheinen durch die steigende Produktivität der deutschen Betriebe (siehe die Exportdominanz in vielen Branchen und die Entwicklung der Gewinne), die durch das zunehmende wissenschaftlich ausgebildete Personal wohl stark verbessert wird, mehr als kompensiert zu werden.
In der weiteren Betrachtung soll folgende These geprüft werden: Für die Kapitalseite ist mehr wissenschaftliches Personal trotzdem gleichbedeutend mit der Erhöhung des Inputs eines „zu teuren“ Produktionsfaktors. Sowohl alle Einzelkapitalisten als auch deren Verbände werden wahrscheinlich ein Interesse daran haben, nach Wegen zu suchen, um die Kosten des zunehmend benötigten Produktionsfaktors „wissenschaftlich ausgebildete Arbeit“ zu senken um ihre Profite zu steigern. Dieses Interesse an einer Kostensenkung von Produktionsfaktoren hat theoretisch keine natürliche Grenze bzw. darf in der Ideologie der Wettbewerbslogik eines international deregulierten Kapitalismus für die Kapitaleigner keine Grenze haben. Es geht also um die Maximierung der Profite, die aus besserer Bildung und erhöhter Produktivität entstehen. Die Frage ist auch, wie in der heutigen Produktionsweise (High-Tech, Tertiarisierung) und bei der langfristigen wirtschaftlichen Entwicklung (Wachstumsrückgänge = Sättigungstendenzen?) Profite gesteigert werden: über Absatzsteigerungen oder über Kostensenkungen?
Für die Beschäftigten stellt sich deshalb die Frage: Werden sie für ihre zunehmende Bildungsarbeit, ihre daraus folgende bessere „Employability“ und ihre höhere Produktivität höher entlohnt? Oder wird dieser Mehrwert über zu geringe Lohnsteigerungen von der Kapitalseite abgegriffen? Wird Bildung also zugunsten der Kapitalseite entwertet? Lassen sich Strategien der Kapitalseite empirisch beobachten, die auf eine „Entwertung von Bildung“ der Arbeitnehmerinnen und Akademiker abzielen? Handelt es sich also um eine „Akkumulation“ der Kapitalseite durch eine „Enteignung“ der verbesserten Einkommensmöglichkeiten der immer besser ausgebildeten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?
Bisherige Bildungsentwertung als „Landnahmen“
Schon auf das kurzzeitige Absinken der Profitraten seit den 1970er Jahren durch zurückgehende Wachstumsraten und die zunehmende Tertiarisierung scheinen die Kapitaleigner mit einer forcierten „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey 2005) reagiert zu haben. Mithilfe der neoliberalen Wirtschaftswissenschaft als sinnstiftender Diskurswaffe, vertreten von den neoliberalen Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftlern als „organischen Intellektuellen“ (Gramsci), gelang es den Kapitalfraktionen seit den 1970er Jahren, in einem doppelten Angriff (Entstaatlichung durch Absenkung der Steuern und Privatisierung) auf die kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten als Gewinner aus diesen kapitalistischen Langfristentwicklungen hervorzugehen. Durch diese „Landnahme“, die vor allem auch eine Senkung der Löhne beinhaltete, gelang es dem Kapital, seine Profitraten auf Kosten der Bevölkerung sogar zu steigern: „Bereits in der Vergangenheit hat sich […] gezeigt, dass trotz geringer werdender wirtschaftlicher Zuwächse die Gewinne und die Vermögenseinkommen weiter deutlich gestiegen sind, sodass für die Beschäftigten und die breite Bevölkerung zeitweise sogar reale Einkommensverluste zu verzeichnen waren. Hierdurch hat sich die Spaltung der Gesellschaft weiter verschärft.“ (Reuter 2014, S. 557)
Gerade wegen der Agenda 2010 (über Leiharbeit, Hartz IV etc.) hat Deutschland in der jüngeren Vergangenheit über eine Disziplinierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eine noch nicht dagewesene Absenkung der Reallöhne für nahezu eine ganze Dekade erlebt. Betroffen waren bisher vor allem mittlere und untere Lohngruppen durch den Aufbau eines riesigen Niedriglohnsektors. Im Jahr 2012 arbeiteten schon 24,3 Prozent aller lohnabhängig Beschäftigten im Niedriglohnsektor (eine Zunahme seit 1995 um 42 Prozent). Es ist eine skandalöse Entwertung beruflicher und teilweise auch akademischer Bildung: Fast 67 Prozent dieser Niedriglohnempfängerinnen und -empfänger haben eine berufliche Ausbildung, und 8,6 Prozent haben sogar einen Hochschulabschluss (Kalina/Weinkopf 2014). Dieser riesigen Entwertung der beruflichen Bildung muss entgegengewirkt werden, und sie sollte sich nicht als „Geschäftsmodell“ etablieren. Nicht nur wegen der Menschen selbst, sondern weil sie die Gesellschaft einer großen sozialen Verunsicherung und strukturellen Gewalt aussetzt.
Nun scheinen die Arbeitgeberfraktionen aber auch auf die Langfristentwicklung der Akademisierung der Lohnabhängigen eine neue wirksame Antwort gefunden zu haben, die eventuell eine neue „Akkumulation der Enteignung“ vorantreibt und damit eine neue Runde der „inneren Landnahme“ zulasten der Bevölkerung und einer demokratischen Gesellschaft einleitet. Hier scheint die Analyse des Soziologen Klaus Dörre zuzutreffen, der zufolge der „Modus Operandi“ dieser weiteren Landnahme „auf höchst unterschiedlichen Formen der Staatsintervention“ beruht (Dörre/Lessenich/Rosa 2012, S. 44), die von Kapitalfraktionen vorangetrieben wird. Dabei geht es – so die hier vertretene These – seit ca. 2006 vor allem um die stärkere „Rekommodifizierung von [wissenschaftlicher und damit hochpreisiger] Arbeitskraft“ (Dörre/Lessenich/Rosa 2012, S. 44), die bisher noch stärkeren Marktzugangsrestriktionen unterlag.
Die neue Landnahmestrategie des Kapitals
Die konservative Bildungsstaatlichkeit dominiert das Bildungs- und Ausbildungssystem in Deutschland noch immer in seinen Grundzügen, wiewohl es sich seit einiger Zeit im Wandel befindet. Mit „konservativer Bildungsstaatlichkeit“ ist die Art und Weise bezeichnet, wie in (West-)Deutschland das Bildungssystem aufgrund konservativer politischer Mehrheiten seit der Weimarer Republik bis weit in die 1970er Jahre ausgestaltet wurde. Sie beinhaltet viele bis in die Gegenwart hinein wirkende Strukturkennzeichen wie beispielsweise (damals) weitgehend fehlende staatliche Vorschuleinrichtungen, die klassische Dreigliedrigkeit (bzw. Vielgliedrigkeit) der Sekundarstufe, den geringen Hochschulzugang oder das duale System. Der ganze sogenannte Care-Bereich (Kinderbetreuung, Pflege etc.) wurde im konservativen System einfach den „Hausfrauen“ verordnet, während in anderen Staaten sozialstaatliche oder marktförmige Lösungen gefunden wurden. Die konservative Bildungsstaatlichkeit sorgte bisher durch ihre hohe soziale Selektivität und durch das duale System auch für die im internationalen Vergleich geringe Anzahl von Akademikerinnen und Akademikern. Diese geringe Anzahl ist es, die Akademikerinnen und Akademiker bisher relativ teuer machen.
Der frauenerwerbsunfreundliche deutsche Bildungs- und Sozialstaat (der z.B. lange Zeit praktisch ohne Kitas war) sorgte außerdem dafür, dass die Mehrheit der Frauen dem Arbeitsmarkt bisher nur eingeschränkt zu Verfügung stehen konnte. Über eine verstärkte Konstruktion von Geschlecht wurden die Frauen in den Wirtschaftswunderjahren aus vielen (gut bezahlten) Arbeitsmärkten gedrängt bzw. gar nicht erst hineingelassen.
Nicht erst seit der Finanzkrise suchen die dominanten Kapitalfraktionen in Deutschland nach Möglichkeiten der Erhöhung der Profite über eine Senkung der (Akademiker-)Löhne. Dazu haben die Arbeitgeber seit einigen Jahren verschiedene bildungspolitische Kampagnen lanciert, in denen sie unter anderem die oben genannten Restriktionen beim Zugang zur akademischen Bildung angreifen. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise ihr Einsatz gegen den hoch umstrittenen „Fachkräftemangel“ (kritisch dazu z.B. Brenke 2012), für eine Erhöhung der Anzahl der Akademikerinnen und Akademiker, für einen Ausbau der vorschulischen Bildung und gegen das Betreuungsgeld zu nennen (vgl. mit Anger u.a. 2012). Ergebnis dieser „bildungspolitischen Interventionen der Arbeitgeber“ (Kaphegyi 2013) könnte eine staatlich vorangetriebene „innere Landnahme“ innerhalb der konservativen Bildungsstaatlichkeit sein. Das konservative Ein-Ernährer-Hausfrauen-Familienmodell wird immer stärker aufgelöst.
Das Ziel der Arbeitgeber ist ein sogenanntes Adult-Worker-Model (vgl. hierzu auch Kapitel 7 in diesem MEMORANDUM), nach dem alle Erwachsenen ihren Lebensunterhalt selbst durch Erwerbsarbeit verdienen sollen. Damit verbunden ist auch ein neues Frauenbild, zu dem die partielle Delegation der frühkindlichen Erziehungsarbeit an vorschulische Bildungseinrichtungen und – wenn auch bislang nur zu einem ganz geringen Teil – an die Männer gehört. Brachliegende Arbeitskraftpotenziale (Frauen, mehr Akademikerinnen und Akademiker) sollen re-kommodifiziert und in die akademische Reservearmee zur Senkung der Akademikerlöhne eingegliedert werden. Dies gelingt durch einen Ausbau der Kitas und damit durch eine partielle Modernisierung der konservativen Bildungsstaatlichkeit.
Akademikerinnen haben für die Kapitalseite den zusätzlichen Vorteil, dass sie weniger verdienen als ihre männliche Konkurrenz. So hat sich empirisch bisher trotz aller Demografiepanik noch kein Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials bzw. der Zahl der Erwerbspersonen eingestellt. Das scheint vor allem auf die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen zurückzuführen zu sein.
Ebenfalls billiger als ihre deutsche Konkurrenz sind Akademikerinnen und Akademiker aus dem krisengeschüttelten Süden Europas. Auch hier hat die Fachkräftemangelkampagne der Arbeitgeber Früchte getragen. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hat hierbei in angeforderten Studien für das Bundesarbeitsministerium die entscheidenden Anstöße gegeben (z.B. Klös/Plünnecke 2011). Forderungen aus diesen Studien sind teilweise direkt in das Regierungshandeln übergegangen. So wurden beispielsweise Anwerbungskampagnen gestartet (z.B. „Make it in Germany“), und Mindestverdienstgrenzen für Ausländerinnen und Ausländer in bestimmten Berufszweigen (z.B. im Ingenieurwesen) wurden gesenkt. 2009 stieg der Anteil der neu zugewanderten Akademikerinnen und Akademiker an allen Neuzuwanderinnen und Neuzuwanderern von 33 auf 44 Prozent. Die Mehrheit von ihnen kam aus der EU (Seibert/Wapler 2012).
Die von Drittmitteln abhängige „unternehmerische Hochschule“ wiederum bietet der Kapitalseite verstärkt die Möglichkeit, die Kosten für Forschungsabteilungen an die staatlich finanzierten Hochschulen auszulagern. In der Kapitallogik der Kostensenkung erscheinen Projektteilfinanzierungen noch günstiger als die Beschäftigung von „eigenen“ Akademikerinnen und Akademikern – seien sie auch billiger als bisher. Die Hauptleidtragenden dieser Landnahme an den Universitäten sind die dortigen Beschäftigten, deren äußerst prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse völlig an Drittmittelzyklen ausgerichtet sind. Hier ist Lebensplanung kaum mehr möglich.
Rot-grün-schwarze Bildungspolitik erscheint als der momentane Erfüllungsgehilfe dieser Landnahme (siehe oben – der Modus Operandi der Landnahme sind Staatsinterventionen). Emanzipatorische Wünsche der Bevölkerung nach Wohlstand, Arbeit und Gleichberechtigung der Geschlechter (beispielsweise durch eine Kinderbetreuung in Kitas) befeuern tragischerweise diese „kapitalistische Häutung“. Solange das neoliberale Dogma der „schwarzen Null“ in Kombination mit dem neoliberalen Verbot der Erhöhung von Steuern auf Gewinne und Vermögen regiert, tragen die emanzipatorischen Wünsche der Bevölkerung durch die Politik von CDU/CSU, SPD und Grünen zwangsläufig zu einer „Akkumulation durch Enteignung“ (Harvey 2005) bei. Enteignet werden sollen auf Dauer wohl die Arbeitsplatzsicherheit und die relativ guten Einkommensmöglichkeiten der deutschen Akademikerinnen und Akademiker.
„Sozialdemokratisierter“ Bildungslobbyismus der Arbeitgeber – für „mehr Wachstum und Gerechtigkeit“?
Die Agenda der Kapitalseite in der Bildungspolitik hat sich also verändert. Das Erstaunliche an der heutigen gesellschaftlichen Debatte um „Entwertung von Bildung“, „Akademisierungswahn“ und „Bildungsinflation“ ist dabei, dass sich medial vor allem konservative (Journalistinnen und Journalisten, Professorinnen und Professoren, Bildungsverbandsfunktionärinnen und -funktionäre usw.) und neoliberale „Eliten“ (OECD, Arbeitgeberverbände, neoliberale Wirtschaftswissenschaft, Regierungsparteien usw.) darüber streiten, ob es dem Niveau der deutschen Bildung und ihrem „Endprodukt“ – dem „deutschen Humankapital“ – schadet, wenn mehr junge Menschen an die Hochschulen strömen.
Bis weit in die 1990er Jahre waren konservative und neoliberale Forderungen in der Bildungspolitik relativ kongruent: Gefordert wurden mehr Selektion, mehr Elite, stärkerer Wettbewerb usw. Der heutige Bildungslobbyismus der Arbeitgeber, wie er beispielsweise in Verbandsforderungen und Arbeiten ihrer Auftragswissenschaft zum Ausdruck kommt (z.B. in Publikationen des IW), hat sich von den reinen Vermarktlichungs- und Selektionsforderungen teilweise verabschiedet. Dominant ist heute auf der Arbeitgeberseite die Betonung eines kommenden „Fachkräftemangels“ aufgrund einer als problematisch dargestellten demografischen Entwicklung.
Der neue Bildungslobbyismus der Arbeitgeber wie auch der Regierungsparteien (CDU: „Bildungsrepublik“, SPD: „vorsorgender Sozialstaat“) wirkt vordergründig „sozialdemokratisiert“ und lässt sich in folgenden Forderungen zusammenfassen:
Ausbau der vorschulischen Bildung zur frühen Förderung auch bildungsferner Kinder und verstärkter Eintritt von Frauen in den Arbeitsmarkt;
eine bessere Bildungsbeteiligung sozial benachteiligter und bildungsferner Schichten auf allen Stufen des Bildungssystems, vor allem aber auch am Gymnasium und in den Hochschulen;
ein höherer Output an akademischen Fachkräften;
ein Ausbau der Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, z.B. durch die Steigerung des Drittmittelanteils an den Hochschulfinanzen;
mehr „Praxisorientierung“ in der Bildung, beispielsweise durch das Fach „Wirtschaft“ in der Schule zur Förderung „unternehmerischen Denkens“ oder durch den Aufbau von „dualen Hochschulen“ in der wissenschaftlichen Ausbildung;
höhere staatliche Bildungsausgaben durch die Re-Investition einer sogenannten demografischen Rendite. Gemeint ist hier die Forderung nach einem Belassen vermeintlicher Einsparungspotenziale durch den demografischen Schülerrückgang im Bildungssystem. Hinzu kommt die Forderung nach staatlicher Verantwortung auf den unteren Bildungsstufen.
Ökonomisch begründet werden solche Forderungen in den Publikationen des IW damit, dass die „wirtschaftswissenschaftliche Forschung“ infolge der „neuen“ oder „endogenen“ Wachstumstheorien“ „bewiesen“ habe, dass die Verbesserung des gesellschaftlichen Bildungsniveaus bei einem freien Spiel der Preise (vor allem der Löhne) zwangsläufig zu mehr Beschäftigung, mehr Teilhabe, mehr Wertschöpfung und mehr Wachstum führen werde.
Dies ist natürlich der falschen Gleichgewichtsannahme geschuldet, die auch die „neuen Wachstumstheorien“ aus der Neoklassik übernommen haben. Im MEMORANDUM wurden die Fehlannahmen dieser (gar nicht so neuen) Theorien schon des Öfteren ausführlich kritisiert (z.B. im MEMORANDUM 2006, S. 106ff.). Die Frage ist, ob hier neoliberale Wirtschaftswissenschaft einmal mehr als eine Art wissenschaftliches Alibi für eine Interessenpolitik der Kapitalseite dient, die von den eigentlichen ökonomischen Entwicklungen und den Profitinteressen ablenken soll und fälschlicherweise „mehr Wachstum und mehr Gerechtigkeit“ für alle verspricht.
Lassen sich Konsequenzen für die Akademikerlöhne feststellen?
Im Zuge des vielzitierten sogenannten Fachkräftemangels müssten sich eigentlich hohe Lohnzuwächse für arbeitende Akademikerinnen und Akademiker feststellen lassen. Hier muss man aber methodisch vorsichtig sein. Das IW als „Erfinder“ der „Fachkräftemangelkampagne“ preist immer wieder „Lohnzuwächse der Akademikerinnen und Akademiker“, indem Akademikerlöhne in Relation zu den sich verschlechternden Löhnen der beruflich ausgebildeten Lohngruppen dargestellt werden. Auch absolute Nennungen von Gehaltsgrößen helfen bei der Einschätzung von Lohnentwicklungen nicht weiter (vgl. IW 2012). Schon 2012 berichteten die Medien allerdings über eine Studie eines Hamburger Beratungsunternehmens und des Mannheimer Ökonomen Tom Krebs, in der festgestellt wurde, dass „trotz jahrelangen Wirtschaftswachstums […] in Deutschland […] nur die Gehälter von Managern gestiegen [sind]“. Die Gehälter „von Fachkräften mit Hochschulabschluss sowie von Facharbeitern und Sachbearbeitern seien zwischen 2005 und 2011 lediglich um sechs Prozent gestiegen“. Inflationsbereinigt bedeute dies laut Studie „ein Minus von vier Prozent“ (Die Welt, 09.11.2012).
Prekäre Arbeitsverhältnisse (Leiharbeit, Honorarverträge) haben sich ebenfalls schon bis weit in den Ingenieursbereich hinein ausgebreitet. Die Arbeitsmarktexperten des DIW stellten z.B. bereits 2011 fest: „In der letzten Dekade haben die Bruttostundenlöhne lediglich stagniert. […] Auch die Verschiebung der Tätigkeitsstruktur hin zu immer mehr anspruchsvollen Aufgaben hat der Lohnentwicklung keinen Schub gegeben […]. In den letzten fünf Jahren blieben auch die Empfänger mittlerer und höherer Entgelte mit ihren Gehaltssteigerungen hinter der Teuerung zurück.“ (Brenke/Grabka 2011, S. 3)
Dies gilt auch für das Jahr 2014. Gerade die Branchen, für die z.B. das IW seine interessengeleiteten Studien verfasst, scheinen unter anderem infolge der Fachkräftemangelkampagnen des IW Erfolge bei der „Akkumulation durch Enteignung“ zu verzeichnen. Brenke ergänzt dementsprechend 2014: „Hauptsächlich verantwortlich für den unzureichenden Lohnanstieg waren allerdings vor allem Wirtschaftszweige mit relativ hohen Arbeitsentgelten. Dazu zählen insbesondere bedeutende Industriezweige des Investitionsgüter produzierenden Gewerbes wie der Fahrzeugbau oder der Maschinenbau sowie die Chemieindustrie.“ (Brenke 2014, S. 772)
Die konservative Gegenbewegung: Der elitäre Kulturpessimismus verteidigt den sozial selektiven Zugang zur Hochschule
Schon seit sich die konservative Bildungsstaatlichkeit in (West-)Deutschland ausgeformt hat, wird sie begleitet von einem konservativen, kulturpessimistischen Wehklagen über eine „Verdummung der Jugend“, eine „Entwertung von Bildung“ und eine „Bildungsinflation“. Diese Erscheinungen würden durch eine scheinbar zu rasante Zunahme der Bildungsbeteiligung an Gymnasien und Hochschulen ausgelöst.
Diese elitär wirkende Angst, zumeist geäußert von Repräsentantinnen und Repräsentanten des gehobenen (Bildungs-)Bürgertums, wurde schon 1931 vom Philosophen Karl Jaspers zum Ausdruck gebracht. In einer Zeit, in der weniger als fünf Prozent eines Jahrgangs studierten, fühlte er sich von einer Demokratisierung in der Bildungsbeteiligung bedroht: „Das Massendasein an den Hochschulen hat die Tendenz die Wissenschaft als Wissenschaft zu vernichten.“ (Jaspers, zitiert nach Knauß 2013) Dass eine größere Beteiligung an der Wissenschaft wissenschaftliche Kriterien wie Intersubjektivität, belegbare Methodik oder Diskussion aushebeln soll, ist unlogisch. Da erscheint eher das Gegenteil plausibel: Eine Demokratisierung der Bildungsbeteiligung fördert das Ausbrechen wissenschaftlicher Erkenntnisse aus der Abhängigkeit vom Denken eines bildungsbürgerlichen Oberschichthabitus. Die kulturpessimistische Sicht auf die „Vermassung“ des akademischen Denkens basiert auf einem biologistischen, dem Rassismus ähnlichen, klassistischen Menschenbild – Klassismus bezeichnet Diskriminierungen aufgrund von sozialer Herkunft –, das eine Ausbreitung wissenschaftlicher Urteilsfähigkeit als Absenkung des Niveaus interpretiert.
Die konservativen Klagen scheinen gleichwohl leider Erfolg zu haben, denn die soziale Abgeschlossenheit akademischer Bildung hat sich bis heute weitgehend erhalten. Zwar hat sich zwischen 1995 und 2013 die Zahl der Neuzugänge an den Universitäten verdoppelt, und 2013 begannen erstmals mehr junge Menschen ein Studium als eine berufliche Ausbildung. Die sozioökonomische Herkunft der Studierenden bleibt aber sehr homogen: „Weiterhin zu beobachten ist […], dass anteilig immer weniger Studierende der Bildungsherkunft ‚niedrig‘ an den Hochschulen anzutreffen sind […]. [Es] bestehen nach wie vor Selektionsprozesse entlang sozialer Merkmale im Bildungsverlauf und damit letztendlich auch beim Zugang zur Hochschule.“ (Middendorf u.a. 2013, S. 14) Die Bildungsherkunft „niedrig“ bedeutet in dieser statistischen Erfassung des Deutschen Studentenwerks, dass maximal ein Elternteil über eine abgeschlossene berufliche Ausbildung verfügt. „Der Kohortenvergleich macht sichtbar, dass die Nutznießer der Bildungsexpansion sich im wesentlichen auf drei Klassen beschränken, wenn man den Nutzen an der Hochschulabsolventenquote misst: obere und untere Dienstklasse und Selbständige.“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 107) Die hohen Abbrecherquoten im Bachelor von bis zu 40 Prozent betreffen hauptsächlich junge Menschen aus den „unteren“ Klassen. Das heißt: Die neoliberal angestoßene Bildungsexpansion (scheinbarer Fachkräftemangel!) ist sozial selektiv. Untere Klassen profitieren bisher noch kaum davon. Wie versuchen sich also die sogenannten Dienstklassen gegen die Entwertung ihrer bildungspolitisch bisher erfolgreich verteidigten Privilegien zur Wehr zu setzen?
„Sozialdemokratisierter“ elitärer Kulturpessimismus – die aktuelle Klage über den „Akademisierungswahn“
Im angeblichen Interesse beruflich ausgebildeter und „handwerklich“ oder „haptisch begabter“ Menschen ergreifen meist Akademikerinnen und Akademiker aus den soziologisch als „obere Dienstklasse“ bezeichneten Berufsgruppen öffentlich das Wort und plädieren für ein Erstarken der dualen Ausbildung. Manchmal wird dies heute sogar verbunden mit einer auf halber Strecke stehenbleibenden Kritik an der Vielgliedrigkeit der deutschen Sekundarstufe („die Hauptschule darf nicht zur Restschule werden“).
Die Standards einer modernen, sich sozial gebenden kulturkonservativen Argumentation lieferte jüngst der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin (SPD), dessen Büchlein über den „Akademisierungswahn“ 2014 viel mediale Aufmerksamkeit in den sogenannten Leitmedien erfuhr. Nida-Rümelin aktualisiert die Rede von den „praktischen Talenten“ (z.B. FAZ vom 01.09.2013) und „handwerklichen Begabungen“ (z.B. taz vom 29.11.2014). Diese Fähigkeiten würden ökonomisch dringend benötigt. Gleichzeitig bezweifelt Nida-Rümelin, dass jemand mit solchen „Begabungen“ erfolgreich ein Studium absolvieren kann; eigentlich soll er auch nicht das Gymnasium besuchen. Zum paternalistischen Schutz dieser jungen Menschen vor einer falschen Studienentscheidung fordert er neue Begrenzungen des universitären Zugangs, z.B. durch (noch mehr) Zugangsprüfungen der Hochschulen. Nähmen alle diese jungen Leute ein Studium auf, so seine Logik, dann sorgten sie außerdem dafür, dass das Handwerk bzw. einträgliche „haptische“ Berufe ausgedünnt und zerstört werden. Rümelin prognostiziert, dass eine vermehrt akademische Berufswahl junger Leute zu einer Erhöhung der Jugendarbeitslosigkeit und einer abnehmenden sozialen Mobilität führen würde.
Er übersieht dabei, dass es ja die Unternehmen selbst sind, die weniger ausbilden: Sowohl die Ausbildungs- als auch die Ausbildungsbetriebsquote sind seit dem Jahr 2000 um ca. zehn Prozent zurückgegangen. Der Grund dafür liegt nicht – wie oft behauptet wird – darin, dass es aufgrund der demografischen Entwicklung keine Jugendlichen mehr gäbe und deshalb Lehrstellen unbesetzt blieben. Seit 1995 übersteigt vielmehr die Lehrstellennachfrage das Lehrstellenangebot deutlich, und es gibt seither de facto einen Bruch der Grundrechte junger Menschen auf freie Berufswahl (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 97ff.). Denn in einem Urteil von 1980 erklärte das Bundesverfassungsgericht, eine freie Berufswahl sei nur dann gesichert, wenn das Angebot die Nachfrage um 12,5 Prozent übersteige. Zwar sorgt(e) das duale System bisher für einen im internationalen Vergleich schnelleren und besser funktionierenden Übergang junger Menschen in den Beruf (kürzere Such- und Etablierungsprozesse) und hatte damit seinen Anteil an einer im internationalen Vergleich niedrigen Jugendarbeitslosigkeit. Der Prozentsatz derjenigen Jugendlichen, die eine Ausbildung suchen, aber im staatlich finanzierten Übergangssystem landen (und aus der Jugendarbeitslosenstatistik herausfallen), liegt aber trotz (im europäischen Vergleich) bester wirtschaftlicher Lage und demografisch zurückgehender Kohortengrößen bei skandalösen 26,6 Prozent.
Außerdem lässt sich auch innerhalb der beruflichen Ausbildung ein Akademisierungstrend feststellen: „Das duale System ist seit 2000 die Domäne von Schulabsolventen und -absolventinnen mit mittlerem Abschluss und Hochschulreife.“ (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012, S.103) In aktuellen Zahlen bedeutet das bei den nach schulischer Vorbildung sortierten und mit einer erfolgreichen Prüfung abgeschlossenen Ausbildungen (begonnen ab 2008): Ca. 23 Prozent kamen über die (Fach-)Hochschulreife in die Ausbildung, ca. 46 Prozent über einen mittleren Schulabschluss (z.B. Realschule), und nur noch ca. 28 Prozent der erfolgreichen Auszubildenden kamen von der Hauptschule (eigene Berechnungen nach Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 289). Etwa 40 Prozent aller Hauptschülerinnen und Hauptschüler landen inzwischen im Übergangssystem (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014, S. 99).
Es lässt sich also feststellen, dass die Unternehmen die Kosten-Nutzen-Relation der betrieblichen Ausbildung für mangelhaft halten. Sie fahren die Investition in sogenannte handwerkliche Begabungen langsam zurück, während die Anforderungen an die Jugendlichen schleichend steigen. Der Staat wird für diese unternehmerischen Ansprüche verstärkt in die Verantwortung genommen. Hier lässt sich ebenfalls eine Entwertung von Bildung konstatieren: Die gestiegenen Anforderungen an Absolventinnen und Absolventen bei der beruflichen Ausbildung drücken sich nicht in deutlich gestiegenen Gehältern für Auszubildende oder in höheren Löhnen in den (betrieblich ausgebildeten) Berufen aus. Von der höheren Produktivität im Unternehmen scheint also vor allem die Kapitalseite zu profitieren.
Was tun gegen die von der Kapitalseite angestrebte Entwertung von (wissenschaftlicher) Lohnarbeit?
Der Schwung des neoliberalen „Bildungsegalismus“ könnte möglicherweise genutzt werden, um einen weiteren Umbau des deutschen konservativen Wohlfahrtsstaats voranzutreiben:
Eine größere Bildungsbeteiligung auch bildungsferner Schichten an Schulen und Hochschulen ist richtig.
Der Ausbau der vorschulischen Bildung darf nicht abgebrochen werden.
Der deutsche Wohlfahrtsstaat muss unbedingt frauenerwerbsfreundlicher ausgestaltet werden.
Die Gretchenfrage bei diesen Reformprozessen ist die nach der Qualität der Reformen und damit nach der Finanzierung. Momentan wird beispielsweise im vorschulischen Bereich ein Kitaausbau auf Kosten der Qualität vorangetrieben. Dieser Ausbau, der vor allem auf den Schultern der unterfinanzierten Kommunen ruht, geht mit viel zu wenigen Mitteln einher. Einen Fachkräftemangel gibt es deshalb wirklich, nämlich innerhalb der sogenannten Care-Berufe. Die soziale Daseinsvorsorge und die Professionalisierung bzw. Akademisierung und Weiterentwicklung solcher Berufe aus dem konservativen Wohlfahrtsstaatsmodell hinaus ist eine wichtige und teure Aufgabe. Dabei steigen die Ausgaben z.B. im vorschulischen Bereich in Relation zum BIP zwar leicht an, gehen aber in Relation zur Anzahl der dort betreuten Kinder zurück.
Ein emanzipatorischer Aus- und Umbau des deutschen Bildungs- und Sozialsystems kann nur durch zusätzliche Mittel und höhere Steuern (z.B. auf Vermögen und Gewinne, siehe Kapitel 1 in diesem MEMORANDUM) finanziert werden. Das Ziel wäre ein Ausbau der öffentlich finanzierten, personenbezogenen Dienstleistungen, die gerade für Akademikerinnen und Akademiker und für zukünftig akademisierte Berufe eine Beschäftigung böten und ein verbessertes Netz der öffentlichen sozialen Daseinsvorsorge zur Verbesserung der Lebensqualität in Deutschland bilden könnten. Dafür müsste aber auch der quasi marktförmige Umbau des Bildungssystems zurückgefahren werden. Die Erpressbarkeit der „unternehmerischen Hochschule“ beispielsweise muss durch eine Erhöhung der staatlichen Grundmittel gestoppt werden.
Jetzige und künftige Akademikerinnen und Akademiker sollten durch eine verstärkte politische Bildung in den Betrieben und an den Hochschulen politisiert werden. Dies könnte eine Aufgabe von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen sein. Wenn wissenschaftlich ausgebildete Menschen aufgrund ihrer Zunahme an kulturellem Kapital auch weiterhin großenteils der Illusion erliegen, sie gehörten mehrheitlich zur herrschenden Klasse, werden sie sich kaum solidarisch den kommenden Zumutungen auf den Arbeitsmärkten und in den Betrieben entgegenstellen können. Wenn diese Kolleginnen und Kollegen weiterhin mehrheitlich ihr Heil in einer zeitgemäßen und unsolidarischen Selbstoptimierung suchen, werden Burn-out-Raten steigen und Akademikerlöhne stagnieren oder sogar sinken.
Gleichzeitig ist es wichtig, dass man sich den Profitwünschen der Kapitalseite gemeinsam auch mit anderen nichtakademischen Berufsgruppen sowie mit ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern solidarisch entgegenstellt. Es gilt, vor allem die schon lange massiv entwertete berufliche Ausbildung vieler Kolleginnen und Kollegen wieder angemessen in Wert zu setzen und den Niedriglohnbereich zurückzudrängen. Die Agenda 2010 ist nach wie vor verantwortlich für die bisher größte Entwertung von (hauptsächlich beruflicher) Bildung. Die momentane Hetze gegen Spartengewerkschaften und ein drohendes Gesetz zur Tarifeinheit zeigen, dass ein reiner Kampf für akademische Eigeninteressen leicht gesellschaftlich und politisch zu isolieren ist. Die Internationalisierung der Arbeitsmärkte macht überdies einen rein nationalen Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und gegen die Entwertung von Bildung weniger aussichtsreich als einen international vernetzten.
Literatur
Anger, Christina/Esselmann, Ina/Fischer, Mira/Plünnecke, Axel (2012): Bildungsmonitor 2012. Infrastruktur verbessern – Teilhabe sichern – Wachstumskräfte stärken. Forschungsbericht, Köln, im Internet: http://www.insm-bildungsmonitor.de/pdf/Forschungsbericht_BM_Langfassung.pdf.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2014): Bildung in Deutschland 2014, Bielefeld.
Brenke, Karl/Grabka, Markus M. (2011): Schwache Lohnentwicklung im letzten Jahrzehnt, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 45/2011, S. 3–15.
Brenke, Karl (2014): Sektorale Lohnentwicklung: Der Schlüssel zu stärkeren Lohnsteigerungen liegt in der Industrie, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 33/2014, S. 772–779, im Internet: http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.478721.de/14-33-3.pdf.
Brenke, Karl (2012): Ingenieure in Deutschland: Keine Knappheit abzusehen, in: DIW-Wochenbericht Nr. 11/2012, im Internet: http://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.394837.de/12-11-1.pdf.
Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut (2012): Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, 4. Auflage, Frankfurt/Main.
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