Die aktuelle Debatte in Deutschland und ihre HintergründeVeränderung des Hochschulzugangs
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst im Buch Im Klub der Auserwählten Soziale Selektion an der Universität. Analysen und Strategien. Herausgegeben von Sylvia Kuba. Erschienen bei Löcker, Wien. ISBN 978-3-85409-467-8. Wir danken der Herausgeberin und dem Autoren für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen.
Im internationalen Vergleich lassen sich zwei Grundformen des Hochschulzugangs unterscheiden. In der einen Variante bewerben sich die Studieninteressierten an einer Hochschule ihrer Wahl und werden in einem hochschuleigenen Aufnahmeverfahren zugelassen oder abgelehnt. Das Zulassungsrecht liegt bei der „aufnehmenden“ Institution. In der zweiten Variante sind die Studieninteressierten mit einem formalen Rechtstitel ausgestattet – im Regelfall der Abschluss einer weiterführenden Schule (Abitur) -, mit dem sie sich in einem Fach oder einer Fächerkombination ihrer Wahl an einer Hochschule ihrer Wahl einschreiben können. In diesem Fall sind die Individuen, konkret: die Nachfrager nach Studienplätzen, Träger des „Rechtes auf Bildung“.
Zwischen beiden Varianten gibt es natürliche vielfältige Übergänge und Mischformen, aber die Unterscheidung macht insofern Sinn als sich daran auch konträre Bildungsbegriffe und historische Bildungstraditionen in ihren Vor- und Nachteilen messen lassen. Beim ersten Modell, welches für die angelsächsischen Hochschulsysteme prägend ist, erfolgt die Studienzulassung als Top-down-Elitenauswahl in einem hierarchischen System ungleichwertiger Hochschulen. Die Selektionsquote – Anzahl der Bewerber im Verhältnis zu den tatsächlichen Zulassungen – steigt mit dem Prestige der jeweiligen Einrichtungen. Der berufliche und soziale Status der Absolventen ist nicht durch das Studienfach oder den Sachverhalt des Hochschulabschlusses „an sich“ determiniert, sondern durch den besonderen Stellenwert der jeweiligen Hochschule. Im zweiten Modell wählen die Studienberechtigten innerhalb eines breiten Systems relativ gleichwertiger Hochschulen und Studienangebote. Die beruflichen Perspektiven sind im Wesentlichen durch den konkreten wissenschaftlichen Abschluss – also Jurist, Volkswirt, Lehrer oder Informatiker - und weniger durch die Hochschulstandort – etwa Oxford, Harvard, München, Köln, Bochum oder Wien – bestimmt.
Das zweite Modell war bis in die Gegenwart für das deutsche Zulassungssystem prägend. Das ändert sich jetzt schlagartig. Ein Reihe von hochschulpolitischen Vereinbarungen und hochschulrechtlichen Änderungen auf der Ebene von Bund und Ländern strebt die sukzessive Übertragung des Zulassungsrechtes auf die Einzelhochschule an (vgl.: Kiel 2004; Günther 2004). Diese Vorgänge sind eingebettet in eine politische Rhetorik von „Dezentralisierung“, „Autonomie“ und „Wettbewerb“. Angestrebt ist eine Transformation, quasi der Übergang zu einem anderen Hochschulsystem. Dies ist verbunden mit einer juristischen Schwächung der Bildungsnachfrager gegenüber den Hochschulen als Institution. Umso mehr verwundert es, dass diese Änderungen kaum öffentlich registriert, geschweige denn diskutiert werden. Sie rufen keinerlei politische Proteste wie etwa die Pläne zur Einführung von Studiengebühren hervor.
Nach einem kurzen historischen Abriss werde ich mich im Folgenden mit den sich abzeichnenden bildungspolitischen Wirkungen dieser Neuregelungen der Hochschulzulassung beschäftigen.
Kurze historische Skizze der Hochschulzulassung
Im Jahre 1834 wurden in Preußen Hochschulaufnahmeprüfungen grundsätzlich abgeschafft. Die Herstellung der „Hochschulreife“ als pauschaler Attestierung einer Befähigung zum Studium wurde zur Sache des Schulsystems (Wissenschaftsrat 2004, 56f.), im Regelfall: der gymnasialen Oberstufe. Privat unterrichtete Schüler mussten etwa infolge dieser Regelung zum Erwerb der „Hochschulreife“ ein Externenabitur an einem staatlichen anerkannten Gymnasium ablegen. Diese Verfahren wurden umgehend von den anderen deutschen Teilstaaten kopiert. Damit war das deutsche Bildungssystem keineswegs „fortschrittlicher“ als andere mit Hochschuleingangsprüfungen. Es funktionierte nur ein wenig anders. Die wesentliche soziale Statuspassage – und damit auch Selektionshürde zur Reproduktion bildungsbürgerlicher Eliten – war der Zugang zum Gymnasium. Die Auseinandersetzung ging fortan darum, welche Pflichtfächer in der Schule eine „Studierfähigkeit“ attestieren würden und welcher Schulzweig als hochschulbefähigend anerkannt wurde. Während des gesamten 19. Jahrhunderts tobte etwa ein „Schulkrieg um die Hochschulreife“ (von Friedeburg 1992, 179), deren Kern die – sukzessive erfolgte – Anerkennung der nicht-humanistischen (d.h. nicht-altsprachlichen) Realgymnasien als Hochschulzugang (von Friedeburg 1992, 179-201) war. Frauen wurden in Deutschland erst seit 1909 generell zum Studium zugelassen.
In der sog. Hochschulexpansionsphase, die in Westdeutschland ähnlich wie in vergleichbaren Industriestaaten von Anfang der 60er bis ca. Mitte 70er Jahre währte und hier zu einer annähernden Verdreifachung der Hochschulkapazitäten (durch Neugründungen und den Ausbau traditioneller Einrichtungen) sowie einer drastischen Vermehrung der Studierendenzahlen führte, wurde das Konzept der schulischen „Hochschulreife“ im wesentlichen beibehalten. Zum Problem wurde der Hochschulzugang erst als die Zahl der Studienplatzbewerber den Umfang der finanzierten Studienplätze überstieg. Damals kamen erste Forderungen auf, die Zulassung stärker nach ökonomischen Bedarfsprognosen zu steuern bzw. die Hochschulen an der Studierendenauswahl zu beteiligen. Dem schob aber das sog. Numerus-Clausus-(NC-)Urteil des Bundesverfassungsgerichtes (Juli 1972) einen Riegel vor. Dessen Inhalt lässt sich so umschreiben, dass „das Grundrecht auf freie Wahl des Berufs und der Ausbildungsstätte ...... in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz und dem Sozialstaatsprinzip ein Recht auf den Zugang zum Hochschulstudium (begründe), das nur ...... dann eingeschränkt werden kann, wenn alle vorhandenen Ausbildungskapazitäten erschöpfend genutzt und alle „hochschulreifen“ Bewerber eine Chance erhalten würden.“ (von Friedeburg 1992, 422)
In der Konsequenz des Urteils wurde die Dortmunder Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) gegründet. Sie koordinierte die Verteilung von Studienplätzen in bundesweit zulassungsbeschränkten NC-Fächern. Der NC durfte erst dann in Kraft treten, wenn die jeweiligen Fächer ihre Kapazitäten maximal ausgeschöpft hatten. Die knappen Plätze wurden dann nach verschieden gewichteten sozialen und Leistungskriterien (wie der Abiturdurchschnittsnote) verteilt, ggf. kamen die Bewerber auf eine Warteliste, auf welcher sie aufrücken konnten. Im Kern handelt es sich bei diesen Verfahren um ein durchaus unbefriedigendes sozialbürokratisches System der Mängelverwaltung, bei welchem aber – und das ist ganz entscheidend – die Rechtsansprüche der Studienplatzbewerber höher wiegen als besondere Interessen der einzelnen Hochschulen, über eine „Eignung“ dieser Bewerber zu befinden.
Vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat
Von den führenden hochschulpolitischen Akteuren wurden im Verlauf der 90er Jahre die bestehenden Zulassungsregeln zunehmend als unbefriedigend angeprangert. Kongresse, Memoranden und Stellungnahmen, eine hektische Hintergrundarbeit von einflussreichen Think Tanks wie des Bertelsmann-Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), versuchten, politischen und massenmedialen Druck in Richtung gesetzlicher Änderungen zu erzeugen (ausführlich: Bultmann, Weitkamp 1999, 50-55). Im Vordergrund stand dabei zunächst die Klage, dass die „Studierfähigkeit“ und damit der Prognosewert des Abiturs rückläufig seien. Dies lässt sich jedoch allenfalls behaupten, aber nicht belegen. Die Ergebnisse der Bildungsforschung beweisen eher, dass es eine hohe Korrelation zwischen Schwerpunktfächern der schulischen Oberstufe, Studienfachwahl und Studienerfolg gibt. (Hoffacker 2004, 3). Doch selbst wenn es Gründe zu der Annahme einer mangelnden Koordination der verschiedenen Stufen des staatlichen Bildungssystems gäbe, wäre dies erst Recht kein Grund, die Schulen aus ihrer Verantwortung zu entlassen, sich gegebenenfalls in Richtung neuerer wissenschaftlicher Qualifikationsvorausssetzungen zu reformieren. „Denn Ausbildungsdefizite der Schulen sind durch Hochschuleingangsprüfungen allenfalls feststell- aber nicht behebbar.“ (Hoffacker 2004, 4)
Die insbesondere von Professorenverbänden vorgebrachte Klage über abnehmende „Eignung“ und rückläufige „Studierfähigkeit“ gehört im Übrigen seit Jahrzehnten zur Folklore hochschulpolitischer Rhetorik in Deutschland. Institutionelle Reformdefizite, finanzielle Engpässe und – nicht zuletzt - eigenes Unvermögen lässt sich auf diese Weise als „Defizit“ der Studierenden personalisieren, (Bultmann, Weitkamp 1999, 56ff), um stärkere Kontrollmechanismen des Hochschulzugangs zu rechtfertigen. Hier wird offenbar nach der Methode verfahren, für eine gewünschte „Lösung“ ein „passendes“ Problem zu erfinden.
Die Lösung einer hochschulinternen Studienplatzvergabe und einer sukzessiven Abschaffung der „Hochschulreife“ nährt sich in Wirklichkeit aus ganz anderen Gedankengängen und strategischen Zielsetzungen. In den 90er Jahren hat sich in den offiziellen Diskursen auch das Leitbild von Hochschulentwicklung nachhaltig verändert. Hochschulen werden immer weniger begriffen als Träger eines gesellschaftlichen Bildungsauftrages, sondern als Quasi-Unternehmen (Bultmann 1996), die in Konkurrenz miteinander auf einem Markt für ökonomisch nachgefragte Qualifikationen und Forschungsdienstleistungen eigene „Profile“ entwickeln. In den Worten des Chefs des CHE, Detlef Müller-Böling (2001, 10): „Grundlage für Wettbewerb ist die Handlungsfreiheit der Anbieter und Nachfrager von Leistungen. Planung und Vertrieb (sic! TB) von Studienangeboten gehören insoweit in die autonome Entscheidungskompetenz jeder einzelnen Hochschule.“ Kein gewerbliches Unternehmen lässt sich seine Mitarbeiter – per Gesetz oder Rechtsanspruch – zuweisen. Also ergibt sich daraus auch die logische Forderung, dass in dem Maße wie Hochschulen als miteinander konkurrierende Betriebe begriffen werden, sie sich ihre Studierenden auch in Übereinstimmung mit ihrem Angebotsprofil aussuchen dürfen müssen. Unter den Tisch fällt dabei allerdings, dass es mit der von Müller-Böling erwähnten „Freiheit der Nachfrager“ in diesem Modell nicht weit her ist. Um dieses den Studienplatzbewerbern dennoch schmackhaft zu machen, hat das CHE die rhetorische Figur der „doppelten Freiheit“ erfunden (kritisch dazu: Müller 2004, 223), welche Eingang in zahlreiche hochschulpolitische Dokumente gefunden hat: „Mit dem Recht der Studieninteressenten auf freie Wahl einer Hochschule korrespondiert das Recht der Hochschulen zur Auswahl der Studierenden.“ (Müller-Böling 2001, 3) In Wirklichkeit heben sich beide „Freiheiten“ gegenseitig auf. Wenn die Hochschulen autonom über die Zulassung entscheiden, dürfen die Studieninteressierten sich zwar immer noch bewerben, wo sie wollen, das ist dann aber auch alles! Ihren – in Resten noch vorhandenen – grundsätzlichen Rechtsanspruch auf Studienfach und -ort eigener Wahl verlieren sie.
Dieser politische Druck hat sein endgültiges Ziel noch keineswegs erreicht, aber deutliche Teilerfolge nach dem Prinzip der Salamitaktik zu verzeichnen. Bereits die 4. Novelle des Hochschulrahmengesetzes (HRG) des Bundes (1998) ermöglicht erstmalig eine „Selbstauswahl“-Quote für 24% der Studienplätze in Fächern mit bundesweitem Numerus Clausus (NC). Über die Verfahren in der Bandbreite von schriftlichen Tests bis hin zu „Eignungsgesprächen“ mit Professoren sollen die Hochschulen ausdrücklich selbst entscheiden. Diese machten von der neuen Möglichkeit allerdings kaum Gebrauch, da offenbar eine so geringe Quote weder „profilbildend“ wirkt noch den Verwaltungsaufwand, zumal bei gleich bleibenden finanziellen Ressourcen, rechtfertigt. Im Jahre 2003 verständigten sich die Kultusminister auf eine (fakultative) 50%ige Auswahlquote. Eine HRG-Änderung des Bundestages ermöglichte schließlich eine 60%ige Quote, begrenzt allerdings auf bundesweit zulassungsbeschränkte Fächer, wodurch die Regelung nur etwa 20% aller Studienplätze betrifft. Einzelne landesgesetzliche Sonderregelungen wie etwa in Baden-Württemberg erlauben jedoch bereits 90% hochschulinterner Studienplatzvergabe (Müller 2004, 228f.) in Fächern mit örtlichem NC (insgesamt werden in Baden-Württemberg mittlerweile nach Angaben des zuständigen Ministeriums effektiv 60% aller Studienanfängerplätze durch die Hochschulen selbst verteilt). Dem Ziel einer 100%igen Regelzuteilung von Studienberechtigungen durch die Hochschulen kommt man auf diese Weise in jedem Fall immer näher.
„Eignung“ wofür? – Der Verlust gesellschaftlicher Relevanz von Bildung
Ziehen wir zunächst ein Zwischenresumée. Das Thema „Hochschulzugang“ beschreibt einen seit etwa drei Jahrzehnten anhaltenden Konflikt, der offenbar jetzt einer Lösung zu getrieben werden soll. Im Kern geht es dabei um die zunehmende Relativierung des Rechtsanspruches auf freie Wahl eines Studienplatzes, wie er traditionell durch die „allgemeine Hochschulreife“ garantiert ist. Das Recht auf Zulassung zum Studium soll an Stelle dessen zunehmend auf die einzelnen Hochschulen übertragen werden. Dies geht einher mit populistischen Forderungen, die ZVS zu schließen. Auf sie wird das geballte Feuer neoliberaler Bürokratismuskritik konzentriert. Sprüche wie „meistgehasste Bildungsbehörde der Republik“ oder „Platzanweiserin der Nation“ sind in aller Munde und werden von recherchierfaulen bzw. an Hintergründen desinteressierten Medien gerne aufgegriffen. Viele Studierende, die das mühsame und aufwendige Zulassungsverfahren durchlaufen haben, sind eventuell geneigt, dem zuzustimmen. Dabei wird gerne übersehen, dass die ZVS gar keine Studienberechtigungen erteilt, sondern knappe Studienplätze nach halbwegs transparenten, wenn auch bürokratischen Kriterien verteilt. Das Problem der Knappheit hat sie aber nicht verursacht: „Wenn man nun in einem überfüllten Badeort keine Übernachtungsmöglichkeit findet und deshalb die Abschaffung der örtlichen Zimmervermittlung fordert, ist dies eine ziemlich unsinnige Forderung; denn gäbe es dieselbe nicht, stünden die Nachfrager nach Zimmern noch schlechter da.“ (Müller 2004, 225). Die Funktion der ZVS könnte folglich dadurch relativiert werden, dass die Finanzierung der Hochschulen wieder der studentischen Nachfrage angenähert würde. An solche Lösungen des Hochschulzugangsproblems ist aber ganz offensichtlich nicht gedacht. Vielmehr sollen die Studienplätze weiter knapp gehalten werden, um die Akzeptanz marktförmiger Zuteilungsverfahren zu stärken. Es geht also gar nicht um die ZVS, sondern um die im NC-Urteil von 1972 bekräftigte Auffassung des Hochschulzugangs als Rechtsanspruch, in dessen Folge die ZVS überhaupt erst eingerichtet wurde.
Was aber sind die gesellschaftlichen Konsequenzen der angestrebten Neuregelungen? Der deutsche Wissenschaftsrat, hierzulande das einflussreichste Gremium der Wissenschaftsplanung, hat 2004 in seinen „Empfehlungen zur Reform des Hochschulzugangs“ die Argumente für eine Übertragung des Zulassungsrechtes auf die Hochschulen noch einmal systematisiert. Der Akt der Zulassung selbst soll demzufolge stärker als „ein Mittel zur Förderung von Profilbildung und Wettbewerb“ (Wissenschaftsrat 2004, 6) verstanden wird. Schöner kann man es eigentlich nicht sagen: Die individuelle Aufnahme eines Studium ist weder ein Recht noch ein (Selbst-) Zweck, sie ist ein Mittel für etwas ganz anderes, d.h. für einen Maßstab, der außerhalb der Person des jeweiligen Bewerbers liegt! Dabei geht es also keineswegs um die technische Frage, wer einen Studienanspruch erteilt, ob eine Lehrerkollegium durch ein Abschlusszeugnis oder ein Auswahlausschuss von Professoren. Die gesellschaftliche Funktion des Hochschulzugangs wird eine völlig andere. Mit Hilfe „eignungsdiagnostischer Instrumente“ (ebd. 7) soll ganz offenbar die Kompatibilität der Bewerber mit dem spezifischen „Profil“ der Einzelhochschule, welches wiederum durch deren Stellung auf dem Bildungs- und Wissenschaftsmarkt bestimmt ist, ermittelt werden. Dies ist eine Selektion im doppelten Sinne. Erstens entscheiden die Hochschulen in letzter Konsequenz allein über die Zulassung - und produzieren im gleichen Umfang Ausschlussgründe. Zweitens wird nicht die umfassende Qualifikation des Bewerbers mit einem - wie auch immer beschaffenen - Objektivitätsanspruch als Grundlage einer Bewertung genommen, sondern diese Bewertung erfolgt selektiv im Hinblick auf das individuelle Marktprofil der einzelnen Hochschule und erfasst auf diese Weise immer nur einen flüchtigen verwertungsrelevanten Ausschnitt komplexer humaner Fähigkeiten. Der „Rest“ ist gesellschaftlich irrelevant und geht folglich als gesellschaftliches Handlungs- und Erkenntnispotential verloren.
Diese Kritik lässt sich noch weiter zuspitzen: zur eigentümlichen „Philosophie“ derartiger Auswahlverfahren gehört die Vorstellung, die Studierenden müssten zur jeweiligen Hochschule „passen“, noch genauer: zu den jeweils einflussbestimmenden Professoren. Dadurch werden diese Studierenden „weniger als Subjekte der Mitgestaltung an der Universität betrachtet, sondern eher als Auszubildende, als zu formende Objekte, die lediglich Wissen reproduzieren, nicht jedoch an der Wissensproduktion teilhaben.“ (Günther 2004, 49). Die Hochschule selbst wird dadurch zu einem statischen Ort, welcher Pluralität als Voraussetzung lebendiger Wissensproduktion beseitigt. Fazit: Hochschulinterne Studienplatzvergabe fördert Strukturkonservatismus und wirkt mit Blick auf die gesamte Gesellschaft innovationsfeindlich.
Soziale Selektion und zunehmende Intransparenz des Systems
Nach Angaben der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) gibt es in Deutschland derzeit ca. 9300 grundständige Studiengänge. Das gegenwärtige System einer staatlich-bürokratischen Studienplatzverwaltung und Qualitätssicherung dürfte weitaus transparenter sein als ein angestrebter Zustand, in dem auf einem deregulierten Bildungsmarkt diese Studiengänge nach je individuellen Marketingstrategien um durchschnittlich 350 Tsd. Studienplatzbewerber pro Jahr (2002) als „Kunden“ konkurrieren. Für die Schulabgänger ist dies eine Situation objektiver Überforderung und vollständiger Undurchschaubarkeit. Es gibt keinerlei Kriterien, nach denen sie die ihnen präsentierten Informationen bewerten und womit sie was vergleichen können. Zu erwarten ist, dass zur Koordination von Angebot und Nachfrage eine eigenständige professionelle Beratungsindustrie entsteht, die Hochschulaufnahmeprüfungen trainiert. In den USA kosten dementsprechende 6wöchige Kurse im Schnitt 800 bis 900 Dollar (Hoffacker 2004, 8). Agenturen, die sich verpflichten, eine erfolgreiche Studienbewerbung einzufädeln, erhalten schon mal ca. 30 Tsd. Dollar pro Klient. Insgesamt geben us-amerikanische Eltern jährlich 250 Millionen Dollar für Vorbereitungskurse aus. (Günther 2004, 49f.)
In den USA ist es zudem üblich, sich an bis zu zehn Hochschulen gleichzeitig zu bewerben. (Hoffacker 2004, 7). Das ist insofern ökonomisch rational gehandelt als mit der Anzahl der Bewerbungen auch die Wahrscheinlichkeit steigt, im gewünschten Studienfach einen Platz zu bekommen. Auch hierzulande werden vermutlich Mehrfachbewerbungen die Regel sein. Da die Kosten dafür (Reisen, Unterkunft) privat aufgebracht werden müssen, wachsen - zuzüglich der Inanspruchnahme von Beraterfirmen – mit der Höhe der jeweiligen Familieneinkommen auch die Studienchancen der Kinder. Dies geschähe dann in einem der ohnehin sozial selektivsten Bildungssysteme der Welt.
Hoffacker (2004, 7) hat nach ausdrücklich vorsichtigen und niedrig gehaltenen Schätzungen auf Seiten der Hochschulen ca. 240 Mill. Euro jährliche Verwaltungskosten für die Durchführung von Aufnahmeverfahren errechnet. Dazu kommt ungefähr noch einmal die gleiche Summe, die privat von den Studienplatzbewerbern aufzubringen ist. Es ist zu betonen, dass dies reine Transaktionskosten sind, die unmittelbar mit Bildung und Wissenschaft nichts zu tun haben, die vielmehr anfallen, um ein Vermittlungsproblem zu lösen, welches vorher künstlich produziert wurde.
Auch andere Blickwinkel auf Auswahlverfahren bekräftigen die Befürchtung, soziale Selektivität würde durch diese verstärkt. Irene Lischka (2004, 147) kommt nach einer Auswertung bisheriger „Eignungsgespräche“ zwischen Professoren und Bewerbern zu dem Schluss, dass gerade bei dieser Auswahlform „vorrangig sprachliche Kompetenzen“ bewertet werden und den Ausschlag für den Erfolg geben. Anders gesagt: Hier wirkt vor allem die gegenseitige Identifikation von bildungsbürgerlicher Herkunft und Habitus.
Schließlich ist zu befürchten, dass hochschulinterne Zulassungsverfahren zu einer Fehlsteuerung in der Verteilung und Besetzung von Studienplätzen führen. Wenn etwa das Zulassungsrecht komplett auf die Hochschulen übertragen wird, dann ist dies ein probates Mittel, die Studienanfängerzahlen zu senken. In der Konkurrenz mit anderen handelt etwa ein Fachbereich betriebswirtschaftlich rational, wenn er bestrebt ist, bei gleich bleibendem wissenschaftlichen Personalstamm und materiellen Ausstattungsbedingungen die Studierendenzahlen zu reduzieren – mit der vorgeschobenen Begründung, es seien zu wenig „Geeignete“ gefunden worden. (Müller 2004, 229). Die Leistungsbedingungen für eine geringere Zahl werden auf diese Weise verbessert, das Erfolgspotential im Wettbewerb wird erhöht. Bildungspolitisch und volkswirtschaftlich ist dies freilich komplett irrational.
Derartige Vorstöße finden in Deutschland derzeit in einer juristischen Grauzone statt. Denn durch das Kapazitätsrecht in Folge des 1972er-Numerus-Clausus-Urteils des Bundesverfassungsgerichtes (s. o.) sind die Hochschulen derzeit im Grundsatz noch verpflichtet, ihre Studienplatzangebote maximal auszulasten (wobei für alle vergleichbare Belastungskriterien gelten). Auf die Aufhebung dieser Regelung richtet sich daher der geballte Druck der einflussreichsten hochschulpolitischen Lobbyisten. Entweder wird die restlose Aufhebung des Kapazitätsrechtes für das gesamte Hochschulsystem gefordert (Müller-Böling 2001) oder man sucht – etwas vorsichtiger – wie der Wissenschaftsrat (2004, 46f.) zunächst nach Sprach- und Verfahrensregeln, dass zunächst einzelnen Hochschulen oder Fachbereichen „künftig die Möglichkeit, Auswahlverfahren auch ohne ex-ante-Festlegung von Zulassungszahlen durchzuführen …… eingeräumt werden (sic!)….“ Damit knüpft der Wissenschaftsrat explizit an die im Jahre 2004 künstlich losgetretene Debatte um die Notwenigkeit von „Eliteuniversitäten“ an. Diese vom Kapazitätsrecht frei gestellten Bereiche würden nämlich einen entsprechenden Sonderstatus erhalten. So würde eine weitere hierarchische Ausdifferenzierung des Hochschulsystems und eine entsprechende „kostenneutrale“ Umverteilung der „Studierendenströme“ sukzessive gefördert, bei welcher die exklusive Verbesserung der Studienbedingungen für wenige die Kehrseite einer Absenkung von Bildungsstandards für die Masse ist.
Fazit: Kein geeignetes Mittel!
Die Übertragung des Zulassungsrechtes auf die Hochschulen – in anderen Ländern mit anderen Bildungstraditionen durchaus üblich - würde innerhalb des Wechselspiels der deutschen Bildungsinstitutionen systemwidrige Fehlsteuerungen und Deformationen befördern . In der Summe würden mehr Probleme geschaffen als gelöst, immense Kosten für gesellschaftlich unsinnige Transaktionen erzeugt. Daher gibt es aktuell eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder man verfährt nach dem bekannten neoliberalen Motto: Wenn unsere Politik die Probleme verschärft, dann war nicht die Politik falsch, sondern die durch sie verabreichte Dosis noch zu niedrig! Oder aber man verlässt den begonnenen Weg wieder und bemüht sich um eine Reform der bestehenden gesellschaftlichen Bildungsverhältnisse. Dies umfasst mindestens eine Stärkung der Rechte der Bildungsnachfrager in Verbindung mit einer angemessenen öffentlichen Finanzierung einer breiten gesellschaftlichen Bildungsbeteiligung auf möglichst hohem Niveau. Die skandinavischen Länder machen es vor, dass auf diese Weise auch die gesamtökonomische Bilanz verbessert wird.
Literatur
Bultmann, Torsten (1996): Die standortgerechte Dienstleistungshochschule. In: PROKLA 104. S. 329-356
Bultmann, Torsten; Weitkamp, Rolf (1999): Hochschule in der Ökonomie (2.Auflg.). Marburg
von Friedeburg, Ludwig (1992): Bildungsreform in Deutschland – Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch. Frankfurt a. M.
Günther, Thomas (2004): Hürden vor dem Hochschulzugang – Neue Studienplatzvergabe und soziale Benachteiligung. In: Forum Wissenschaft 4/04. S. 47-50
Hoffacker, Werner (2004): Zu Nutzen und Kosten einer Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen. In: Das Hochschulwesen 1/2004. S. 2-11
Kiel, Sabine (2004): Willkommen im Club der Auserwählten! Die schleichende Veränderung des Hochschulzulassungsrechtes. In: BdWi/fzs (Hrsg.): Studiengebühren, Elitekonzeptionen & Agenda 2010.Marburg. S.13-16
Lischka, Irene (2004): Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen – ist nun blinder Aktionismus angesagt? In: Das Hochschulwesen 4/2004. S.144-150
Müller, Christoph (2004): Hochschulzulassung – Schieflagen einer Debatte. In: Das Hochschulwesen 6/2004.S.223-231
Müller-Böling, Detlef (November 2001): Für eine nachfrageorientierte Steuerung des Studienangebots an Hochschulen – Vorschläge zur Ablösung der Kapazitätsverordnung (Ms.). Berlin
Wissenschaftsrat (2004): Empfehlungen zur Reform des Hochschulzugangs. Köln
Der Autor
Torsten Bultmann, Jg. 1954, Bonn, studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik, arbeitete lange in der Studierendenbewegung und interessiert sich auch heute noch zäh für Hochschulpolitik. Er ist Bundesgeschäftsführer des Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi).