Erfolgsmodell oder Sackgasse?Bologna-Reform
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst im DSW-Journal 1/2008, dem Magazin des Deutschen Studentenwerks (DSW). Wir danken dem DSW für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen. Die Karikatur auf dem Titelbild (von der wir auch einen Ausschnitt für das Bildchen auf Homepage und HoPo aktuell genutzt haben) stammt von Wolfgang Horsch. |
DSW-Journal: Helmut Schwarz, der neue Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung, hat angesichts der stark verschulten Bachelor- und Master-Studiengänge gesagt, dass der Bologna-Prozess das Humboldtsche Ideal beerdigen wird, wenn wir nicht bald gegensteuern. Werden wir künftig nur noch Schmalspurabsolventen haben?
Kempen: Gegen die Einführung eines zweistufigen Universitätsstudiums ist grundsätzlich nichts einzuwenden, solange die wissenschaftliche Qualität gewahrt wird. Das universitäre Studium dient der Ausbildung durch Wissenschaft und beruht auf einer Lehre, die sich ständig aus der Forschung erneuert. Akademische Berufe wie Arzt, Lehrer, Richter, Pfarrer oder auch Ingenieur, Chemiker und Physiker, die ein hohes Maß an Eigenverantwortlichkeit voraussetzen, erfordern einen tiefergehenden Umgang mit Wissenschaft, als im Rahmen eines sechssemestrigen Bachelor-Studiums vermittelt werden kann. Per Gesetz gelten Bachelor-Absolventen als »berufsqualifiziert«. Verschulte Lehrpläne und haarklein festgelegte Module führen jedoch zu einem »Scheuklappen«-Studium, das den Blick nach rechts und links verstellt. Mit einem Studium, das es den Studierenden lediglich erlaubt, an der Oberfläche zu kratzen, werden wir nicht die Innovationsträger und Funktionseliten heranbilden, nach denen Politik und Wirtschaft in der weltweit konkurrierenden Wissens- und Informationsgesellschaft rufen. So schaffen wir nur »schmale Intelligenzen«.
Gaehtgens: Wir werden keine Schmalspurabsolventen bekommen, sondern den Studierenden Studiengänge anbieten, bei denen von Anfang an klar ist, was Inhalt des Studiums ist, welche Qualifikationen und Kompetenzen am Ende des Studiums erreicht worden sind, in denen die Betreuung in kleineren Gruppen deutlich verbessert wird und in denen man eine erste allgemeine, wissenschaftlich grundlegende Qualifizierung im Bachelorstudium ganz nach den eigenen Interessen und beruflichen Bedürfnissen mit weiterführenden Studiengängen später ergänzen kann. Dabei ist ganz besonders wichtig, dass diese Qualifizierung sowohl forschungsorientiert als auch mit einer stärkeren Ausrichtung auf Praxiskompetenz erfolgen kann. Die Kombination von Qualifizierungsmöglichkeiten kann im Laufe eines lernenden Beruflebens durchaus im Wechsel zwischen Lern- und Praxisphasen geschehen. Darin sehe ich eine große Chance. Auch im klassischen Studium ist die Erweiterung des Horizonts nicht in den ersten zwei oder drei Jahren, sondern erst nach einer längeren Studienzeit wirklich zustande gekommen.
Müller: Nicht nur die verschulten Bachelor- und Master-Studiengänge, sondern auch die Einführung von Studiengebühren zwingen einen Großteil der Studierendenschaft zur »Schmalspur« im Studium. Wissenschaftliches Lernen und studienplatzerhaltendes Arbeiten werden zur physischen und insbesondere psychischen Dauerbelastung, die dem Studierenden ein qualitativ hochwertiges Studieren eigentlich nicht mehr ermöglichen.
DSW-Journal: In Deutschland sollen die neuen Abschlüsse die Abbrecherquote senken, das Studium rascher, erfolgreicher und arbeitsmarktnäher machen. Ist das bei den derzeitigen Bedingungen der Hochschulen nicht Wunschdenken?
Gaehtgens: Sie haben Recht. Angesichts der derzeitigen Ausgestaltung der Hochschulen können wir die Möglichkeiten, die die Studienreform bietet, nicht in vollem Umfang realisieren. Aber auch jetzt schon wird deutlich, dass Absolventen mit einem Bachelorabschluss besonders in einem nachgefragten Studienfach sehr gute Chancen am Arbeitsmarkt haben, dass sie nach mindestens drei Jahren in aller Regel eine passende Stelle finden, zum Teil wie etwa in den Ingenieurwissenschaften oder der Informatik sogar ausgesprochen gesucht werden und dass die größere Transparenz und Praxisnähe der Ausbildungsgänge ein außerordentlicher Vorteil ist. Aber es ist zwingend notwendig, dass die Hochschulen die Möglichkeit erhalten, die Studierenden auch wirklich gut zu betreuen und die studienbegleitenden Prüfungen, die eine besondere Herausforderung darstellen, zu realisieren. Dafür brauchen wir mehr Professoren, mehr Dozenten, mehr Tutoren und eine bessere Ausstattung in Bibliotheken und Infrastruktur. Umsonst ist die Reform nicht zu haben.
Zur Person: Henriette Müller
23, geboren in Berlin, studiert seit 2004 Internationales Informationsmanagement mit den Nebenfächern Politik- und Literaturwissenschaften an der Universität Hildesheim. Henriette Müller ist Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Im Sommersemester 2008 geht sie als Erasmus-Studentin an die Universität Pablo de Olavide in Sevilla/Spanien und wird ab Oktober 2008 ein sechsmonatiges Praktikum im Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brüssel absolvieren. Henriette Müller war bis Ende Januar 2008 studentisches Mitglied im Verwaltungsrat des Studentenwerks Braunschweig.
Müller: Es ist deshalb Wunschdenken, weil die neumodisch betitelten Bachelor- und Masterprogramme überhaupt keine Garantie für einen angemessenen Berufseinstieg als Universitätsabsolvent/in gewährleisten. Arbeitsmarktnähe als auch Erfolg sind daher in Frage zu stellen.
Wenn die Politik ein verschulteres System an den Universitäten haben will, dann muss sie auch den »Service« einer Schule an den Universitäten gewährleisten. Wenn Service und »haarklein durchorganisierte« Module Pflicht sind, dann muss jeder Studierende, der einen Platz an der Universität bekommen hat, an allen Kursen in dem jeweiligen Semester teilnehmen können. Und Teilnehmerlisten dürfen nicht die Platzanzahl begrenzen, so dass man in die Warteschleife kommt und sein Studium nicht rechtzeitig abschließen kann.
In der Schule wird auch nicht einfach ausgelost, wer im Erdkundeleistungskurs sitzen darf und wer nicht. In Kombination mit diesem straffen Studienprogramm und den Studiengebühren ist es also sehr fraglich, ob sich durch die neuen Abschlüsse die Abbrecherquote wirklich senken lässt.
Kempen: Das Versprechen der 1999 beschlossenen Bologna-Reform, zu kleineren Lerngruppen zu gelangen, ist bis heute Makulatur geblieben. Statt der für die Umsetzung erforderlichen zusätzlichen Lehrkapazitäten sind seit 1995 trotz steigender Studierendenzahlen über 1500 Universitätsprofessuren abgebaut worden, so dass derzeit im Fächerdurchschnitt für sechzig Studierende ein Professor an einer deutschen Uni zur Verfügung steht. Wichtig ist, dass jetzt beherzt entgegengesteuert wird, da uns in den nächsten Jahren aufgrund geburtenstarker Jahrgänge und kürzerer Schulzeiten bis zum Abitur ein erfreulicher Zuwachs an Studierenden von derzeit knapp zwei auf 2,7 Millionen ins Haus stehen wird. Der bislang auf das Jahr 2010 datierte Hochschulpakt reicht finanziell vorne und hinten nicht, um die großen Herausforderungen, denen sich unsere Hochschulen gegenübersehen, zu bewältigen. Die erforderliche große nationale Anstrengung ist im Gestrüpp des Föderalismus mit den Eitelkeiten von Bund und Ländern vorerst nicht in Sicht. In jedem System kann man im Übrigen die Abbrecherquote durch Niveau- und Anforderungsreduzierung senken.
DSW-Journal: Die Stimmung des Hochschulpersonals ist eher kritisch gegenüber den neuen Studiengängen, ein Teil ist gar in die innere Emigration gegangen. Was muss getan werden, um die Herzen und Köpfe zu gewinnen, das Modell zum Erfolg zu bringen?
Gaehtgens: Die Zahl der Wissenschaftler, die die Chancen der Bologna-Reform sehen, wächst kontinuierlich. Aber die Reform bedeutet auch den Abschied von langjährigen Lehrgewohnheiten und Arbeitsweisen, für die man sich engagiert und in denen man sich eingebracht hat. Das ist nie leicht. Das Umdenken von »Input«- zu »Outcome«-Orientierung bedeutet ein völlig neues didaktisches Konzept. Es geht nicht mehr darum, all das in einen Studiengang hinein zu stopfen, was man weiß und für wichtig hält, sondern von den Studierenden her zu denken und zu fragen, was sie für ihr Studienziel tatsächlich brauchen. Das muss erst eingeübt werden.
Eine besondere Belastung aber ergibt sich aus der Tatsache, dass die Studienreform ganz ohne zusätzliche Mittel realisiert werden muss. Die vielfach ohnehin schon überlasteten Hochschullehrer haben erhebliche zusätzliche Mehrarbeit auf sich genommen. Man kann nicht erwarten, dass das nur Begeisterung auslöst. Hier, ich muss es noch einmal sagen, ist der Staat in der Pflicht, die Bologna-Reform mit ihrem vom Wissenschaftsrat bestätigten zusätzlichen Mittelbedarf von etwa 15 Prozent vernünftig zu ermöglichen.
Müller: Dem Hochschulpersonal bleibt die gesamte Arbeit überlassen. Die Studienordnungen müssen umgeschrieben werden. Fach- und Sachbezogenes kann kaum mehr berücksichtigt werden. Dies liegt vor allem an der Bologna-»Hauruck«-Reform, nicht am Hochschulpersonal.
Mein Lieblingsbeispiel ist immer die Abschaffung des Staatsexamens für das Lehramt. Die Universität ist nur verpflichtet, einen ersten berufsqualifizierenden Abschluss zu gewährleisten. Ist man nun nach drei Jahren schon ein vollwertiger Lehrer und was macht man, wenn man keinen Masterplatz bekommt? Interessant ist auch, wenn für einen neuen Studiengang Studenten aufgenommen werden, aber noch keine Studienordnung vorhanden ist. Wie sollen Dozenten/innen und Studierende hier qualitativ zusammenarbeiten können?
Bei jeder erfolgreichen Reform müssen alle Beteiligten mit einbezogen werden. Nur wenn Dozent/innen und Studierende an der Neustrukturierung des Hochschulwesens beteiligt werden, kann das Modell zum Erfolg werden.
Kempen: Die Reformen, die in Deutschland mit dem Bologna-Prozess verbunden sind, sind nicht aus den Hochschulen heraus erwachsen. Sie sind den Beteiligten von oben verordnet worden. Ihre Kritik wurde von der Politik nicht aufgenommen. Nicht der Wettbewerb entscheidet, ob die neuen den alten Studiengängen überlegen sind. Denn beide dürfen nicht nebeneinander bestehen.
Dabei kann man doch nicht ständig in Sonntagsreden über dem Wettbewerb verpflichtete, autonome Hochschulen predigen und gleichzeitig Studienstrukturen per staatlicher Verfügung festlegen. Nichts anderes bedeutet jedoch das ausnahmslose Diplomverbot und die flächendeckende Einführung von »Bachelor« und »Master«-Abschlüssen. Statt bei der Gestaltung der Studiengänge sach- und fachangemessen entscheiden zu können, welcher Studienabschluss für die jeweilige Disziplin der geeignete ist, wird stur auf die Unumkehrbarkeit des Prozesses hingewiesen. Das sorgt natürlich für Frust und innere Resignation.
DSW-Journal: Wir haben gut reden, wir haben alle noch unter den alten Bedingungen studiert. Wie sehen es denn die direkt Betroffenen, die Studierenden? Sind sie – wenn man das Bild der ZEIT vom »gigantischen Feldversuch« heranzieht – Versuchskaninchen?
Müller: Die Studierenden der neumodischen Bachelor- und Masterstudiengänge sind Versuchskaninchen. Dies gilt studienimmanent mit der Frage: Wie lange braucht ein junger Mensch, bis er ein Burn-out-Syndrom erleidet? als auch studienextern: Lassen sich die Wirtschaft, die Gesellschaft und der Arbeitsmarkt darauf ein? Unzureichend qualifizierte junge Menschen gibt es überall auf der Welt. Wenn Deutschland das »Land of Ideas« sein soll, müsste der Staat dann nicht daran interessiert sein, so qualitativ wie möglich auszubilden, um Kreativität, Intelligenz und Wissen anzureichern und zu entfalten? Ich denke nicht, dass das bei der momentanen Bachelor-Master-Struktur möglich ist. In diesem Zusammenhang bin ich sehr froh, noch auf Magister Artium zu studieren! Darüber hinaus unterbindet das neue System im Grunde genommen gesellschafts- und hochschulpolitisches Engagement der Studierenden.
Zur Person: Bernhard Kempen
48, geboren in Saarbrücken, studierte Rechtswissenschaften an der Universität des Saarlandes und promovierte an der Universität zu Köln, an der er sich auch im Jahr 1994 habilitierte. Seit 2000 ist Bernhard Kempen Mitglied im Präsidium, seit 2002 Vizepräsident und seit März 2004 Präsident des Deutschen Hochschulverbandes.
Kempen: Ich würde gerne eine andere Analogie aus der Tierwelt in diesem Zusammenhang bemühen: Mich erinnern die Studierenden von heute zum Teil eher an den berühmten Hamster im Laufrad. Das modularisierte und verschulte Studium lässt ihnen kaum Freiräume. Zeit für einen Blick über den Tellerrand des eigenen Fachs hinaus fehlt ebenso wie Zeit für erste Praxiserfahrungen im Ehrenamt oder einem studentischen Nebenjob. Das Studium als Fließbandarbeit – das kann nicht gut gehen. Achtzig Prozent der Studierenden trauen zudem dem Bachelor nicht und streben den Master an. Nicht jeder wird seinen Wunsch erfüllen können, da die Vergabe der Masterplätze staatlich quotiert werden wird. Das böse Erwachen aus dem »gigantischen Feldversuch« steht noch bevor.
Gaehtgens: Es ist kein Feldversuch. Aber es ist ein riesiger Reformprozess. Und der lässt sich nicht von einem Tag auf den anderen verwirklichen. Die Studierenden, die in der Umstellungszeit in die Hochschulen kommen, sind mehr als die Generationen vor und nach ihnen mit der Frage konfrontiert, wie sich die alten von den neuen Studienangeboten unterscheiden lassen. Ich habe inzwischen den Eindruck gewonnen, dass es zunehmend die Studierenden sind, die sehr überzeugt für die neue Studienreform eintreten. Wir sollten sie unterstützen und ermutigen. Sie sind auf einem Weg, der ihnen eine flexible, den persönlichen Bedürfnissen und dem Arbeitsmarkt angemessene Ausbildung ermöglicht. Der Umstellungsprozess selber wird noch eine Weile fortdauern. So gewaltige Reformen schafft man nicht über Nacht. Aber sie lohnen sich letztlich für alle.
DSW-Journal: Im europäischen Hochschulraum sollen mehr als 20 Millionen Studierende hoch mobil sein. Werden wir 2010 wirklich alle Studienleistungen problemlos anerkennen können?
Gaehtgens: Problemlose Anerkennung bedeutet nicht, Zulassung an allen Hochschulen ohne Prüfung der individuellen Qualifikationen. Dies muss deutlich sein. Die neuen Abschlüsse ermöglichen eine Bewerbung und bei entsprechender Qualifikation die Anerkennung im gesamten Bolognaraum. Aber alle Hochschulen müssen und sollen sich das Recht vorbehalten, die Qualifikation der Bewerber im Einzelnen mit Blick auf die Anforderungen im jeweiligen Studiengang zu überprüfen. Es ist sehr wichtig, dass wir das Missverständnis ausräumen, dass im Bolognaraum in Deutschland und in Europa alle Studiengänge so uniform gestaltet werden können, dass es auf die individuellen Voraussetzungen in der Mobilität nicht mehr ankommt.
Das können wir auch nicht wollen, denn die Vielfalt der Studienangebote ist ein großer Gewinn. Unter dieser Voraussetzung und wenn dies verstanden ist, dann gehe ich der Tat davon aus, dass in wenigen Jahren die Mobilität erheblich steigen wird und sehr viel leichter wird. Dazu gehört allerdings auch, dass gerade in der Bachelor-Phase zwischen den Hochschulen abgestimmte Studiengänge entstehen, die es den Studierenden ermöglichen, ohne Zeitverlust und ohne Nachholen von Wissensstand innerhalb von drei bis vier Jahren bis zum Bachelorabschluss einen Auslandsaufenthalt zu absolvieren. Hier liegt auch eine große Beratungsaufgabe, die die Mittlerorganisationen und die Verantwortlichen der Bologna-Reform gegenüber den Hochschulen haben.
Müller: Solange jede Universität sich ihre eigenen Studienordnungen ohne Bindung an irgendwelche wirklich tragbaren überuniversitären Richtlinien selbst ausdenken darf, wird schon der Wechsel von der Universität Hildesheim zur Leibniz Universität Hannover zu einer Hürde und es wird nicht nur ein Problem sein, Studienleistungen von Land zu Land anerkannt zu bekommen.
Dies gilt noch einmal für den Arbeitsmarkt: Woher bitte schön soll eine Firma oder eine Organisation wissen, worum es sich bei diesem oder jenem Titel handelt, der nicht einmal von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich ist, sondern von Universität zu Universität.
Kempen: Einen besonderen internationalen Rang, der auf den Typus eines international oder auch nur europäisch einheitlichen Hochschulabschlusses hinweist, besitzen die Titel »Bachelor« und »Master« nachweislich nicht. Allein in England gibt es vier verschiedene Formen des Bachelor-Abschlusses. Der in den USA verliehene Bachelor markiert den Abschluss der College-Ausbildung, die alles andere als ein Fachstudium ist. Einen Automatismus bei der Anerkennung von Studienabschlüssen hat es bislang nicht gegeben, und wird es auch 2010 nicht geben. Die deutschen »Bachelor« und »Master« bringen in dieser Hinsicht keinerlei Verbesserung gegenüber ihren Vorläufern »Magister« und »Diplom«. Wenn Bund und Länder nunmehr im Nachgang zum vierten Bologna-Nachfolgetreffen in London den bestehenden Mobilitätshindernissen unter anderem mittels gemeinsamer Studiengänge mit ausländischen Hochschulen (joint degrees) begegnen wollen, darf dies als ein stillschweigendes Eingeständnis dafür gewertet werden, dass das Bologna-Ziel einer deutlichen Vereinfachung der internationalen Anerkennung von Abschlüssen verfehlt wurde.
DSW-Journal: Ein Bachelor-Studium stellt wesentlich höhere zeitliche Anforderungen an Studierende und verlangt mehr Prüfungen. Gleichzeitig jobben aber zwei Drittel der Studierenden, für 40 Prozent ist die Studienfinanzierung unsicher. Ist der Bologna-Prozess blind gegenüber dieser sozialen Wirklichkeit?
Zur Person: Christiane Gaehtgens
51, geboren in Wilhelmshaven/Niedersachsen studierte Germanistik und Slawistik in Gießen und Bonn. Nach ihrer Promotion in vergleichenden Literaturwissenschaften in Bonn war sie für zwei Jahre als Postdoktorandin an der University of Washington in Seattle/USA. Seit 2003 ist Christiane Gaehtgens Generalsekretärin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in Bonn.
Kempen: Tatsächlich blendet der Bologna-Prozess die soziale Wirklichkeit aus. Das durchstrukturierte, »workload«-Studium mit zugestandenen sechs Wochen Urlaub und 40-Stunden-Woche geht an der Realität vorbei. Das alte System war in diesem Punkt flexibler. Der Zugang zu Bildung muss nach Maßgabe individueller Begabung – und nicht nach finanziellem oder sozialem Status – erfolgen. Es ist daher zu begrüßen, dass sich die Bundesregierung zu einer BAföG-Erhöhung durchgerungen hat. Nach mehrjähriger Durststrecke war dies überfällig. Regelmäßigere Anpassungen sind dringend geboten.
Gaehtgens: Es ist so nicht richtig, anzunehmen, dass die zeitlichen Anforderungen an Studierende in den Bachelorstudiengängen höher sind als bisher. Der so genannte studentische »workload«, der der Berechnung des Studienumfangs zugrunde liegt, fällt nicht unbedingt höher aus als in den traditionellen Studiengängen. Sie haben aber völlig Recht, wenn Sie feststellen, dass wir für Studierende, die ihre Zeit nicht zu 100 Prozent dem Studium widmen können, bisher keine vernünftigen Angebote in Deutschland haben. Die Entwicklung von Teilzeitangeboten ist eine wichtige Aufgabe. Gerade nach der Bologna-Reform ist es viel dringlicher geworden, strukturierte Studienmöglichkeiten für diejenigen zu bieten, die nebenbei arbeiten, eine Familie versorgen oder andere Verpflichtungen haben. Dazu gehört dann auch eine vernünftige Studienfinanzierung, die diesen Bedürfnissen Rechnung trägt. Blind gegenüber der sozialen Wirklichkeit, so denke ich, ist der Bologna-Prozess nicht, aber das Tempo der Reform darf die sozialen Belange und Anforderungen der Studierenden nicht in den Hintergrund drängen. In diesen Zusammenhang gehört übrigens auch die Gewährung von BAföG bei Auslandsaufenthalten, die zwischen der Bachelor- und der Master-Phase liegen.
Müller: Nicht zu vergessen die Einführung von Studiengebühren! Tatsächlich geht der Bologna-Prozess an der sozialen Wirklichkeit vorbei! Ein Studium nach individueller Begabung und Fähigkeiten muss möglich sein und nicht nach finanziellem Background. Auch das fördert Schmalspurintelligenzen! Einen Kredit aufzunehmen, käme für mich dabei nicht in Frage. Als junger Mensch möchte ich nicht von vornherein hoch verschuldet sein, wenn ich das erste Mal in die Arbeitswelt trete. Wer das von der Zukunft eines Landes verlangt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Jungen schon mal vorsorglich das Land verlassen, denn im Laufe des Lebens wird es schließlich nicht unbedingt besser.
DSW-Journal: Zum Schluss eine Bitte: Vervollständigen Sie den Satz: Der Bologna-Prozess im Jahr 2010 wird …
Gaehtgens: … soweit abgeschlossen sein, dass weithin erkennbar wird, dass diese Reform einen großen Fortschritt für die Studierenden und die Lehrenden in Deutschland bedeutet.
Müller: … eine Sackgasse bleiben, wenn man nicht endlich diejenigen fragt, die sich damit auskennen, nämlich die Lehrenden und Studierenden an den europäischen Hochschulen und Universitäten.
Kempen: … Blendwerk bleiben, wenn die Studienreform weiterhin über die Köpfe der Studierenden und Lehrenden hinweg administrativ vollzogen wird.
DSW-Journal: Wir danken für das Gespräch.