Bertelsmänner machen Panik„Akademikerschwemme“ und „Azubischwund“?
Um eine Prognose einschätzen zu können, sollte man die Hintergedanken derselben kennen …
Studis Online: Vor fast genau einem Jahr war von Julian Nida-Rümelin der Essay „Der Akademisierungswahn. Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung“ erschienen. Darin beklagt der Philosoph und einstige Kulturstaatsminister im Bundeskabinett von Ex-Kanzler Gerhard Schröder (SPD) eine Vernachlässigung der beruflichen Bildung in Deutschland bei einer gleichzeitigen Überhöhung der Hochschulbildung. In der Vorwoche hat die Bertelsmann Stiftung eine Studie veröffentlicht, die wie eine Bestätigung der Thesen Rümelins anmutet. Die Botschaft geht so: Hält der Run auf die Hochschulen an, werden Deutschland über kurz oder lang die Azubis ausgehen. Bereitet Ihnen das auch Sorge?
Gerd Bosbach: Nein. Heute gibt es auf alle Fälle noch genügend junge Leute, die gerne eine Lehre machen würden. Das Problem ist nur, dass man viele gar nicht lässt. Ein Mangel bestünde dann, wenn es weniger Bewerber als Stellen geben würde. Dem ist aber nicht so: Jahr für Jahr gehen Zehntausende Jugendliche bei der Vergabe der Ausbildungsplätze leer aus und landen in der sogenannten Wartschleife, also in Maßnahmen, die ihnen oft nicht weiterhelfen. Dazu kommen noch diejenigen, die nach erfolgloser Suche frustriert das Handtuch werfen und sich nicht mehr bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) melden. Damit fallen sie dann aus der Statistik raus. Bei der Darstellung der Bertelsmann Stiftung „Volle Hörsäle – leere Werkbänke“ stimmt nur Ersteres, die meist übervollen Hörsäle.
Wozu dann das Ganze?
Unser Interviewpartner Gerd Bosbach ist Professor für Statistik, Mathematik und empirische Wirtschafts- und Sozialforschung an der Hochschule Koblenz, Standort Remagen. Er ist als diplomierter Mathematiker und promovierter Statistiker zugleich einer der profiliertesten Kritiker der interessensgeleiteten Nutzung von Statistik. Einblicke in Methoden und Geheimnisse der amtlichen Statistik sowie den – mitunter missbräuchlichen – Umgang der Politik und anderer interessierter Kreise damit erhielt er während seiner Tätigkeit im Statistischen Bundesamt. 2011 war von Bosbach und dem Politologen Jens Jürgen Korff das Buch „Lügen mit Zahlen: Wie wir mit Statistiken manipuliert werden“ erschienen. Gemeinsam mit Korff betreibt er seither auch die Webseite „Lügen mit Zahlen“
Für mich wirkt das stark nach Panikmache. Es mag richtig sein, dass es nicht genügend Auszubildende mit einem ausgeprägt hohen Qualifikationsniveau gibt. Hier machen sich auch die Defizite bei der schulischen Ausbildung bemerkbar. Aber auch das ist nichts, was unveränderlich wäre. Zum Beispiel könnten die Betriebe selbst dafür sorgen, die Ausbildung aufzuwerten, etwa mit besseren Arbeitsbedingungen oder besserer Bezahlung. Die Betriebe könnten auch Zusatzangebote machen, die über das übliche Spezialgebiet hinausgehen und den Lehrlingen größere berufliche Perspektiven eröffnen.
2013 begannen erstmals mehr junge Leute ein Hochschulstudium als eine Berufsausbildung. Für die Bertelsmänner markiert das eine Zäsur, die praktisch unumkehrbar sein soll. Bei anhaltendem Trend müsste die deutsche Wirtschaft demnach in 15 Jahren mit 80.000 Lehrlingen weniger rechnen. Nida-Rümelin hat gar vor einer Lücke bei nichtakademischen Fachkräften von vier Millionen im Jahr 2030 gewarnt. Sie geben auf all dies nichts?
Ich bin überrascht, wie schnell sich die Zeiten ändern. Noch um die Jahrtausendwende herum war der sogenannte Akademikermangel das große Thema. Von da an drehte sich alles nur noch um das Ziel, die Zahl der Hochschüler und Absolventen in die Höhe zu treiben, auf möglichst 40 Prozent eines Jahrgangs. Vor fünf, sechs Jahren hieß es dann plötzlich, Deutschland steuere auf einen dramatischen Fachkräftemangel zu, wobei die vermeintliche Lücke vor allem bei den akademischen Fachkräften ausgemacht wurde, also bei Ingenieuren, Mathematikern und Naturwissenschaftlern. Jetzt sagt man: Halt! Stopp!, davon haben wir genug, woran es nun hapert, sind die Azubis. Das alles sind für mich keine fundierten, glaubwürdigen Prognosen. Es hat mehr etwas von Angstmacherei und Hermumgeeiere, weil offenbar keiner so recht weiß, welche Art von Ausbildung und Qualifikation es in Zukunft braucht. Und so treibt man dann alle paar Jahre eine neue Sau durchs Dorf.
Sie haben ohnehin Ihre Probleme mit Langzeitprognosen. In diesem Fall wird bis zum Jahr 2030 gerechnet. Wieso halten Sie solche Zeiträume für unüberschaubar?
Man versucht uns Deutschen ja seit langem weiszumachen, dass wir wegen der niedrigen Geburtenrate irgendwann einmal aussterben werden. Mit dem demographischen Totschlagargument wird dann auch so ziemlich jeder Einschnitt ins soziale Netz begründet: die Kürzung der Renten, höhere Krankenkassenbeiträge und allerhand mehr. Man stelle sich vor, 1950 wäre die Einwohnerzahl der Bundesrepublik für das Jahr 2000 prognostiziert worden. Seinerzeit wusste noch niemand von der Antibabypille, dem Zuzug von Ausländern, der Wiedervereinigung, der Grenzöffnung im Osten, dem Trend zur Kleinfamilie. All diese Strukturbrüche wären zwangsläufig übersehen worden. Genauso unmöglich ist es, heute wissen zu wollen, wie viele Deutsche es 2050 gibt. Da kann man auch gleich in die Glaskugel gucken.
Nun sind es im aktuellen Fall nur 15 Jahre. Ist Ihnen das auch zu viel der Vorsehung?
Seit 2000 hat sich der „Akademikermangel“ in nur 15 Jahren in einen „Akademisierungswahn“ verkehrt. Wie will man da absehen, was 2030 ist. Die Zeiten sind heute so schnelllebig, die technische Entwicklung geht so rasant voran, dass immer wieder neue Berufsbilder entstehen und andere wieder vergehen werden. Will man darauf eingestellt sein, muss man die Menschen möglichst breit ausbilden, also mit umfassendem Wissen und vielfältigen Fertigkeiten ausstatten, die sie je nach Erfordernissen flexibel einsetzen können. Man muss sie befähigen, immer wieder Neues dazulernen zu können. Das deutsche Bildungssystem macht praktisch das Gegenteil: Es teilt die Kinder schon früh auf verschiedene Bildungswege auf, in jene, die mal studieren, und jene, die mal Lehrlinge werden sollen. Und dann wird spezialisiert, um am Ende zielgenau bei einem Beruf zu landen. Nur wird der dann vielleicht fünf bis zehn Jahre später schon gar nicht mehr gebraucht.
Ist nicht genau das die Botschaft des Begriffs Akademisierungswahn? Man hat die Leute jahrelang dazu ermuntert, ein Hochschulstudium aufzunehmen – aktuell gibt es 2,7 Millionen Studierende und 57 Prozent eines Jahrgangs nehmen ein Studium auf – und nun sagt man ihnen plötzlich: Ätsch bätsch, eigentlich hättet ihr besser eine Ausbildung machen sollen.
Das ist natürlich ein Schlag ins Gesicht für die jungen Leute. Dahinter steckt auch viel Verlogenheit. Heute beteiligt sich mal gerade noch ein Fünftel aller Betriebe an der dualen Ausbildung. Wie kann man behaupten, der Wirtschaft drohe ein Lehrlingsmangel, wenn die große Mehrheit der Unternehmen gar keine Azubis nimmt. Außerdem leiden Lehrlinge in manchen Branchen unter sehr schlechter Bezahlung und überlangen Arbeitszeiten, zum Teil werden sie regelrecht ausgebeutet. Das alles hat erst mit dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen ihr Heil an die Hochschulen gesucht haben. Und nach all dem bläst man jetzt zum Rückmarsch an die Werkbank. Das ist eine Frechheit.
Aber eine, die mit vermeintlich objektiven Zahlen als Wahrheit verkauft wird …
Was davon zu halten ist, will ich mal am sogenannten Lehrermangel festmachen. In den zurückliegenden 40 Jahren kam es dreimal vor, dass urplötzlich viel zu wenige Pädagogen vorhanden waren, zumindest wollte man uns das glauben machen. Dabei geben die Geburtenstatistiken normalerweise verlässlich Aufschluss darüber, wie viele Kinder wann zu beschulen sind. Es wäre ein Leichtes für die politisch Verantwortlichen, sich darauf einzustellen und die Lehrerversorgung entsprechend zu steuern. Dass das in besagten Fällen nicht hinhaute, lag allein daran, dass seinerzeit massiv an der Lehrerausbildung gespart wurde. Was passierte dann? Die jungen Leute studierten plötzlich alle auf Lehramt und sieben, acht Jahre später gab es dann eine sogenannte Lehrerschwemme, was auch daran lag, dass die Klassenstärken – abermals aus Spargründen – nicht reduziert wurden.
Aktuell soll es wieder einen Lehrermangel geben, insbesondere in den Technik- und naturwissenschaftlichen Fächern. Andererseits stehen aber auch haufenweise Junglehrer auf der Straße.
Das ist auch so ein Fall von Fehlsteuerung, weil man tatenlos mit angesehen hat, wie die Leute die falschen Fächer studiert haben. Oder nehmen wir den angeblich demographisch bedingten Ärztemangel. Die Formel geht so: Alle werden älter, alte Menschen werden krank, und es gibt immer weniger Nachwuchsmediziner. Die Wahrheit ist, dass durch den seit vier Jahrzehnten bestehenden ultrastrengen Numerus clausus zigtausende Schulabgänger vom Medizinstudium abgehalten worden sind. Man wollte sie einfach nicht studieren lassen, weil das der Politik zu teuer war.
Ähnlich verhält es sich mit den Engpässen bei den Pflegeberufen. Es gibt trotz der schlechten Arbeits- und Lohnbedingungen immer noch sehr viele junge Menschen, die Kranken- oder Altenpfleger werden wollen. Allerdings haben die Pflegeschulen viel zu geringe Kapazitäten, und in sieben Bundesländern verlangen private und freie Träger sogar Schulgeld, das den Betroffenen gar nicht oder nur teilweise vom Staat erstattet wird. Das ist doch ein Unding angesichts des herrschen Pflegenotstandes. Das alles sind Beispiele dafür, wie junge Menschen Opfer politscher Plan- und Orientierungslosigkeit sowie vermeintlicher Sparzwänge werden können. Und das erleben wir jetzt einmal mehr.
Auch die Umstellung auf die Studiengänge Bachelor und Master im Rahmen der Bologna-Studienstrukturreform halten Kritiker für ein Sparmodell. Wie sehen Sie das?
Natürlich kostet die Ausbildung eines Bachelor mit drei Jahren Regelstudienzeit weniger als ein Diplom-Student, der fünf oder sechs Jahre bis zum Abschluss braucht. Trotzdem geht die Ausweitung der Studienkapazitäten für den Staat mit insgesamt immens viel höheren Kosten einher, und bei Beibehaltung der traditionellen Studienabschlüsse wäre alles noch viel teurer. Die Umstellung wurde aber vor allem von der Industrie gewollt. Mit dem Bachelor verbindet sie das Ziel, die jungen Leute schneller in die Berufswelt zu bekommen. Meines Erachtens ging es den Unternehmen aber auch darum, selbst in den Ausbildungsberufen zu sparen und den Nachwuchs an den Hochschulen ausbilden zu lassen, nach dem Motto: Besser ein BWL-Bachelor auf Staatskosten als ein Industriekaufmann auf eigene Rechnung.
Hat man sich dabei verkalkuliert? Heute klagen ja Teile der Wirtschaft, die Bachelor-Absolventen wären für sie nicht zu gebrauchen.
Ich erlebe das selbst an meiner Hochschule, dass Bachelor-Absolventen wieder kommen, und weiterstudieren, weil sie keinen Job finden konnten. Die Betroffenen sind erstens in der Regel zu jung, um Führungspositionen zu übernehmen, und zweitens verfügen sie nicht über das nötige Hintergrundwissen, um sich an verändernde Problemlagen anzupassen. Diese Fähigkeiten werden in dem gängigen Schnell-, Schmalspur- und Einpaukstudium einfach nicht mehr vermittelt. Und so langsam dämmert das auch den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Nur habe ich meine Zweifel, dass daraus die richtigen Schlüsse gezogen werden, indem man nämlich bei der Studienqualität nachbessert. In der Regel ist Panikmache der falsche Ratgeber für richtige Entscheidungen.
Was wären dann die falschen Schlüsse? Die Studienkapazitäten wieder einzudampfen?
Ich hätte nichts dagegen, wenn etwas weniger Menschen studieren würden, bloß muss man ihnen dann auch eine gute Alternative bieten. Lange Jahre wurde Jugendlichen eingeimpft, dass man nur als Akademiker ein richtiger Mensch ist und man es nur so zu etwas bringen kann. Damit wurden aber viele junge Leute mit stärkeren, anderen Qualitäten, etwa im handwerklichen Bereich, in falsche Richtungen gedrängt, dahin, wo sie fehl im Platz sind. Ich selbst kenne Betroffene, die zunächst im Studium scheitern mussten, um danach erst ihr berufliches Glück zu finden. Und außerdem ist das eine Beleidigung aller, die einer normalen Arbeit nachgehen!
Nida-Rümelin macht seinen „Akademisierungswahn“ nicht nur an der Masse der Studierenden fest. Er beklagt auch eine Verflachung und Beliebigkeit der Hochschulbildung. Sind Sie da auf einer Linie mit ihm?
Das sehe ich ähnlich. Ich halte nur nichts davon, meinen Zeigefinger auf die Jugend zu richten und zu sagen, ihr seid zu dumm. Junge Leute wissen und können heute viele Dinge, zu der frühere Generationen nicht in der Lage waren. Damit meine ich insbesondere Stärken im Umgang mit den neuen Medien, aber auch kommunikative Fähigkeiten. Mir fällt auf, dass Studierende heute viel besser Vorträge halten können, als dies früher der Fall war, während sie in dem, was man traditionell wissenschaftlich nennt, nicht so entwickelt sind. Aber was erwartet man auch, wenn mal eben ein Schuljahr bis zum Abitur weggenommen wird und ein Studium plötzlich nur noch drei statt wie davor fünf Jahre dauert?
Und wenn sich Studierende zu Hunderten in überfüllte Hörsäle quetschen …
Richtig. Meine Hochschule war ursprünglich auf 40 bis 60 Studierende pro Semester ausgelegt. Heute nehmen wir ohne Master-Studierende bis zu 180 Studienanfänger auf. Zwar gibt es inzwischen etwa zehn Prozent mehr Professoren, die Räumlichkeiten sind aber fast die gleichen wie vor 15 Jahren. Dass unter solchen Raum- und Personalbedingungen die Betreuung leidet, liegt auf der der Hand. Die junge Generation wird einfach nicht so ausgebildet, wie es für sie und wie es gesellschaftlich nötig wäre. Schon gar nicht passt das zum üblichen Klagelied, Deutschland werde am demographischen Wandel zugrundgehen. Wenn es schon angeblich so wenig Nachwuchs gibt, müssten wir die „wenigen“ doch vernünftig ausbilden. Fakt ist: Eine gute Ausbildung kostet viel Geld, das sich aber langfristig bezahlt macht. Nur leider denken Politiker und Unternehmer in viel kürzeren Perspektiven, und Effizienz bedeutet heute eigentlich nur noch, die Kosten zu drücken.
Denkt man das weiter, wäre es wohl am effizientesten, wenn Studierende und Azubis ihre Ausbildung gleich ganz aus eigener Tasche bezahlen. Sehen Sie die Gefahr?
In Privathochschulen ist das ja schon so. Für die breite Masse rechne ich erst einmal nicht damit nicht, allenfalls bei Zusatzangeboten. Andererseits lässt das Sparziel der Finanzminister, die sogenannte schwarze Null, nichts mehr unmöglich erscheinen. Und immerhin ist es – rein ökonomisch gedacht – billiger, gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Ausland abzuwerben, statt 25 Jahre lang in hier geborene Kinder zu investieren. Die gesellschaftlichen Auswirkungen wären allerdings katastrophal. Deshalb müssen wir den Gewinnmaximierern in der Wirtschaft und den Sparkommissaren in der Politik unbedingt Paroli bieten!
Soll das heißen, Flüchtlinge sollte man besser nicht ins Land lassen?
Ganz und gar nicht. Damit das nicht falsch verstanden wird: Ich empfinde Zuwanderung als Bereicherung für unsere Gesellschaft. Wenn sich darunter gute Fachkräfte befinden, dürfen die aber nicht als preisgünstige Konkurrenz gegen die einheimischen Fachkräfte ausgespielt werden. Wir sollten vielmehr das tun, was wir im vergangenen Jahrhundert so erfolgreich praktiziert haben: Die Arbeitszeiten massiv verkürzen und Arbeit auf möglichst alle verteilen. Im Laufe des 20. Jahrhundert wurden aus der 60- eine 40-Stunden-Woche, aus zwei Wochen Jahresurlaub sechs und die Lebensarbeitszeit verkürzte sich massiv. Im Jahr 1900 musste man noch ab dem 14. Lebensjahr bis zum 70. malochen. Im Jahr 2000 vom 20. bis etwa 65. Freuen wir uns doch über Zuwanderung und nutzen die Chance zur Veränderung. Das müssen wir aber den Unternehmern abtrotzen, genau wie ehedem. Die Industrie mag nämlich ein Heer qualifizierter Arbeitsloser, die sich gegenseitig Konkurrenz machen, viel lieber als eine gerechte Verteilung der Arbeit auf viele Schultern. (rw)