Ducken und durch!Die Mär von den unpolitischen Studierenden
Durchkommen ohne sich Zukunftschancen zu verbauen scheint das dominante Leitmotiv vieler Studierender zu sein.
Soweit erwartbar, könnte angenommen werden, ist „Politikverdrossenheit“ schon seit Jahren fester Bestandteil öffentlicher Debatten geworden. Wie alle gesellschaftlichen Gruppen gibt es sie auch bei Studierenden. Bildungsministerin Wanka zeigt sich jedoch irritiert über den Befund. Bei der Vorstellung des Surveys äußerte sie sich besorgt über das Desinteresse der künftigen Eliten.
Doch muss gefragt werden, was genau „unpolitisch“ bedeuten soll bzw. auf welchen Erwartungshaltungen jene Irritation über die Umfrageergebnisse beruht. Eine weitere Studie aus dem letzten Jahr zeichnet ein differenzierteres Bild. Der Erlanger Juraprofessor Streng befragte Studienanfänger/innen der Rechtswissenschaften von 1977 bis 2012 zu verschiedenen rechtlichen Sachverhalten. Das Fazit heute: mittlerweile ein Drittel aller Studierenden befürwortet die Wiedereinführung der Todesstrafe. Zu Beginn der Befragungen 1977 war es nur ein Zehntel. Nahezu die Hälfte der Befragten ist heute überdies für die Anwendung von Folter unter bestimmten Umständen.
Denken und Handeln ist politisch
Sind solche Einstellungen etwa nicht politisch? Wird hier nicht sinnbildlich nach der starken Hand gerufen? Die grassierende Politikverdrossenheit ist hochpolitisch! Eine „Konservatisierung“ der Studierenden. Sie korrespondiert mit gesellschaftlichen Trends, die beispielsweise in den PEGIDA-Demos ihren Ausdruck finden. Trotz sogenannter Politikverdrossenheit erleben wir eine wachsende Fremdenfeindlichkeit. Das untermauert eine dritte Untersuchung, diesmal unter Bachelor-Studierenden der Geistes- und Sozialwissenschaften an der Uni Osnabrück aus dem Sommer 2013. Sie fragte nach fremdenfeindlichen und chauvinistische Ressentiments. Ihr Ergebnis: Mit Aussagen wie „Deutsche Frauen sollten keine Juden oder Muslime heiraten“ konfrontiert, offenbarten bis zu 80 Prozent der Befragten fremdenfeindliche Grundeinstellungen. Die politischen Ansichten der Hochschüler/innen von heute entsprechen also durchaus dem gesellschaftlichen Querschnitt.
Karrierismus vs. kritisches Denken
Der Artikel erschien zuerst in der Ausgabe Sommersemester 2015 der Zeitung für Studierende read.me der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Sie wird vom Studierendenausschuss der GEW (BASS) erstellt und erscheint einmal im Semester.
Studis Online dankt für die Erlaubnis der Zweitveröffentlichung der Artikels.
Die Ergebnisse sind allesamt mehr als besorgniserregend. Doch gleichzeitig ist die angebliche Politikverdrossenheit nichts anderes als Ohnmacht und Unmut. Ohnmacht ob der gesellschaftlichen Verhältnisse, Unmut über die Reaktion der etablierten Politik auf diese. Die bereits angesprochene Irritation beruht auf einer Erwartungshaltung, die die Universität gewissermaßen als Hort politisch-progressiven Denkens betrachtet. Ein Bild, das mittlerweile eindeutig ins Reich der Mythen gehört – sofern es jemals zutraf.
Darin liegt der wohl wichtigste Befund des Erlanger Surveys: Der Großteil der Studierenden sieht sich selbst und die Hochschulwelt nicht als gesellschaftlichen Teilbereich, in dem politische Fragen beantwortet werden könnten. Vielmehr als eine Art „karrieristischen Durchlauferhitzer“: möglichst schnell durchkommen ohne anzuecken, um sich ja keine Zukunftschancen zu verbauen. Das ist das dominante Leitmotiv. Die Probleme da draußen liegen an den Fremden, und es möge sie bitte jemand anderes lösen, zur Not mit Gewalt.
Es handelt sich hierbei übrigens nicht um einen Bruch mit „biografischen Traditionen“ in Bezug auf die universitäre Lebensphase, sondern bloß um eine Verlagerung des „Karrierismus“ in jüngere Lebensphasen hinein. Die Erwartung, dass die Uni Lebensraum für emanzipatorische Ideen sein soll, artikulieren vor allem diejenigen, deren Studienzeit mit den Protestwellen der 60er, 70er und 80er Jahre zusammenfiel. Die – vorwiegend altlinke – Empörung über die „unpolitischen Studis“ der Gegenwart erscheint als plumpes Resultat der Diskrepanz zwischen ihrer verklärten Sicht auf ihr Studierendendasein und ihren heutigen (beruflichen) Verhältnissen.
Dabei sollte nicht vergessen werden, dass der „bundesweite Bildungsstreik“ 2009 noch weit über 200.000 Schüler/innen und Studierende auf die Straße zu bringen vermochte, eine Rekordzahl in der BRD-Geschichte. Neben praktischen Forderungen, wie etwa der Abschaffung von Studiengebühren und entmündigenden Anwesenheitslisten, wurde auch eben jene zunehmende „Verschulung“, also die Ausrichtung von akademischem Lernen auf Beruf und Karriere, kritisiert. Zwar ließe sich einwenden, dass von jenen hehren politischen Dimensionen wenig übrig blieb, nachdem die Studiengebühren abgeschafft wurden – ganz nach dem Motto: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“
Sieg der Ohnmacht
Gleichwohl greift diese Kritik zu kurz, wurzelt doch jedes kritische Bewusstsein zunächst in der eigenen sozio-ökonomischen Basis. Die Schwierigkeit, emanzipatorische Kritik mit gesamtgesellschaftlicher Perspektive zu formulieren, ist hinlänglich bekannt. Sie aufrecht zu erhalten und mit ihr zu mobilisieren, ist noch schwieriger. Beides ist aber keine originäre Unfähigkeit des studentischen Milieus. Erschwerend kommt hier aber der weitreichende Erfolg des Paradigmas der Bildung als bloßer Berufsausbildung hinzu. So engagieren sich kritisch denkende Studierende eher außerhalb der Hochschule, derzeit etwa in Kampagnen gegen die deutsche und europäische Flüchtlingspolitik.
Mit anderen Worten: Auch heute gibt es politisch aktive Studierende, nur eben außerhalb der Hochschulen. Studis und Schüler/innen sind also sehr wohl politisch, im Guten wie im Schlechten. Was aber fehlt, dass sie sich (wieder) als eine eigenständige Statusgruppe verstehen? Denn nur organisierte Gruppen haben das Potential, ein kritisches Bewusstsein auf solide Füße zu stellen und sich gegenseitig aus der Ohnmacht zu helfen. Hier liegen Ansatzpunkte für gewerkschaftliche Interventionen, ist es doch gerade die zentrale Kompetenz von Gewerkschaften, gesellschaftliche Gruppen dabei zu unterstützen, sich nach Innen wie Außen als eben solche zu konstituieren. Auf diesem Weg ließe sich einer angeblichen Entpolitisierung, anders gelesen der „Konservatisierung“ der Hochschulwelt, etwas entgegensetzen. – Bildet euch, bildet andere, bildet Banden!
Zum Autor
Philipp Möcklinghoff studiert Politikwissenschaften in Osnabrück. Daneben engagiert er sich für eine Zivilklausel für seine Uni und ist gewerkschaftlich aktiv.