Wirtschaft macht auf Caritas2.000 Stipendien für Arme
Studis Online: Am vergangenen Mittwoch stieg in Berlin die Veranstaltung "2.000 mal Zukunft – Bildungsgerechtigkeit ist möglich" des "gemeinnützigen Förderprogramms" Studienkompass. Dieses unterstützt gemäß Eigendarstellung "Schülerinnen und Schüler aus Familien ohne akademische Erfahrung bei der Aufnahme eines Studiums". Nun ist es bekanntlich so, dass Kinder aus ärmerem Elternhaus hierzulande ausgesprochen schlechte Chancen haben, eine akademische Laufbahn einzuschlagen. Studienkompass schreibt sich auf die Fahnen, das zu ändern. Sind Sie überzeugt?
Mike Nagler tritt in Leipzig im Wahlkreis 153 als parteiloser Direktkandidat für die Partei Die Linke zur Bundestagswahl an. Der diplomierte Architekt und Master of Science im Bauingenieurwesen ist Mitglied im Koordinierungskreis des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC und im Hochschulrat der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig (HTWK). Er war federführend an einer Reihe von Bürgerinitiativen (BIs) und Kampagnen in Leipzig beteiligt, aktuell an der BI für eine Privatisierungsbremse. Während seines Studiums war der heute 34jährige im StudentenRat (Stura) der HTWK aktiv und amtierte zeitweilig als Sprecher der Konferenz Sächsischer Studierendenschaften (KSS).
Mike Nagler: Nein, bin ich nicht. So schön diese Stipendien für die Auserwählten auch sind, so sehr sind es letztlich doch 2.000 Feigenblätter, die hier verteilt werden. Ich meine, man muss sich ja nur mal anschauen, wer hinter dieser Initiative steht – das sind vorrangig Unternehmen, Stiftungen und Verbände, die der deutschen Wirtschaft angehören. Die grundlegenden Probleme der bestehenden Chancenungerechtigkeiten im Bildungssystem werden mit dieser Form der Stipendienvergabe aber weder gelöst noch überhaupt angegangen. Im Gegenteil: Indem man diese eigentlich doch sehr geringe Zahl an jungen Menschen auswählt, blendet man aus, dass Millionen anderer Kinder und Jugendliche keine oder nur sehr geringe Chancen auf ein Hochschulstudium oder eine andere Form des selbstbestimmten Lernens haben.
Hinter dem Studienkompass stehen als Initiatoren die Deutsche Bank, die Stiftung der Deutschen Wirtschaft (sdw) und die Accenture-Stiftung sowie als "Partner" eine Reihe von Unternehmen, Stiftungen und Industrieverbänden. Was glauben Sie, warum solche Akteure Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien fördern?
Dabei geht es nach meinem Dafürhalten vor allem um PR zur Aufhübschung des eigenen Images und sicherlich auch darum, gezielt Nachwuchs für bestimmte Wirtschaftsbereiche zu gewinnen.
Sie meinen also, Selbstlosigkeit sollte man den Beteiligten nicht unterstellen?
Die Unterstützer dieser Initiative haben Ziele, aber Selbstlosigkeit gehört bei einem Unternehmen wie der Deutschen Bank ganz gewiss nicht dazu.
Es heißt, Deutschland steuere auf einen massiven Fachkräftemangel zu, dem zu begegnen ja vielleicht auch ein Motiv solcher Initiativen ist. Könnte man da nicht sagen: Gut ist alles, was die deutsche Wirtschaft voranbringt. Oder wie sehen Sie das?
Ganz anders. Es ist ganz bestimmt nicht alles gut, was die deutsche Wirtschaft voranbringt. Denn zur deutschen Wirtschaft gehört zum Beispiel auch die deutsche Rüstungsindustrie, die bei den weltweiten Waffenexporten Rang drei belegt. Und dazu gehört auch die Deutsche Bank, einer der Hauptunterstützer des Studienkompass-Programms. Die gibt sich mit dieser und anderen Initiativen ein wohlfeiles Image, während sie parallel dazu mit Nahrungsmitteln spekuliert, um nur eine der vielen Verfehlungen dieses Unternehmens zu nennen. Die Verbesserung der Reputation der jeweiligen Branche wird meist sogar explizit als eines der Ziele für derlei Kooperationen genannt.
Den Geförderten dürfte das alles herzlich egal sein, solange Ihnen das Programm eine bessere Zukunft beschert ...
Stipendien sind zwar "geschenkt", aber Interessen der GeldgeberInnen gibt es natürlich trotzdem ...
Gewiss ist dies den Geförderten egal, und ich werfe ihnen auch nicht vor, sich über ihre Stipendien zu freuen. Nur kann die Lösung für die Chancenungerechtigkeit des deutschen Bildungssystems nicht im – überspitzt ausgedrückt – Annehmen von Almosen der deutschen Wirtschaft bestehen. Was wir brauchen ist vielmehr ein elternunabhängiges BAföG. Denn Fakt ist, dass die bisherigen Stipendiensysteme versagt haben, wenn es um die Frage der sozialen Gerechtigkeit geht. So hat beispielsweise die Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) in einer 2009 vorgelegten Studie schon gezeigt, dass weniger als zehn Prozent der damals 20.000 Stipendiaten der Begabtenförderungswerke eine sogenannte "niedrige soziale Herkunft" haben.
Genau das spricht aber doch für den Studienkompass, oder nicht? Schließlich wird hier endlich mal etwas für die Benachteiligten getan.
Hier wird vielleicht etwas für 2.000 Benachteiligte getan, aber nicht für die breite Masse. Was wir hier sehen, ist im Grunde eine Privatisierung der Studienfinanzierung, wodurch letztlich verdeckt wird, dass es die staatlichen Finanzierungssysteme sind, die ausgebaut werden müssten.
Wie stellen Sie sich ein sozial gerechtes Studienfinanzierungssystem vor?
Die gerade erschienene 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks (DSW) hat erneut bestätigt, dass eine gute Ausbildung und die Möglichkeit zu studieren nach wie vor entscheidend vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Die in den vergangenen Jahren immer stärker werdende Verlagerung von staatlicher Studienfinanzierung hin zu leistungsbezogenen Stipendien muss umgekehrt werden. Anstatt privater Studienförderungen ist ein elternunabhängiges BAföG notwendig.
Wenn der Schwenk weg vom Staat hin zur Privatinitiative eine Art Masterplan ist, wieso hat dann gerade das sogenannte Deutschlandstipendium bisher nicht annähernd so eingeschlagen, wie die Macher, allen voran Ex-Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), sich das ausgemalt hatten. Warum hält sich die Wirtschaft bislang so merklich zurück? Das Ganze ist ja eine freiwillige Sache für Unternehmen. Wer etwas gibt, erwartet im Regelfall auch etwas davon zurück. Offenbar passt ein Engagement beim Deutschlandstipendium vielen Unternehmen nicht ins kurzfristige Kosten-Nutzen-Kalkül, oder der Bedarf an Fachkräften ist gar nicht so groß, wie immer behauptet wird. Genau daran zeigt sich aber: Studienförderung aus Privathand kann niemals echte Nachhaltigkeit entwickeln, weil Ausmaß und Qualität der Förderung denselben konjunkturellen Schwankungen unterliegen, wie die Wirtschaft selbst. Wirksamer wäre es deshalb, große Unternehmen und Vermögende durch Steuern und Abgaben an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen und auf diesem Wege eine sozial gerechte Studienförderung ins Werk zu setzen.
Die amtierende Bundesregierung tut allerdings den Teufel, das Deutschlandstipendium wieder einzustampfen. Das wirkt so, als wolle man den Erfolg erzwingen?
Das Programm wird mittlerweile durchaus stärker von den Hochschulen genutzt, aber der Ansatz ist prinzipiell ein falscher. Wenn man es ernst damit meint, sozialer Selektion entgegenzuwirken und unabhängige Lehre und Wissenschaft zu fördern, dann darf dies nicht Privaten überlassen werden – auch nicht anteilig. Zumal beim Deutschlandstipendium in der Praxis eine Menge Missverständnisse aufgetreten sind. Man denke nur an das, was die tageszeitung (taz) zu Jahresanfang berichtet hatte: Dass sich nämlich die förderwilligen Unternehmen die am Ende zum Zuge kommenden Stipendiaten weitgehend selbst aussuchen, obwohl dies vom Gesetz ausdrücklich untersagt ist.
Am Montag vor einer Woche hat die Bertelsmann Stiftung den sogenannten "Chancenspiegel 2013" veröffentlicht, der dem deutschen Bildungssystem weiterhin erheblichen Nachholbedarf in punkto "Chancengerechtigkeit" bescheinigt. Demnach gebe es zwar leichte Fortschritte, das Grundübel bestehe aber weiterhin, dass Bildung maßgeblich durch die soziale Herkunft determiniert ist. Soll das, allen Lippenbekenntnissen zum Trotz, vielleicht so bleiben? Für die Bertelsmann AG und ihre Stiftung ist die akademische Bildung in erster Linie ein Geschäft. Bildung wird als Markt gesehen, auf dem Geld zu verdienen ist, so wie es im GATS-Abkommen (General Agreement on Trade in Services, d. Red.) bereits verankert wurde. Man kann auch sagen, die Unzulänglichkeit des öffentlichen Bildungswesens auf der einen Seite eröffnet gewinnträchtige Geschäftsfelder für private Anbieter auf der anderen Seite. Diese haben dann ein Interesse, den Markt auszubauen, sprich: Öffentliche Bildung weiter zu verschlechtern.
Was würde es in Ihren Augen erfordern, wollte man das Problem ernsthaft angehen?
Statt die Spaltung in sogenannte Elite- und Massenhochschulen weiter voranzutreiben, muss eine ausgewogene öffentliche Hochschulfinanzierung in der Fläche gewährleistet werden. Generell hat der Einfluss von Wirtschaft und Industrieverbänden auf Bildung und Wissenschaft in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Sogar die Pisa-Studie hatte bereits Hinweise darauf geliefert, dass der Einfluss von Industrie und Wirtschaft nicht nur an Hochschulen, sondern bereits in den Schulen überdurchschnittlich hoch ist. Dieser "Trend" hängt direkt damit zusammen, dass sich der Staat immer mehr aus der Hochschulfinanzierung zurückzieht. De facto findet nach wie vor eine schleichende Privatisierung nicht nur bei der Studienförderung, sondern auch übergreifend an den Hochschulen statt. Die macht auch vor Lehr- und Forschungsinhalten und -zielen nicht halt. Viele Hochschulen wollen und können aufgrund ihrer finanziellen Lage nicht auf zusätzliche Drittmittel verzichten. Wohin das führt, zeigen beispielsweise zahlreiche Kooperationen zwischen Rüstungsunternehmen und Hochschulen. Es ist das gleiche wie in anderen vormals öffentlichen Bereichen: Schulden werden als Werkzeug und Totschlagargument benutzt, um einen Ausverkauf des Öffentlichen zu erzwingen. In der Regel wird dabei selten die grundsätzliche Frage danach gestellt, wie die Schulden entstanden sind, das heißt, ob diese überhaupt legal sind und bedient bzw. auf die Bürgerinnen und Bürger umverlagert werden können. Um das Problem grundsätzlich anzugehen, wäre ein genereller Richtungswechsel in der Politik notwendig und eine Abkehr vom neoliberalen Dogma. Die Politik der Regierungen hat hier versagt. Während sich der Anteil der privaten Vermögen in den Händen einer kleinen Elite sammelt, sind die öffentlichen Kassen leer. Vermögende müssen wieder stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens beteiligt werden, etwa durch die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und Erhöhungen von kapitalbezogenen Steuern.
An all dem ist gerade der Bertelsmann Stiftung nicht gelegen, oder?
Die Stiftung kommt gern im Deckmäntelchen der Gemeinnützigkeit daher. Sie ist aber Teil eines Weltkonzerns, und es stehen handfeste Interessen dahinter. Einschneidende "Reformen" wie der Umbau im Hochschulsystem oder auch die "Agenda 2010" wurden und werden durch das Unternehmen vorangetrieben. Der Bertelsmann-Konzern ist nicht nur Berater, sondern ein starker und extrem einflussreicher Akteur beim Umbau der Gesellschaft nach neoliberalem Muster.
Nur warum stimmt dann ausgerechnet Bertelsmann das Klagelied auf die Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem an?
Die Chancenungleichheit ist ein Fakt und wird von verschiedenen Institutionen durch Studien jährlich auch belegt. Warum die Veröffentlichung des "Chancenspiegel 2013" in der gleichen Woche wie die 20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks erscheint, darüber kann man spekulieren. Der Konzern wird jedenfalls auch weiterhin starken Einfluss in den Ministerien und Verwaltungen haben, um Reformen in seinem Interesse durchzusetzen – auch unter dem Vorwand, Chancenungleichheit bekämpfen zu wollen.
Sie meinen, es geht auch hier um ein Ablenkungsmanöver …
Ganz bestimmt auch das. Ministerien lassen sich seit Jahrzehnten – egal welche Konstellation die jeweilige Regierung gerade hat – von der Stiftung in Sachen "Reformen" beraten. Die Hochschulen wurden durch maßgeblichen Einfluss von Bertelsmann in den vergangenen Jahren nach Kriterien der Unternehmensführung neu organisiert. Es wurden Aufsichtsratsstrukturen nach dem Vorbild der Wirtschaft geschaffen und demokratische Strukturen zurückgebaut. Bezogen auf den Bildungsbereich geht es Bertelsmann darum, dass der Staat aus der direkten Verantwortung für die Hochschulen entlassen wird, auch und vor allem um selbst Kasse zu machen. Weltbank und prominente Investmenthäuser haben schon vor mehr als zehn Jahren die Rendite aus einem liberalisierten globalen Bildungsmarkt auf jährlich 2.000 Milliarden Dollar geschätzt. Eine beträchtliche Profitrate für private Bildungskonzerne, die sich diesen Markt nach kommerziellen Gesichtspunkten erschließen. Wir sind mittendrin in diesem Prozess, und Bertelsmann selbst ist bestrebt, einer der Global Player auf diesem weltweiten Bildungsmarkt zu werden.
(rw)