Privatisierung von BildungWas bedeutet eigentlich »Humankapital«?
Viele von uns erinnern sich noch an das Unwort des Jahres 2004: »Humankapital«. Es war seinerzeit von der Jury gekürt worden mit der Begründung, der Gebrauch dieses Wortes aus der Wirtschaftsfachsprache breite sich zunehmend auch in nichtfachlichen Bereichen aus und fördere damit die primär ökonomische Bewertung aller denkbaren Lebensbezüge. Humankapital degradiere »nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen.« Aktueller Anlass im Jahre 2004 war »die Aufnahme des Begriffs in eine offizielle Erklärung der EU, die damit die ›Fähigkeiten und Fertigkeiten sowie das Wissen, das in Personen verkörpert ist‹, definiert«1
Ingrid Lohmann – Jg. 1953; Prof. Dr., lehrt Historische Bildungsforschung an der Universität Hamburg und ist Mitglied des wissenenschaftlichen Beirats von attac Deutschland. Zahlreiche Artikel über den neoliberalen Abbau des öffentlichen Bildungssystems.
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst in UTOPIEkreativ 201/202 der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wir danken der Herausgeberin und der Autorin für die Genehmigung, den Artikel auch bei Studis Online publizieren zu dürfen.
Von Ingrid Lohmann
In den zahlreichen Zuschriften an die Jury wurden – so resümierte ihr Sprecher Horst Dieter Schlosser im Februar 2005 – »teilweise sehr profunde Argumente und konkrete Informationen mitgeteilt, die unsere Kritik an der Ökonomisierung aller möglichen Lebensbezüge« nur noch verstärkten. Insbesondere wurde auch von Fachleuten »darauf hingewiesen, wie wenig sich die reinen Vertreter der ›Humankapital‹- Theorie offenbar der begrenzten Reichweite ihrer Ansätze noch bewusst sind.«
Der Jury sei – so Schlosser damals weiter – bewusst gewesen, »dass mit diesem Begriff neben Sachkapital und Finanzkapital menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten gewürdigt werden sollten. Ob ›Humankapital‹ mittlerweile allerdings mehr als eine schöne Metapher« sei, bleibe höchst fragwürdig. Ihr stellte sich »angesichts des Unisono-Aufschreis der Experten« seinerzeit vielmehr die Frage, ob sie mit ihrer Kritik »nicht einen Nerv sogar der ›Humankapital‹-Theorie und ihrer gesellschaftlichen Relevanz getroffen« habe.
Die Jury warf nämlich die Frage auf, »mit welcher Sicherheit (...) denn noch der durch Bildung und Ausbildung zu fördernde menschliche Anteil an der Leistungskraft von Unternehmen wie der ganzen Gesellschaft berechnet werden (solle), wenn im wirtschaftspolitischen und -praktischen Handeln das sog. ›Humankapital‹ von inzwischen mehr als fünf Millionen« – allein in Deutschland – »auf den Müll geworfen« werde. Realität sei »doch wohl, dass das ›Humankapital‹ grundsätzlich dem ›shareholder value‹ untergeordnet« werde. Die Wirtschaftsexperten sollten sich einer Debatte über »weiter gefasste anthropologische Fragestellungen nach dem Wert von Menschen öffnen, der nicht nur mit Euro und Cent berechnet werden« könne.
Den Anwurf, dass »Humankapital« auch von marxistischer Seite kritisiert worden sei, wertete die Jury als Absicht, sie »in eine bestimmte ideologische Ecke« zu stellen und damit zu diskreditieren. Dies sei aber »einer wissenschaftlichen Diskussion ebenso unwürdig« wie der Ausbruch der FAZ, sie »seien ›geistige Totengräber unserer Volkswirtschaft‹«.2
Dazu eine Glosse in DIE ZEIT
Die Zeiten des ideologischen Klassenkampfs sind vorüber, hat man uns belehrt. Tatsächlich aber erweist sich die Auseinandersetzung um »Humankapital« aktuell als empfindlicher Knotenpunkt eben desselben. Ob totgesagt oder nicht: Beim ideologischen Klassenkampf geht es bekanntlich um unsere Interpretation der Welt, darum, wie Wirklichkeit gedeutet wird und wessen Auslegungen und Konstruktionen dabei dominieren.
Der Feuilletonchef der ZEIT, Jens Jessen, kommentierte seinerzeit: »Humankapital« zum Unwort zu wählen, sei »wenig plausibel«. Denn das Wort habe nur auf den ersten Blick die zynische Pointe einer Gleichsetzung von Menschen und Kapital. Auf den zweiten Blick erkenne man jedoch, »dass hier eher der Betrachtungswinkel geändert wird: Auch Menschen lassen sich als Kapital ansehen. Das hieße aber gerade nicht,« – fährt Jessen fort – »die Menschen schlecht zu behandeln, sondern sie besonders gut und schonend zu behandeln, eben weil sie Kapital sind, von dem man bekanntlich hofft, dass es sich verzinst, und das man deswegen nicht verschleudert.«
Der Autor versucht uns zu überreden, dass ein X ganz gegen den gesundenMenschenverstand eben doch ein U sein kann: In der Logik des Kapitalismus bedeute der wirtschaftliche Wert von etwas ja gar keine Herabsetzung, sondern geradezu eine Aufwertung. Seine Leser an der eigenen Begriffsverwirrung teilhaben lassend, beruft sich Jessen sogar auf den Marxismus. Der Marxismus habe »die Perfidie des Kapitalismus immer darin gesehen, dass er den Gegensatz von (menschlicher) Arbeit und Kapital zu Gunsten des Kapitals löst.« Der Begriff Humankapital löse diesen Gegensatz jedoch auf andere Weise auf, denn, so ruft unser Autor aus: »Auch die Arbeit ist Kapital, mehr noch, schon die Menschen, selbst wenn sie nicht arbeiten, sind Kapital, sozusagen totes, nämlich nicht arbeitendes Kapital. So wie aber das Kapital immer arbeiten (und nicht etwa als Geld unter dem Kopfkissen liegen) soll, so müsste in dieser Perspektive auch der Mensch arbeiten, und nicht etwa auf der Straße bleiben. (...) DieMenschen sollten genauso pfleglich behandelt werden wie das Kapital, auch sie sollen sich entwickeln, größer und stärker werden.«
Humankapital, schließt unser Autor, »›Humankapital‹ ist also ein utopischer Begriff, er übersetzt nur die marxistische Hoffnung auf Befreiung des Arbeiters in eine Sprache, die auch der Kapitalist versteht. Sei nicht dumm, sagt der Begriff zum Kapitalisten, lass den Menschen nicht verwahrlosen, wenn Du ihn so gut behandelst wie deine Fabriken und Aktiendepots, dann werdet ihr beide etwas davon haben. Dieser pädagogische Appell hat vielleicht etwas Illusorisches, aber zur Utopie gehört nun einmal die Illusion ihrer Umsetzbarkeit.«3
Dies gab der Mann seinen Lesern augenzwinkernd als Glosse. Aber Jüber Angelegenheiten »derWirtschaft« nicht zu scherzen. Da nun eine Glosse nicht nur »ein kurzer und pointierter, oft satirischer oder polemischer journalistischer Meinungsbeitrag in einer Zeitung« ist, sondern auch »eine Erklärung eines schwierigen Wortes oder einer Textstelle«4 sein kann, nehmen wir fürs erste an, dass es Jessen ernst war mit dieser neuen Variante in der alten Reihe von Versuchen, den Antagonismus von Kapital und Arbeit mit poetischen Mitteln zu beseitigen.
Welch’ verhängnisvolles Missverständnis demnach zwischen Produktionsmittelbesitzern und Lohnabhängigen waltet: Fast 20 Millionen Arbeitslose allein in den Ländern der EU 2006; mindestens 195 Millionen Arbeitslose weltweit plus rund 1,4 Milliarden so genannte working poor, »arbeitende Arme«, die umgerechnet weniger als zwei US-Dollar am Tag verdienen – ein historischer Höchststand laut dem Report über Globale Beschäftigungstrends 2007 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)5; Massenentlassungen und Verlagerung von Produktionsstätten in Billiglohnländer; Hartz-IV-Empfänger, die mittels Gesetz in den Stand der Armut versetzt werden; Jugendliche, die erst gar keinen Zugang in den kapitalistischen Arbeitsmarkt finden – und das alles nur wegen des fortdauernden tragischen Irrtums über das Wesen von Kapital, Mehrwert und Profit auf Seiten der Kapitalisten, verursacht durch deren Uneinsichtigkeit – ja wir müssen geradezu folgern, durch deren mangelnde Bildung und Erziehung!
Eine neue Qualität in der globalen Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems
Aber ein Dummkopf wird nicht Feuilletonchef der ZEIT. In Wirklichkeit gibt Herr Jessen uns zu verstehen, dass auch er sehr wohl weiß, was wir wissen, aber nicht so publikumswirksam in Worte fassen können: Humankapital als »utopischer Begriff« und »pädagogische(r) Appell« hat mit Wesen und Wirklichkeit der kapitalistischen Wirtschaftsform so viel zu tun wie ein Alkoholverbot für Jugendliche mit dem Stopp von Koma-Saufen.
Tatsächlich macht uns der zentrale ideologisch-politische Stellenwert des Humankapitalbegriffs auf eine neue Dimension der Ausbeutung der Arbeitskraft aufmerksam.
Diese erweist sich daran, dass jene Institutionen, die in der bürgerlich-kapitalistischen Moderne nur mittelbar auf das ökonomische System bezogen waren, zunächst jedoch der ideologisch-normativen Einpassung des Individuums in die dominanten Deutungshorizonte dienten – also die Einrichtungen des öffentlichen allgemeinen Bildungswesens –, dass diese heute also eine unmittelbare Funktion im ökonomischen System erhalten. Grob gesagt, folgt auf die »allgemeine« öffentliche Bildung die »specielle« erwerbsbezogene Bildung nicht mehr zeitlich und inhaltlich nach, wie im Humboldtschen Modell (dem Pädagogik und Erziehungswissenschaft sich ja weithin immer noch verpflichtet fühlen). Vielmehr ist in der Postmoderne quasi das Besondere zum Allgemeinen geworden, d. h. die zu Zeiten Humboldts erst der Tendenz nach vorhandene, neue kapitalistische Wirtschaftsweise, der zum Durchbruch verholfen werden sollte, ist heute Totalität. Daraus folgt (beim gegebenen Stand der Kräfteverhältnisse und Zustand der politischen Kultur) relativ zwangsläufig, dass die Institutionen der Bildung und Erziehung der relativen Autonomie verlustig gehen, derer sie sich ehedem erfreuten (und auf der pädagogisches Handeln, wie wir es bisher verstanden, beruht). Schulen und Universitäten selbst werden nun vielmehr wie und als kapitalistische Wirtschaftsunternehmen gestaltet.
So ist denn auch die allgegenwärtige Dominanz des Humankapitalbegriffs im politisch-ökonomischen Diskurs tatsächlich Indiz für eine neue Qualität des globalen kapitalistischen Wirtschaftssystems, und die bekommt – wie die übrigen öffentlichen Sektoren – auch das Bildungssystem zu spüren, und zwar weltweit.
Wir erleben seit etwa 1980, verstärkt seit den 1990er Jahren, eine marktorientierte Monetarisierungsoffensive, die den Bildungsbereich zusammen mit anderen öffentlichen Sektoren rund um den Globus in betriebswirtschaftliche Strukturen zwingt. Dies geschieht in reichen ebenso wie in armen Ländern. In den armen Ländern, aber auch in Schwellenländern und in den osteuropäischen Staaten treiben vor allem der nternationale Währungsfonds (IWF), dessen einstiger Chef jetzt bei uns Bundespräsident ist, und die Weltbank diese Transformationen voran, und zwar u. a. indem sie an die Vergabe von Krediten an diese Länder die Bedingung einer marktförmigen Umgestaltung öffentlicher Einrichtungen knüpfen.
Im Bildungssektor der reichen Länder wird Vergleichbares durch die Welthandelsorganisation (WTO), die OECD und nicht zuletzt durch die EU-Binnenmarktpolitik befördert. Interne Rationalisierung der Einrichtungen und betriebswirtschaftliche Kosten-Ertrags-Kalkulationen sollen, so heißt es, die Qualität öffentlicher Dienstleistungen verbessern und die Produktionskosten senken; die Kunden sollen kostengerechte Preise für Dienstleistungen zahlen, und zwar vorzugsweise mittels Gebühren und Entgelten. Gleichzeitig auf der Agenda steht die »Verschlankung« des Staates durch Steuergeschenke an »die Wirtschaft«. All dies ist bekannt – und wird zuweilen auch unverhohlen propagiert. Spätestens seit 1996 empfiehlt die OECD ihren Mitgliedsländern bildungspolitische Maßnahmen, die deshalb gänzlich risikolos seien, weil sie es verstünden, den möglichen Widerstand der Bevölkerung zum umgehen: »Um das Haushaltsdefizit zu reduzieren, sind sehr substanzielle Einschnitte im Bereich der öffentlichen Investitionen oder die Kürzung derMittel für laufende Kosten ohne jedes politische Risiko.Wenn Mittel für laufende Kosten gekürzt werden, dann sollte die Quantität der Dienstleistung nicht reduziert werden, auch wenn die Qualität darunter leidet. Beispielsweise lassen sich Haushaltsmittel für Schulen und Universitäten kürzen, aber es wäre gefährlich, die Zahl der Studierenden zu beschränken. Familien reagieren gewaltsam, wenn ihren Kindern der Zugang verweigert wird, aber nicht auf eine allmähliche Absenkung der Qualität der dargebotenen Bildung, und so kann die Schule immer mehr dazu übergehen, für bestimmte Zwecke von den Familien Eigenbeiträge zu verlangen, oder bestimmte Tätigkeiten ganz einstellen. Dabei sollte nur nach und nach so vorgegangen werden, z.B. in einer Schule, aber nicht in der benachbarten Einrichtung, um jede allgemeine Unzufriedenheit der Bevölkerung zu vermeiden.«6
Wir erkennen hier den Umriß des bildungspolitischen Regimes, unter dem auch wir in Deutschland uns seit geraumer Zeit befinden, wobei das Mantra von den »leeren öffentlichen Kassen« natürlich nicht fehlen darf. Nachdem dieses Papier – und speziell dieser Passus darin – unter den Kritikern der kapitalistischen ökonomischen Globalisierung eine Weile die Runde gemacht hatte, ist es von der OECD mit dem Zusatz versehen worden, dass es nicht notwendigerweise dieMeinung der OECD widerspiegele. Ich verfüge noch über ein Exemplar ohne diesen Zusatz. Ganz vom Netz nehmen wollte die OECD das Papier offenbar nicht, denn das hätte vielleicht noch mehr Aufsehen verursacht.
Die osteuropäischen Länder, darunter die jüngsten EU-Mitgliedsländer Bulgarien und Rumänien, sind von dieser Monetarisierungsoffensive besonders stark betroffen – viel stärker als westliche Länder mit ihrer vergleichsweise langen bürgerlichen Tradition öffentlicher Schulen und Universitäten. Aber in vielen EU-Mitgliedsländern, nicht nur in Deutschland, ist die Bertelsmann Stiftung – als Mehrheitseigentümerin des gleichnamigen Medienkonzerns, deren ideologischem Sperrfeuer wir alle täglich intensiv ausgesetzt sind – als bildungspolitischer (Haupt-) Akteur der neoliberalen Transformationen zur Stelle.
Über das Bertelsmann-Projekt Eigenverantwortliche Schule und Qualitätsvergleiche in Bildungsregionen, das 2005 mit Starthilfe der Landesregierung Niedersachsen erstmalig in Angriff genommen wurde, habe ich mich anderenorts geäußert;7 hier sei deshalb ein anderes Beispiel kurz beleuchtet.
Der Trend: so genannte »Autonome Schulen« – das Beispiel Nicaraguas
Im Trend der weltweiten Monetarisierung des öffentlichen Sektors liegt, was das Bildungssystem betrifft, die so genannte »Autonomie« der Schule, was nichts anderes meint als deren betriebswirtschaftliche Umgestaltung nach Maßgabe marktgerechter Verwarenförmigung und der Profitlogik. Aber was ist, wenn Eltern zu arm sind, um am Marktgeschehen teilhaben zu können? Sehen wir uns dazu das Beispiel Nicaraguas an.
In Nicaragua gibt es seit 1993 – also ungefähr seit der gleichen Zeit wie in Deutschland – ein neoliberales Reformprogramm namens Autonomous Schools. Es ist Bestandteil eines Weltbankunterstützten Dezentralisierungsprojekts mit starken Kompetenzen auf Seiten der lokalen Schulräte, in denen Eltern die stimmberechtigte Mehrheit haben, das Schulgeld erheben und die Schulleitung einsetzen bzw. absetzen können. Nirgendwo anders in Nord- und Südamerika verfügen Eltern über so viel Verantwortung für die Schulen, aber nirgendwo anders müssen sie auch einen so hohen Anteil der Kosten für die öffentliche Bildungseinrichtung aufbringen. Oder – mit Foucault gesprochen – wenn sich die Regierten selbst regieren, macht den Regierenden das Regieren am meisten Spaß.
Das kontroverseste Element des Reformprogramms waren die Schulgebühren, cuotas genannt, in Form von zusätzlichen monatlichen Geldbeiträgen der Eltern. Diese Beiträge waren vorgeblich freiwillig; offiziell waren die Eltern zu deren Entrichtung nicht verpflichtet. Aber die soziale Dynamik des schulischen Umfelds hatte ihre eigenen Gesetze. Die Richtlinien für die Gebührenpolitik kamen vom Kultusministerium, wonach die öffentlichen Schulen von den Eltern – zusätzlich zu den zahlreichen amtlichen Gebühren für Tests, Schulbücher usw. – monatlich bis zu umgerechnet $ 1.50 einziehen und auf dem Wege von Anreizsystemen für die Verbesserung der Lehrergehälter einsetzen sollten. Ein Elementarschullehrer in Nicaragua verdient weniger als $ 1.000 im Jahr, so daß die den Eltern abgeforderten lokalen Zusatzbeiträge also einiges bewirken können.
Dieses Anreizsystem trug beträchtlich dazu bei, dass die Lehrer das Programm zur Einführung der so genannten autonomen Schulen akzeptierten, und die dezentrale Steuerung ihrerseits bewirkte eine erhöhte Effizienz beim Eintreiben der Gelder in den Gemeinden – sieht man einmal von den Schwierigkeiten armer Eltern ab, die cuotas aufzubringen. Das nicaraguanische Beispiel ist nur eines von vielen weltweit für Dezentralisierung und die so genannte Autonomisierung der Schulen, die den Königsweg ihrer Privatisierung darstellen.
Allerdings heben die Autoren der Studie8, auf die ich mich hier beziehe, hervor, dass in armen Ländern wie Nicaragua mit ihrer geringen steuerpolitischen Macht – d. h. diese Länder können weder ihre einheimischen Eliten noch etwa ansässige transnationale Konzerne dazu zwingen, gehörig Steuern zu zahlen (eigentlich kaum anders als in Deutschland) – dass also in solchen Ländern derartige Finanzierungsprogramme durchaus von Vorteil sein können, um die schulische Versorgung der Bevölkerung wenigstens ansatzweise zu verbessern.
Andererseits ist nicht zu verkennen, dass gerade armen und ärmsten Gemeinden damit nicht geholfen ist, weil dort nämlich die Politik der cuotas (oder andere Formen privater, elterlicher Beteiligung an den Schulkosten) einfach den armutsbedingten Schulabsentismus weiter erhöht. Wenn jedoch eine Gemeinde oder Schulverwaltung auf das Einziehen der cuotas verzichtete, wäre im Gegenzug keineswegs gewährleistet, dass sie entsprechende Finanzmittel aus der Staatskasse erhält. Unterm Strich erweist sich die Politik der Bildungsprivatisierung für ein Land wie Nicaragua also als höchst zweischneidig.
Ein Wort zu PISA – nur ganz kurz (versprochen!)
Nun, noch sind wir in Deutschland nicht ganz in dieser Situation. Aber allmählich zeigt sich auch hier das wahre Gesicht der bis zum Überdruss beredeten PISA-Studien der OECD.
In Deutschland sind die PISA-Studien ja anfänglich von Freunden und Befürwortern eines allgemeinen öffentlichen Bildungswesens erfreut begrüßt worden. Denn für kurze Zeit konnte es ja so scheinen, als wäre die PISA-Kritik an der gerade in Deutschland extrem engen Bindung zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg endlich geeignet, die soziale Selektivität des Bildungswesens zu mindern und die staatlichen Bildungsausgaben spürbar zu erhöhen. Sogar die Debatte um die Gesamtschule als Regelschule lebte kurzzeitig wieder auf.
In Nicaragua hat es öffentliche »allgemeine« Bildung, die den Namen verdiente, nie gegeben. Anders in Deutschland. Deswegen muss hier die Bevölkerung mit der von der OECD – wenn auch sicher nicht von ihr allein – empfohlenen Politik der kleinen Schritte allmählich umgewöhnt werden, damit sie eben nicht »gewaltsam« reagiert. Ein Beispiel für diese Politik ist die Einführung der Studiengebühren, wo die »Stationen waren: Niemals – vielleicht – für Langzeitstudenten – für alle.«9 Ein anderes Beispiel sind tendenziöse Umfragen wie die, für die sich die ARD-Tagesschau kürzlich hergab: »Der von der bayerischen Wirtschaft ins Leben gerufene ›Aktionsrat Bildung‹ schlägt unter anderem vor, dass Lehrer künftig nicht mehr verbeamtet sein sollen. Ihre Bezahlung müsse sich an der Leistung orientieren.Auch sollten die Lehrer nur noch befristet angestellt werden. Um danach weiter beschäftigt zu werden, müssten sie regelmäßig an Fortbildungen teilnehmen. Was meinen Sie: Würde das den Schulunterricht verbessern?«10
Tatsächlich herrschte um die PISA-Studien exakt die Sorte von medialem Tamtam, wie OECD und andere Akteure der neoliberalen Transformation sie für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele benötigen. Dies zeigt sich etwa daran, dass jetzt »die Verantwortlichen der PISA-Studie ihr Renomee nutzen, um eine Privatisierung des Schulwesens und schlechtere Arbeitsbedingungen für LehrerInnen zu fordern«, wie Wiebke Priehn anlässlich des Aktionsrats Bildung feststellt.11
Wenn man früher genauer hingeschaut hätte, hätte man es längst wissen können. Denn PISA ist nicht einfach ein OECD-Projekt, sondern von der OECD gemeinsam mit kommerziellen Bildungsdienstleistern und mit weitreichenden strategischen Absichten unternommen worden. PISA ist »ein Produkt transnationaler Bildungsdienstleister, das staatlichen Schulverwaltungen rund um den Globus angeboten wird. Die deutschen PISA-Publikationen erwähnen fünf ›Forschungseinrichtungen‹, welche die internationale PISA-Leitung bilden (...). Diese Bezeichnung lässt offen, dass es sich bei vier von ihnen um private Unternehmen handelt, educational assessment-Firmen, die PISA entwickelt und an bisher achtundfünfzig Staaten verkauft haben«. Diese Firmen sind: »Der Australian Council for Educational Research Ltd., Educational Testing Service und WESTAT Inc. aus den USA und die in den Niederlanden basierte CITO-Gruppe.«12
Das heißt: PISA als Produkt profitorientierter Unternehmen ist aufs Engste mit dem Milliardengeschäft des weltweiten Markts der Bildungstests verwoben. Und dieses Geschäft wird sich im Gefolge von PISA auch in Deutschland noch gewaltig ausdehnen. Allen voran ist hier der Educational Testing Service zu nennen: Der ETS, aus dessen Produktpalette viele zumindest den TOEFL-Test kennen, ist heute – mit 12 bis 15 Millionen Tests in über 180 Ländern – der weltweit größte Dienstleister in diesem Bereich. ETS bezeichnet sich als nonprofit company, ist aber eng mit Unternehmen der Bildungsindustrie, darunter mit der Arvato AG, der überaus geschäftstüchtigen Tochter des Hauses Bertelsmann verbandelt.13 Präsident und CEO von ETS ist Kurt Landgraf, der vormals im leitenden Management des Pharmakonzerns DuPont war und begeisterter Unterstützer von US-Präsident Bush ist. Landgraf hat beste Verbindungen zum US-Kongress, der ihm hier und da Gelegenheit gab, seine Vorstellungen zur Reform der Lehrerbildung und zur zukunftsweisenden Rolle von Bildungstests zu unterbreiten.14
Die neue Initiative des Aktionsrats Bildung
In diese Landschaft passt nun auch der neueste Vormarsch der Privatisierungstruppen in Deutschland: der Aktionsrat Bildung, der eine Dezentralisierung der Schulverwaltung sowie die Überführung der Schulen in private Trägerschaft vorschlägt und auch Lehrer nur noch befristet angestellt sehen will – lauter Herzstücke der weltweiten neoliberalen Transformation, auch wenn mein Kollege Dieter Lenzen, Vorsitzender des Aktionsrats, reklamiert, private Trägerschaft bei staatlicher Verantwortung sei »keine Privatisierung!«15
Dem Aktionsrat gehören »führende deutsche Bildungswissenschaftler« an – wie es in solchen Fällen heutzutage stets heißt –, darunter Manfred Prenzel, der den deutschen Teil der PISA-Studie leitete, Detlef Müller-Böling, der Leiter des von der Bertelsmann Stiftung finanzierten Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), das sich die neoliberale Transformation der deutschen Hochschulen auf die Fahnen geschrieben hat, sowie Ludger Wößmann, Bereichsleiter Humankapital und Innovation am ifo-Wirtschaftsforschungsinstitut. Das Gremium verlangt »einen revolutionären Umbau des Bildungssystems. Schulen sollten zwar staatlich finanziert, aber von privaten Trägern geleitet werden. Lehrer müssten regelmäßig ihre ›Lizenz‹ durch die Teilnahme an Fortbildungen erneuern.«16 »Privatschulen her, Beamte weg«, titelte die ARD-Tagesschau, und: »Im Streit über das gegliederte Schulsystem plädieren die Experten für eine bundesweite Umstellung auf eine zweigliedrige Struktur aus Sekundarschulen und Gymnasien.«17
Das fügt sich doch sehr ins Gesamtbild, das ich hier zu skizzieren versuche. Während mit den Vorschlägen nun endlich »Bildungsgerechtigkeit«18 Wirklichkeit werden soll, bewertet ein nicht minder renommierter Bildungsforscher, nämlich Klaus Klemm, die Studie als: »Medienwirksam, aber wissenschaftlich nicht fundiert«; die vorgeschlagenen Einzelmaßnahmen hielten einer näheren Überprüfung nicht stand; weder sei bewiesen, daß befristete Arbeitsverträge für Lehrer den Unterricht besser machten, noch sei angesichts des Lehrermangels ihre Auslese überhaupt möglich; daß eine Veröffentlichung von Rankings die Qualität der Schulen verbessere, sei stark zu bezweifeln; stattdessen werde sich die Situation der Problemschulen in Ballungsgebieten oder sozialen Randzonen verschärfen.19
Diese Einschätzung ist zu unterstreichen und zu ergänzen: Zum einen besteht die Gefahr, dass bei der nun noch einmal programmatisch festgezimmerten Zweigliederung des Sekundarschulwesens, die bildungspolitisch ja schon im Gange ist, die Gymnasien die Funktion der qualifizierten Humankapitalproduktion zugewiesen bekommen, während die übrigen Sekundarschulen in wachsendem Maße zu Verwahranstalten werden für diejenigen Lohnabhängigen, die der kapitalistische Arbeitsmarkt in Deutschland nicht benötigt, die aber zumindest ruhig gehalten werden müssen. Unterdessen werden die Arbeitskräfte billiger in Rumänien, Mexiko oder China eingekauft.
Zum zweiten ist zu befürchten, dass mit den Vorschlägen weitere Schritte in Richtung einer Privatisierung und Monetarisierung des öffentlichen Bildungswesens getan werden, und zwar ohne dass die vom Aktionsrat geforderte deutliche Erhöhung der Bildungsfinanzierung stattfindet und ebenfalls ohne dass der geplante Effekt eintritt, wonach »(g)erade die vom staatlichen Schulsystem vernachlässigten Kinder« endlich »davon profitieren« sollen.20 Stattdessen öffnen die Vorschläge und Forderungen des Aktionsrats den bereits bestehenden Tendenzen der Verbetriebswirtschaftlichung der Bildungsinstitutionen weitere Türen – und damit ihrer Unterwerfung unter den globalen Bildungsmarkt, dessen Aufteilung die Handvoll transnational agierender Dienstleister derzeit vornimmt. Ob das wohl so gewollt sein kann?
Fußnoten (auf Nummer klicken, um an Textstelle zurückzugelangen)
1 Horst Dieter Schlosser, Professor für deutsche Philologie, Goethe-Universität FFM, Sprecher der Jury »Unwort des Jahres«: Generelle Stellungnahme zum Unwort des Jahres »Humankapital«, Februar 2005, http://www.unwortdesjahres.org/2004.html (alle Hyperlinks zu diesem Text zuletzt 16.-18. März 2007).
2 Schlosser, a. a. O.
3 Jens Jessen, Feuilletonredakteur der FAZ 1988-96, Feuilletonchef der Berliner Zeitung 1996-1999, seit 2000 Feuilletonchef der ZEIT: Zum Unwort des Jahres 2004, in: Die Zeit Nr. 3 vom 13. Januar 2005 (Feuilleton, Glosse), http://www.zeit.de/2005/03/unwort.
4 Wikipedia: Glosse, http://de.wikipedia.org/wiki/glosse.
5 International Labour Organisation: Globale Beschäftigungstrends 2007, http://www.ilo.org/ public/german/region/eurpro/bonn/aktuelles_get07.htm.
6 Christian Morrisson: The Political Feasibility of Adjustment. Policy Brief No. 13, OECD 1996, http://www.oecd.org/dataoecd/24/24/1919076.pdf.
7 Vgl. Ingrid Lohmann: Die »gute Regierung« des Bildungswesens: Bertelsmann Stiftung. 20. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, 20.- 22. 3. 2006, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt am Main, http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/ Personal/Lohmann/Publik/BertelsmannStiftung.pdf; auch in Jens Wernicke, Torsten Bultmann (Hg.): Netzwerk der Macht – Bertelsmann. Marburg 2007.
8 Alec Ian Gershberg, Ben Meade: Parental con-tributions, school-level finances and decentralization: an analysis of Nicaraguan autonomous school budgets, in: Comparative Education 41 (2005) 3, S. 291-308.
9 Clemens Knobloch: Vom Menschenrecht zur Markenware, in: Freitag Nr. 28 vom 7. Juli 2006, http://www.freitag.de/2006/28/06280401.php.
10 ARD, Tagesschau, http://service.tagesschau.de/poll/poll_dbdata.php?oid=6492358 (im März 2007).
11 Wiebke Priehn in ihrer Email vom 9. März 2007: anti-b – Bertelsmann-Kritik, http://idash.org/mailman/listinfo/anti-b.
12 Elisabeth Flitner: Pädagogische Wertschöpfung. Zur Rationalisierung von Schulsystemen durch public-private-partnerships am Beispiel von PISA, in: Jürgen Oelkers, Rita Casale, Rebekka Horlacher, Sabina Larcher Klee (Hg.): Rationalisierung und Bildung bei Max Weber. Beiträge zur historischen Bildungsforschung, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006, S. 245-266.
13 Vgl. ETS Europe: Suche ETS Europe Partner, http://www.de.etseurope.org/home-corpo-germany/suche-ets-europe-partner/?view=search&no_cache=1&country=0.
14 Vgl. meine Beiträge Universität, Neue Medien und der globale Bildungsmarkt. Wie Bildungsprozesse in Eigentumsoperationen mit Wissen transformiert werden, in: Jahrbuch für Pädagogik 2004: Globalisierung und Bildung. Frankfurt a. M. 2004, S. 191-213 sowie Bildungspläne der Marktideologen. Ein Zwischenbericht, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 3/ 2002, S. 267-279.
15 Dieter Lenzen: »Wir können uns keine Resteschulen leisten«, Interview in der Frankfurter Rundschau Nr. 61 vom 13. März 2007, S. 28. Vgl. dagegen den Beitrag des Verfassungsrichters Siegfried Broß: Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Gefahren für die Steuerungsfähigkeit von Staaten und für das Gemeinwohl? http://www.nachdenkseiten.de/?p=2070
16 Experten fordern radikale Bildungsreform, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. März 2007, http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/775/104671/article.html.
17 ARD, Tagesschau, http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,,OID6492116_REF1,00.html (am 18. 3. 07)
18 Aktionsrat Bildung: Bildungsgerechtigkeit. Jahresgutachten 2007, http://www.aktionsrat-bildung.de/fileadmin/Dokumente/Bildungsgerechtigkeit_Jahresgutachten_2007_-_Aktionsrat_Bildung.pdf.
19 Klaus Klemm: »Wir brauchen alle Lehrer«. Bildungsforscher hält Studie für wissenschaftlich nicht fundiert, http://bildungsklick.de/a/51759/wir-brauchen-alle-lehrer/.
20 Interview mit Dieter Lenzen, a. a. O.