Hintergrundtexte zum Thema Bildungsstreik und -reformHochschulen und Studium in der Dauer-Reform
Über den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)
Seit seiner Gründung 1968 engagiert sich der BdWi für eine Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Er bezieht auf Kongressen, in wissenschaftlichen Publikationen und politischen Stellungnahmen öffentlich Position zu Fragen von Wissenschaft, Forschung und Hochschulentwicklung. Im BdWi haben sich über tausend Natur-, Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen zusammengeschlossen. Sie alle verbindet ihr gemeinsames Interesse an einer emanzipatorischen Wissenschafts- und Bildungspolitik.
Der BdWi lebt dabei von seinen Mitgliedern: Sie finanzieren die Arbeit und engagieren sich ehrenamtlich. Ob ProfessorIn, WissenschaftlerIn oder Studierende – gemeinsam versuchen die Mitglieder des BdWi, die bildungs- und wissenschaftspolitische Debatte zu beeinflussen.
Weitere Informationen auch zur Mitgliedschaft finden sich unter www.bdwi.de.
Vorbemerkung zum Text
Sowohl von konservativer wie von linker Seite werden die Hochschulreformen seit Jahren mit dem Hinweis auf den Verlust des ›Humboldt‹schen Bildungsideals' abgelehnt. Alex Demirovic hat bereits 2004 darauf hingewiesen, dass diese Kritik wesentliche Elemente der Reformimpulse verkennt – diente die Hochschulbildung doch schon seit Zeiten Humboldts immer (auch) der beruflichen Ausbildung. Letztlich müsse es daher bei der Bewertung von Reformen immer darum gehen, ob sie die Qualität des Studiums verbessern. Dafür nennt er vier wesentliche Parameter: Qualität in einem "akademischen Sinn, mit Blick auf die zukünftige Berufspraxis und in Hinsicht auf die Kompetenzen und habituellen Eigenschaften der Individuen als TeilhaberInnen in einer demokratischen Gesellschaft." Er plädiert dafür, dass eine kritisch-wissenschaftliche Haltung, die selbstkritisch und ergebnisoffen sein müsse, nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für jede andere Berufspraxis benötigt und daher durch die Hochschulen vermittelt werden müsse. Eine Halbbildung, welche instrumentalistisch und ausschließlich arbeitsmarktorientiert erworben werde, befähige den und die Einzelne hingegen nicht zu ausreichender Autonomie. Wissenschaft und soziale Erfahrungen sind dabei getrennt, eine Entwicklung die durch die Umstrukturierung der Studiengänge aber gefördert werde.
Die Wettbewerbsidee verzerre im Endeffekt den Blick auf die Qualität, Fördermöglichkeiten und –bedarf einzelner Hochschulen, indem AbsolventInnen und ProfessorInnen bspw. durch das Label der Ivy-League als besonders qualifiziert angesehen werden, was wiederum auf die Hochschule zurückstrahle. Gleichzeitig würden Studienfächer auch danach gewählt, was angesichts des Abiturschnitts jeweils als ›angemessen‹ erscheint: Ein 1,0-Abitur scheine per se mehr für ein Medizin- als ein Lehramtsstudium zu sprechen.
Demirovic setzt sich ausführlich mit der Frage der ›Elitenkonstruktion‹ sowie der Qualitätsmessung durch ›Evaluierungen‹ auseinander und plädiert für einen neuen Anlauf zur Demokratisierung der Hochschulen, um auf diesem Wege ein besseres Arbeits- und Lernumfeld zu schaffen, in welchem Kreativität und vernetztes Denken wieder Platz finden. Demirovic' umfassende Analyse des Wettbewerbsgedanken macht diesen Text noch immer zu einem Grundlagentext der Hochschulreformpolitik.
Die Zerstörung wissenschaftlicher Rationalität in der gegenwärtigen Hochschulreform
Die Einwände, die gegen das Projekt neoliberaler Umstrukturierung der Hochschulen erhoben werden, sind im Regelfall demokratietheoretisch motiviert. Aus dem Blick gerät dabei häufig, welche Konsequenzen diese vorherrschende Variante der »Verwettbewerblichung« auf die unmittelbare wissenschaftliche Erkenntnisproduktion hat. Diese untersucht Alex Demirovic.
Hochschulreform: Eine ständige Baustelle mit merkwürdigsten Umleitungen ...
Das Studium an den Universitäten und Hochschulen dient der Ausbildung. Eine Kritik an den gegenwärtigen Entwicklungen im tertiären Bildungsbereich muss oder sollte sich nicht in illusionärer Weise auf Humboldt berufen, denn auch in dessen Konzeption der Universität ging es im Prinzip um die Ausbildung hoch qualifizierter Träger des preußischen Staates. Angesichts einer neuen Stufe der technokratischen Hochschulreform sollten nicht hehre kulturkonservativ-humanistische Bildungsideale beschworen werden, die seit mehr als einem Jahrhundert schon überholt sind. Es ist ja keine neue Erkenntnis, dass mit der Verwissenschaftlichung der Produktivkräfte sich auch der Charakter der Wissenschaften geändert hat. Diese sind – wie der SDS bereits in seiner Hochschuldenkschrift von 1961 vertrat – grundlegend Bestandteil des gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozesses geworden.
Seit den 1960er Jahren wurde in diesem Rahmen versucht, die Hochschulausbildung an die Logik bloß technisch-instrumentalistischer Kompetenzen anzupassen: berufsbefähigender Studienabschluss (heute der Bachelor/BA), Aufbaustudium für an Forschung interessierte Studierende (heute der Master/MA), besondere Auswahlverfahren schließlich für die Zulassung zum Aufbaustudium. (in der aktuellen Diskussion noch ergänzt um die Auswahl der Studierenden gleich zu Beginn des Studiums), Begrenzung der Studienzeit (damals wie heute 8 bis 9 Semester, danach Zwangsexmatrikulation, heute Studiengebühren). An diesen Vorschlägen, die der Wissenschaftsrat bereits 1966 vorlegte, läßt sich erkennen, dass es eine historisch übergreifende Tendenz der Wirtschaft, der Politik, der Wissenschaftsverwaltung und schließlich auch vieler HochschullehrerInnen zu einer technokratischen Hochschulreform gibt, deren Mittel und Ziele erstaunlich konstant geblieben sind. Erstaunlicher noch als diese beharrliche Tendenz ist, dass sie sich trotz allem nicht in dem gewünschten Maße durchsetzen ließ. Dies hat sicherlich damit zu tun, dass es in den 1960er Jahren einen heftigen Protest gegen die technokratische Hochschulreform gab, der zu einem breiten Bündnis führte, das sozialistische und sozialdemokratische Strömungen ebenso wie umfasste wie liberale und sich stützen konnte auf die proklamierte wirtschaftliche Notwendigkeit, sog. Bildungsreserven für eine sich modernisierende Volkswirtschaft zu erschließen.
Hinweis: Dieser Text ist zuerst erschienen in:
Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) / freier zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs): Studiengebühren, Elitekonzeptionen & Agenda 2010, Marburg 2004.
Weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten unter http://www.bdwi.de/verlag/gesamtkatalog/98695.html.
Heute, mit dem neoliberal konzipierten Umbau der Gesellschaften, erscheinen für eine solche reaktionäre Reform die Bedingungen günstiger. Vieles von dem, was in den 60er Jahren der SDS und andere KritikerInnen der rein technokratischen Perspektive entgegenhielten, ist heute so aktuell wie damals. Heute wie damals geht es nicht um die Beschwörung eines idealistischen Bildungskanons, sondern darum, ob die Ausbildung an den Hochschulen selbst gut ist: in einem akademischen Sinn, mit Blick auf die zukünftige Berufspraxis und in Hinsicht auf die Kompetenzen und habituellen Eigenschaften der Individuen als TeilhaberInnen in einer demokratischen Gesellschaft.
Wissenschaftlichkeit als Habitus
Bei Ausbildung geht es um die Vermittlung und Aneignung von Wissen. Wissensaneignung ist ein aktiver Vorgang. Wissen wird nicht neutral konsumiert, so dass es nach dem Konsum verzehrt und der Vorgang gleichsam abgeschlossen wäre. Wissen wird im Prozess der Aneignung nicht verbraucht, sondern re-produziert, also erzeugt, erhalten, umgearbeitet, erweitert. Etwas gilt als Wissen, weil es gesellschaftlich als ein Wissen definiert ist – ein Wissen kommt nicht allein. Es läßt sich als Wissen aneignen, weil die Individuen schon über Wissen verfügen, sich Relevanzkriterien und Koordinaten angeeignet haben, die ihnen helfen, neugierig zu sein, vorhandenes und neues Wissen zu erschließen, es eigenständig zu reproduzieren und schließlich auch kreativ weiter zu entwickeln. Diese Gesellschaftlichkeit und Dialogizität des Wissens hat für das Individuum eine wichtige Konsequenz. Auch noch in der Form einer ganz simplen technisch-mechanischen Ausbildung ist das Moment der Formierung des Individuums enthalten – in diesem Grenzfall wird das Individuum selbst die Bildung nur als bloße Anwendung ohne die Erfahrung der freien und kreativen Weiterentwicklung praktizieren. Immer jedoch bildet sich die Fähigkeit der Welterschließung; am negativen Pol bleibt diese eng begrenzt und stützt sich hilfesuchend auf autoritative Vorgaben, am positiven Pol entfaltet sich die Fähigkeit zur komplexer Erkenntnis und freiem Umgang mit der »Welt«, eine Fähigkeit, die als Autonomie bezeichnet wird. Das Wissen geht also – wenn auch in sicherlich unterschiedlichem Maße – in die Orientierungen der Individuen ein und wird ein konstitutives Element ihrer Identität. Es prägt ihre Haltung, ihre Neigungen, ihre Fähigkeit zur Erschließung und Ausdeutung von »Welt«. Bildung durch Wissenschaft meint in diesem Sinn die Fähigkeit, sich reflexiv, offen und kommunikativ, lernend, problemorientiert, kritisch und fallibilistisch zu verhalten: das, was ich jetzt für richtig halte, könnte sich im Licht neuer Einsichten, Tatsachen, Überlegungen als falsch erweisen; die Kommunikation mit anderen bilden die eigene Identität und können diese auf überraschende Weise ebenso wie die Relevanzgesichtspunkte, die Maßstäbe, die Themen, die Haltung verändern. In der Logik und Dynamik von wissenschaftlicher Bildung ist impliziert, dass wir ein fachspezifisches Wissen und die damit verbundenen Muster fachlicher Orientierung gleichfalls in der Lage sind zu problematisieren – bis hin zur wissenschaftlich grundlegenden Frage danach, welche Bedeutung ein besonderes fachliches Wissen im Zusammenhang mit anderem Wissen und gesellschaftlichen Prozessen und ihren Problemen hat. Mit Bildung ist also gemeint, Probleme systematisch und in ihrer Komplexität zu begreifen, nicht handwerklich-bastelnd. Bildung bedeutet die Fähigkeit, vom eigenen Alltagsverstand und dem anderer zurücktreten, geläufige Meinungen und Ansichten kritisch bewerten und auflösen, sich Argumente durch eigenes problemorientiertes Nachdenken oder durch systematische Forschung – also offene Kenntnisnahme der wissenschaftlichen Literatur und Diskussion zu einem Thema – erschließen zu können. Man sollte nicht denken, dass diese Fähigkeiten allein für diejenigen von Bedeutung sind, die in Wissenschaft und Forschung arbeiten. In einer verwissenschaftlichten Gesellschaft müssen auch diejenigen, die in Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Medien arbeiten, die Fähigkeiten besitzen, sich wissenschaftlich und systematisch komplexe Zusammenhänge zu erschließen: also Wahrheiten ertragen, auch wenn sie nicht passen, Zusammenhänge verstehen, Vergänglichkeit von Thesen ertragen. Nichts ist schädlicher als wissenschaftliche Halbbildung: zu denken, das Studium diene nur dem Erwerb eines Diploms und dann komme das wirkliche praktische Leben. Die Hochschulausbildung sollte also auch für den zukünftigen berufspraktischen Kontext die Befähigung zu einer kritisch-wissenschaftlichen Haltung ermöglichen.
Neoliberale Halbbildung
Von solch einem Wissens- und Bildungskriterium aus weise ich auf einige der Konsequenzen hin, die der aktuelle Umbau der Hochschulen mit sich bringt. Zu befürchten ist, dass diese aktuellen Veränderungen der Wissenschaftlichkeit schaden und eine Haltung kalter, neoliberaler Halbbildung fördern. Obwohl Reformen dringend notwendig und sinnvoll sind, werden die gegenwärtig verfolgten Pläne – die Auswahl der Studierenden durch die Hochschulen, Studienzeitverkürzung, Studiengebühren, Umstellung auf BA- und MA-Studiengänge, Förderung von Spitzenuniversitäten – vielfach kontraproduktiv wirken und zu einer weiteren Aushöhlung und Verschulung der Hochschulen führen und gerade damit das schädigen, wofür diese institutionell eigentlich geschaffen und aufrechterhalten werden: die Wissenschaften und ihre Qualität. Die aktuelle Reorganisation des Studiums umfasst mehrere Ziele. Das Studium soll früher aufgenommen und kürzer werden. Absicht ist es, dass die Hochschulreife ein Jahr früher erworben wird. Liegt die durchschnittliche Studiendauer heute bei etwa 12-13 Semestern, so soll sie auf 8-9 Semestern gesenkt werden. Damit verjüngen sich die AbsolventInnen, die Hochschulausbildung wird billiger – dies gilt um so mehr, wenn auch noch die Lebensarbeitszeit ausgedehnt wird. Studiengebühren sollen den Druck erhöhen und zu einem disziplinierten Studienverhalten führen. Das Finanzgewerbe rechnet ausdrücklich mit Studiengebühren. Denn es möchte Bildungssparen oder Bildungsversicherungen als neue Produkte anbieten, mit denen die Finanzierung in den Familien schon frühzeitig vorbereitet wird. Mit Sicherheit wird dies – insbesondere bei Angehörigen der unteren sozialen Schichten, sofern diese überhaupt noch an die Hochschule gelangen – zu demotivierenden Abwägungen führen, ob ein Studium hinsichtlich der Einkommensdifferentiale und der Beschäftigungssicherheit noch lohnt. Gleichzeitig wird man darauf immer weniger verzichten können, um überhaupt noch Eintrittschancen in den Arbeitsmarkt zu erhalten. Dies führt zu einem effizienzorientierten, instrumentalistischen Studienverhalten, das sich von Wissenschaftlichkeit, vom Gegenstand und der Erfahrung komplexen, begrifflichen Denkens immer weniger berühren lässt – denn inneres Engagement und das Risiko der Ergebnisoffenheit würden nur zur Verlangsamung führen. Auf diese instrumentalistische Haltung reagieren die HochschullehrerInnen mit weiterer Verschulung der Lehrpläne, rigiden Lehrformen, abgepackten, »modularisierten« Lerneinheiten. In Erwartung, manche ihrer Probleme lösen zu können, greifen sie gleichsam freiwillig auf etwas zurück, was ihnen von oben ohnehin vorgeschrieben wird, und erleichtern damit den herrschenden bildungspolitischen Kräften die Durchsetzung ihrer Reorganisationsstrategien.
Arbeitsmarktorientierung
Das Studium wird für die deutlich jüngeren Studierenden mit dem BA auf sechs bis acht Semester verkürzt. Es ist von vornherein auf einen berufsqualifizierenden Abschluss angelegt. Das ist selbst schon eine Botschaft, nämlich: Nehmt die Hochschule als Lebenssituation nicht so ernst, die Erfahrungen hier sind nicht bedeutungsvoll, sie sind nur Mittel zum Zweck des Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt! Die Notwendigkeit eines kritisch-wissenschaftlichen Verständnisses der »Welt« wird nicht vermittelt – so bleibt neben einer manchmal guten Sachausbildung der Alltagsverstand naiv, häufig sogar religiös. Der Lehrstoff wird modularisiert, die Module ihrerseits ständig überprüft. Den Studierenden wird die Erfahrung einer freien, akademischen, wissenschaftlich orientierten Diskussion faktisch vorenthalten. Alles spricht für eine Verstärkung der gegenwärtigen Tendenz, dass die Studierenden 20 und mehr Stunden pro Woche belegen müssen. Daneben müssen sie noch Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen. Zu einer inhaltlichen Vorbereitung kommen sie nicht oder kaum. Eine ganz wesentliche Lernerfahrung können sie nicht machen, nämlich die freie, auf Inhalte zielende Diskussion mit ihren KommilitonInnen. Dazu gehört auch die Erfahrung des impliziten Lehrplans, der häufig die akademische Lehre und auch die Interessen der älteren Studierenden lenkt, sich jedoch in den offiziellen Lehrveranstaltungen nicht direkt abbildet. Um diese informellen curricularen Kenntnisse zu bekommen – zum Beispiel: welche AutorInnen, Bücher und Aufsätze sind wichtig, welche Argumente sind bedeutsam, wer gibt die relevanten Stichworte? – fehlen die Kontexte wie Tutorien oder Arbeitsgruppen. Es fehlt schließlich auch so etwas wie die Möglichkeit, eine Art Gegencurriculum zu entwickeln, welches häufig zu den eigentlichen fruchtbaren wissenschaftlichen Lernerfahrungen führt.
Wettbewerb und Auslese
In Zukunft sollen die Studierenden von den Hochschulen nach Gesichtspunkten ihrer Leistungsfähigkeit ausgewählt, Studienplätze deswegen auch international ausgeschrieben werden. Dies soll eine Verbesserung des Niveaus bringen und die Exzellenten auf diese Weise in besonderer Weise Fördern. Gegen eine Unterstützung von Befähigten lassen sich keine sinnvollen Einwände erheben. Allerdings stellt sich die Frage danach, wie diese Förderung geschieht und nach welchen Kriterien welche Personen, zu welchem Zeitpunkt und in welchen Fachgebieten gefördert werden. Die Bundesrepublik hat ja schon seit langem eine Exzellenzförderung und macht damit keineswegs positive Erfahrung. Seit vielen Jahren werden die schulisch »Besten der Besten«, also diejenigen mit den besonders guten Abiturnoten, in solche Studienfächer wie Medizin gelenkt. Dies würde ja nahe legen, dass die deutschen Universitäten einen Nobelpreis für Medizin nach dem anderen bekommen müssten. Das ist faktisch jedoch nicht der Fall. In der Realität wird vielmehr bei Eltern und Studierenden ein besonderer Ehrgeiz geschaffen, einen bestimmten Notendurchschnitt zu bekommen, um Arzt oder Ärztin zu werden. Dieser Beruf selbst war lange Zeit so eine Art Lizenz, Geld zu drucken. Die erwarteten Einkommen führen zu einer Verzerrung bei der Rekrutierung, denn nun orientieren sich an diesem Fach auch diejenigen, die durch sehr gute Noten den Eindruck vermittelt bekommen, sie sollten dieses Fach studieren, weil es allein ihrer Leistungsfähigkeit zu entsprechen scheint. Daneben versuchen viele auch, von dem hohen symbolischen Wert zu profitieren, indem sie große Umwege und Mühen in Kauf nehmen: lange Wartezeiten bis zur Zulassung, Studium im Ausland etc. Ein Notendurchschnitt von 1,0 und dann die Entscheidung für ein Lehramtsstudium für Grundschulen widerspricht der herrschenden Sicht auf die Hierarchie der Fächer. Die SPD hat den Begriff der »Elite« schnell fallen lassen. Das Schlimme ist, dass es sich doch genau darum handelt: Elite, und zwar gerade im schlechten Sinn dieses Wortes, nämlich die soziale Auswahl derer, die allein deswegen, weil sie oben sind, auch meinen, dass sie ein Recht darauf haben, und die gut und spitze sind, weil sie die Definitionsmacht darüber haben, was gut und spitze ist.
Soziale Konstruktion von »Spitzenleistungen«
Wenn wir noch für einen Moment bei diesem Gesichtspunkt der Spitzenförderung bleiben, dann stellt sich auch die Frage, was diese Art der Auswahl wohl für weitere Folgen haben wird. Spitzenuniversitäten wie Harvard oder Stanford erwarben sich ihren Ruf über lange Zeiträume. Sie verfügen über viel Geld und können sich deswegen reputierte WissenschaftlerInnen auf dem Weltmarkt der Wissenschaft »kaufen«. In der Folge solcher Investitionen aber muss eine Universität öffentlichkeitswirksam ihre Reputation stilisieren, sich also hoch reden. Denn am Renommee hängt, dass Studierende viele hunderttausend Dollar bis zum Erwerb eines PhD zu zahlen bereit sind – in der Erwartung, dass sie aufgrund des Renommees der Hochschule tatsächlich auch entsprechende Berufspositionen erwerben können. Die Qualität wissenschaftlicher Inhalte dürfte auch hier nur eine untergeordnete Rolle spielen. Es langt der Effekt von »des Kaisers neuen Kleidern«: so lange nur alle glauben, dass Ivy-League-AbsolventInnen oder -HochschullehrerInnen etwas Besonderes sind, wird sich dieser Effekt der Reputation wiederum auch einstellen. In der wissenschaftlichen Wirklichkeit führt dies häufig zu Enttäuschungen hinsichtlich des feststellbaren Niveaus von Studierenden und ProfessorInnen aus diesen Universitäten. Derartige Ernüchterungen berühren aber das durch komplexe Machtmechanismen erzeugte Definitionsmonopol dieser Universitäten auf gute Wissenschaft nicht wirklich. Wissenschaft ist übermäßig geprägt von Prätention, deren Geltung mittels der Macht der herrschenden sozialen Klasse durchgesetzt wird – die unter anderem herrschende ist, weil sie »öffentliche« Definitionsmacht über Wissenschaft ausübt. Und dieser Sachverhalt muss mit der Wirklichkeit wissenschaftlicher Forschung und Diskussion nicht unbedingt etwas zu tun haben. Zu bemerken ist allerdings auch, dass Spitzenleistungen an »Elite«-Universitäten tatsächlich möglich sind, weil es gute und stabile Arbeitsbedingungen gibt. Diese ermöglichen es, sich etwa ausführlich und mit langem Atem mit bestimmten Fragen und unter kontinuierlicher Einbeziehung der Studierenden auseinander zu setzen. An deutschen Universitäten hingegen werden HochschullehrerInnen immer mehr zu Personen, die standardisiertes Wissen vermitteln. Die ständig neu abverlangten Strukturpläne, die mit großem Zeitaufwand erarbeitet werden müssen, der Aufwand an Verwaltungsarbeit, Drittmitteleinwerbung, die große Zahl der Studierenden, die betreut und geprüft werden müssen – und wegen der großen Zahl gleichzeitig nur schlecht betreut werden können –, Gutachten, leerlaufender Veröffentlichungszwang, all dies schränkt die Möglichkeit der Wissenschaft ein.
Das alles spricht dafür, dem Zauber einer wenig greifbaren, auf öffentlichen Aufmerksamkeitsmechanismen beruhenden Reputation zu misstrauen, die sich auf wenige Universitäten oder WissenschaftlerInnen konzentriert. Dadurch wird gerade verhindert, die Qualität und vernünftigen Reformressourcen in der Breite und Vielfalt wissenschaftlicher Arbeit überhaupt wahrzunehmen und zu fördern.
Die Normalen und die Elite
Die Art, wie das Thema der Spitzenförderung in Deutschland aufgekommen ist, führt sofort zu dem Problem, wie das institutionelle Nebeneinander von ausgewählten und »normalen« Studierenden arrangiert wird. Die Ausgewählten durchlaufen dann wie die anderen den BA-Studiengang. Zunächst stellt sich die Frage, wofür sie ausgewählt werden – vielleicht sollte es Sinn machen, die Besten gar nicht für die Wissenschaft, sondern für die Schule, das Parlament oder die Wirtschaft zu rekrutieren. Oder will man ohnehin einfach sagen, dass nur die Besten eben die Besten für die Wissenschaft sind? Aber gibt es solche Besten an sich? Wieso weiß man dies schon zu Beginn des Studiums bei der Auswahl? Sind gute Schulnoten oder ein erfolgreiches Auswahlgespräch Zeichen für die Befähigung zu einer lebenslangen wissenschaftlichen Arbeit? Die Erfahrung lehrt, dass viele WissenschaftlerInnen erst im Laufe eines Denk- und Lernprozesses im Studium, manchmal sogar erst nach dem Studium, in sich die Neigung spüren, wissenschaftlich zu arbeiten. Diese Möglichkeiten werden in der gegenwärtigen technokratischen Hochschulreform abgeschnitten.
Wenn es sich um die Besten handeln sollte, dann ist eine weitere Frage, welche Gratifikationen sie bekommen, um sie zu motivieren und an den Universitäten zu halten: höhere Einkommen, stabile Beschäftigungsverhältnisse, gute Arbeitsbedingungen, höhere symbolische Wertschätzung? Wie jedoch können sie in der Wissenschaft gehalten werden, wo doch Wissenschaft an den Hochschulen kaum noch möglich und die Bezahlung relativ schlecht ist? Woher könnten für WissenschaftlerInnen wohl solche Anerkennungen und förderlichen Arbeitsbedingungen kommen? An Geld wird gespart. Die symbolische Anerkennung wissenschaftlicher Arbeit fällt knauserig aus – es geht ja vor allem um ökonomische Gesichtspunkte: dem Standort und der Wettbewerbsfähigkeit zu dienen. So gesehen gewinnt man für die Wissenschaft zunächst diejenigen, die wirklich Spaß daran haben – denen allerdings dieser bald ausgetrieben wird durch immer mehr extrafunktionale Belastungen – und man gewinnt auch solche, die eben einfach eines mittelmäßigen Jobs wegen bleiben, in der nüchternen Erwartung, dass sie anderswo nicht besser, sondern vielleicht schlechter dran wären: wissenschaftliche SachbearbeiterInnen.
Das Ziel der »Bestenauslese« wirft weitere Fragen auf: Werden die Exzellenten in besonderen Kursen zusammengefasst und isoliert von den Normalen? Wer sind die HochschullehrerInnen, die mit den besonders ausgewählten Studierenden arbeiten? Sind es selbst besonders Qualifizierte – woran entscheidet sich deren Qualität: an Nobel- oder anderen Preisen, an Veröffentlichungen, an Drittmitteln und folglich an ihrer Networkingpraxis? Wenn solche HochschullehrerInnen keine Lehr- und Prüfungsverpflichtungen im akademischen Massenbetrieb mehr haben – was erforderlich ist, damit sie ihre spezifische qualifizierte Arbeit durchführen können –, resultiert daraus eine Vergrößerung des Lehrkörpers oder aber eine stärkere Belastung der übrigen, weniger renommierten, WissenschaftlerInnen. Dies muss aber zwangsläufig die Folge haben, dass schließlich hier das Niveau wegen der hohen Belastungen deutlich absinkt. Die Spitze wird zur Spitze in einem immer stärkeren Maße allein deswegen, weil die Mehrheit wegen Arbeitsüberlastung weniger leistungsstark sein kann. Der dann feststellbaren Leistungsdifferenz zwischen »Masse« und »Elite« liegen daher keine natürlichen Gegebenheiten zugrunde; sie ist sozial bzw. bildungsökonomisch konstruiert. Dies wird zwangsläufig zu einer stärkeren Segmentierung der Hochschullandschaft führen, denn die HochschullehrerInnen und Studierenden, die den Ruf haben, zur Spitze zu gehören, werden diesen Mechanismus nutzen, um ihre wissenschaftliche Machtposition noch zu verstärken und institutionell zu untermauern.
Evaluierungsbürokratie
Evaluierung ist ein neuartiger, sehr zeitaufwendiger und kostenintensiver Prozess. Dieser führt zu einer umfangreichen Verwaltung, zu einer Kontroll- und Zensurinstanz, die der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit Geld und Zeit entzieht. (Hinzugerechnet werden muss zukünftig auch noch die Akkreditierungsbürokratie, die sich bei der Zulassung von Studiengängen auch auf Evaluierungen stützt.) Für die Evaluierung bedarf es der Darstellung der eigenen Tätigkeit, der Forschungsergebnisse, der Lehrerfolge etc. Davon hängen Zuschüsse und Arbeitsverträge ab. Auch das Gehalt der HochschullehrerInnen soll zukünftig an die Ergebnisse der Evaluierung geknüpft sein. Diese ist kein einmaliger Vorgang, sondern soll regelmäßig stattfinden. Sie ist als "Benchmarking-Prozess" angelegt. Dies bedeutet, dass der Vergleich mit jeweils Besseren nicht aufhört. Legt im globalen Wettbewerb eine Hochschule oder Forschungseinrichtung die Latte höher, wird dies als Zielvorgabe verbindlich. Dies bedeutet eine Prüfung der Ursachen für den relativen »Misserfolg« und in der Konsequenz entsprechende Umbauten eines Instituts, der Forschungsausrichtung, des Personals. Damit einher gehen Unsicherheit für die WissenschaftlerInnen, die gar nicht mehr nach eigenen, langfristig angelegten Fragen arbeiten können, sondern genötigt werden, schnell auf neue Organisationsmuster, Lehrinhalte und Forschungsfragen umschalten müssen, wenn sie ihre Arbeitsplätze nicht verlieren wollen. Evaluierung erzeigt also einen Mehraufwand, der eigens für diese betrieben werden muss und mithin Ressourcen von der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit abzieht oder diese von vornherein derart strukturiert, dass sie den Evaluationsmaßstäben Rechnung trägt. Damit wird die autonome wissenschaftliche Arbeit einschränkt.
Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wer evaluiert die Evaluierer? Evaluierung belastet zeitlich, weil WissenschaftlerInnen selbst für die Evaluierung ihrer KollegInnen herangezogen werden; dies wird auf Dauer ihr wissenschaftliches Niveau mindern, aktuelle Diskussionen und Literatur kennen sie nicht mehr. Die sich auch abzeichnende Alternative dafür ist, dass sich eine Evaluierungsbürokratie herausbildet, welche mit ihrem beschränkten Verstand dann alsbald diejenige wissenschaftliche Arbeit einschränken wird, die sich abstrakten Bewertungsmaßstäben wie z. B. der Zahl der Overheadfolien, Powerpoint-Präsentationen oder abgeschlossener Diplomarbeiten nicht ganz reibungslos fügen kann. In Fächern, welche die für die Naturwissenschaften und Medizin geläufigen Reputationsmechanismen nicht kennen, stellt sich die Frage nach der Spitze noch krasser. Denn vielfach ist es ja nicht die Qualität, die über Reputation entscheidet. Andere Mechanismen sind bedeutsam: die Zugehörigkeit zu einer Schule, zu einem Netzwerk, zu Zitierkartellen, die besonderen Fähigkeiten, in einem solchen Netzwerk zu agieren, also Kontakte zu knüpfen, Loyalitäten herzustellen, Einladungs- und Reputationszirkel zu schaffen. Vielfach handelt es sich in solchen Fällen um ganz extrafunktionale – also: außer-wissenschaftliche – Fähigkeiten. Dies führt schließlich zu einem falschen Rekrutierungsmuster bei der Nachwuchsförderung. Es werden nicht Studierende ausgewählt, die sich vielleicht eigenbrötlerisch in bestimmte Fragestellungen verbeißen, die reflektiert und wissenschaftlich anspruchsvoll sind, sondern solche, die sich darin als kompetent erweisen, ihre ProfessorInnen zu unterstützen, Networking zu betreiben, Veröffentlichungen an den richtigen Stellen zu platzieren. Aber selbst angenommen, es würden die Richtigen rekrutiert. In diesem Fall würde ihnen schnell beigebracht, dass es wichtig ist, smart zu sein, clevere Geschäftsleute, die im Wettbewerb bestehen müssen. Wettbewerb heißt aber, sich mehr um die Vermarktung des Wissens zu kümmern als es zu erarbeiten: öffentlichkeitswirksame Tätigkeit, künstliche Vervielfältigung von Publikationen, Drittmitteleinwerbung, Konferenzen, Gutachteraktivitäten, Institutsmanagement.
Das Schicksal der Nicht-Elite
Die Auswahl der Besten hat für diejenigen, die nicht ausgewählt werden, negative Folgen. Sie werden weiterhin die Last der durch die großen Zahlen an KommilitonInnen überforderten Hochschulen zu erleiden haben: Veranstaltungen mit vielen TeilnehmerInnen, überlastete HochschullehrerInnen, die sich inhaltlich kaum mehr angemessen vorbereiten können, schlechte Betreuungssituation, standardisierter Unterricht, rigide und verschulte Leistungskontrolle. Möglicherweise wird es in Deutschland – wie in den USA – zur Herausbildung prekärer Beschäftigungsverhältnisse auch bei Hochschullehrern kommen: also Lehraufträge mit umfangreichen Lehr-, Prüfungs- und Verwaltungsverpflichtungen, Einstellungen nur für die Vorlesungszeiten und ohne Weiterbeschäftigungsgarantie. Für diese Studierenden wird Wissenschaft gar nicht oder nur gering erfahrbar. Sie werden keine Zeit haben, sich in ein Thema näher einzuarbeiten und auch nur eine Ahnung davon bekommen, was Wissenschaft ist, ihre Erfahrung von der Hochschule und der Wissenschaft aber für das halten, was mit Wissenschaft gemeint sein soll. Dies bereitet den Boden für eine Art von Halbbildung, die darin besteht, dass Wissen nicht mehr im Zusammenhang begriffen und von den eigenen Erfahrungen getrennt wird. Wissenschaft und soziale Erfahrung der Individuen stehen sich als zwei getrennte Bereiche gegenüber: wie Arbeit und Freizeit. Wissenschaft erscheint nur als sinnlose Belästigung und Anstrengung. Diese Studierenden werden – wie schon zur Schulzeit – auch die Universität nur als einen Ort der Selektion erleben, an dem sie sich mit welchen Mitteln auch immer durchmogeln, um die begehrten Scheine und Abschlüsse zu erhalten. Ihre Biographiebahn ist schon frühzeitig festgeschrieben.
Statt dessen ...
Was braucht es in dieser Situation? Ein Verständnis davon, dass gute Wissenschaft nicht unter wirtschaftlichem und zeitlichem Druck entstehen kann. Wie bei allen kreativen Prozessen braucht es Zeit, genauer: einen eigenen Zeitrhythmus – es bedarf also des Geldes, deutlich mehr HochschullehrerInnen- und MitarbeiterInnenstellen, bessere Bibliotheken und Räumlichkeiten sowie technische Infrastruktur. Auch die selektive Bevorzugung einzelner Disziplinen ist kontraproduktiv, Wissenschaften allgemein und Wissenschaftlichkeit als Haltung bedürfen der Unterstützung. Wenn die Initiative und die Neugier angeregt werden soll, dann bedarf es auch der relativ stabilen Arbeitsbedingungen – nicht jedoch einer leerlaufenden Reformdynamik permanenter Umstrukturierungen. Für die Entfaltung der Initiative der Beteiligten braucht es schließlich und vor allem einen Rahmen, der allen am wissenschaftlichen Prozess Beteiligten die Möglichkeit gibt, aktiv zu werden, ihre Erfahrungen, ihre Fragen, ihre Einwände und Thesen einzubringen. Früher einmal hat man das die Demokratisierung der Hochschulen genannt. Wenn das nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht hat, weil der Impuls in den Rangeleien von Hochschulgremien, politischem Proporz und im Standesdünkel der HochschullehrerInnen verödet ist, sollte man dennoch nicht auf neoliberale Technokratie und auf das autokratische Führerprinzip zurückfallen, sondern es in einem neuen Anlauf besser machen.
Dr. Alex Demirovic ist Soziologe und Privatdozent an der Universität Frankfurt
Allgemeine Hochschulreformen: Kommentierte Literaturliste
Hochschulreform seit den 1990er Jahren
Seit den 1990er Jahren wurde das deutsche Hochschulsystem in hohem Maße dereguliert und entstaatlicht. Weiterhin wurden im Gefolge des Effizienzargumentes und der weit verbreiteten Autonomieforderungen die Einflussmöglichkeiten der demokratisch legitimierten Gremien massiv eingeschränkt. Für das Verständnis der Motive dieser Veränderungen ist die Kenntnis der zentralen programmatischen Schrift von besonderer Bedeutung. Die Grundprinzipien der Reformbestrebungen des Gütersloher Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), das 1994 als gemeinsame Initiative der Bertelsmann Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz gegründet wurde, hat der Gründungsdirektor des CHE, Detlef Müller-Böling, in seinem im Jahr 2000 erschienenen Buch "Die entfesselte Hochschule" zusammengefasst. Damit hat Müller-Böling eine Art Leitfaden der Hochschulreform vorgelegt, auf das sich die "ReformerInnen" aus Politik, Verbänden und Hochschulen seitdem implizit oder explizit in besonderem Maße bezogen haben.
Detlef Müller-Böling (2000): Die entfesselte Hochschule, Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.
Eine frühe Kritik an den Argumentationsmustern und den Inhalten der Hochschulreformbestrebungen kam bereits 1999 von Torsten Bultmann und Rolf Weitkamp mit ihrem Buch "Hochschule in der Ökonomie", in dem sie den Prozess der Genese der Hochschulreforminitiativen nachzeichnen und deren Inhalte ideologiekritisch analysieren. Eine ausführliche Reflexion der Hochschulreformbestrebungen seit den 1990er Jahren bietet auch der 2001 von Benjamin Hoff und Petra Sitte herausgegebene Sammelband "Politikwechsel in der Wissenschaftspolitik?". Beide Bücher sind nach wie vor sehr gut geeignet, um die großen Linien nachzuvollziehen, die den "historischen" Kontext der aktuellen Situation einer "reformierten" Hochschulpolitik bilden.
Torsten Bultmann / Rolf Weitkamp (1999): Hochschule in der Ökonomie. Zwischen Humboldt und Standort Deutschland, Marburg: BdWi-Verlag.
Benjamin Hoff / Petra Sitte (Hrsg.) (2001): Politikwechsel in der Wissenschaftspolitik? Ein Lesebuch, Berlin: Dietz.
Studienstrukturreform
Das augenfälligste Ergebnis der hochschulpolitischen Reformen im Bereich von Studium und Lehre ist sicherlich die Einführung der gestuften Studiengänge mit den Abschlüssen Bachelor und Master. Gerade in der Frühphase wurden mit dieser Reform durchaus auch Hoffnungen auf eine qualitative Studienreform verbunden, was exemplarisch in dem von Ulrich Welbers 2001 herausgegebenen Band "Studienreform mit Bachelor und Master" deutlich wird. Besondere Reformerwartungen wurden insbesondere mit der Modularisierung verbunden, die ursprünglich ein hochschuldidaktisches Konzept war, aber in der Umstellung der Studiengänge schnell zu einem funktionalistischen Prüfungsdrama wurde. Die unbefriedigende Realität an den Hochschulen dokumentiert – ebenfalls exemplarisch – die umfangreiche Datensammlung der Projektgruppe Studierbarkeit an der Humboldt-Uni Berlin. Ihr Bericht zeigt zahlreiche Defizite in der Umsetzung der gestuften Studienstruktur auf, die aber zu erheblichen Teilen auch strukturelle Ursachen haben.
Ulrich Welbers (Hrsg.) (2001): Studienreform mit Bachelor und Master : gestufte Studiengänge im Blick des Lehrens und Lernens an Hochschulen ; Modelle für die Geistes- und Sozialwissenschaften, Neuwied: Luchterhand.
Projektgruppe Studierbarkeit (2007): Studierbarkeit an der Humboldt-Universität. Wie läuft das Experiment "Studienreform"?, Projektbericht, online verfügbar unter: http://www.studierbarkeit.de/fileadmin/studierbarkeit/pdf/HU_Studie/Studierbarkeit_2007_color.pdf (letzter Zugriff: 07.11.2009).
Häufig übersehen wird in der Diskussion um die Studienstrukturreform, dass diese eine lange Vorgeschichte hat, die bis in die 1960er Jahre zurückgeht. Bereits 1966 hat der Wissenschaftsrat zum ersten Mal die Einführung einer gestuften Studienstruktur vorgeschlagen, die den "Problemen der Massenuniversität", vor allem einer zu langen Studiendauer und einer zu großen Praxisferne, entgegenwirken sollten. Dass dabei der Übergang in die zweite Studienstufe nur für besonders befähigte Studierende vorgesehen war, ist ein weiteres Indiz für die spezifisch deutsche Studienreformdiskussion und die Wirksamkeit tradierter Reformüberzeugungen, die auch ihren Niederschlag in der Ausgestaltung der Bachelor- und Masterstudiengänge gefunden hat. Die Vorgeschichte der Studienstrukturreform wurde beispielsweise von Ulf Banscherus in einem Artikel ausführlich dargestellt, der 2007 im Sammelband "Der Bologna-Prozess und die Veränderung der Hochschullandschaft" erschienen ist.
Ulf Banscherus (2007): Die deutsche Studienreformdiskussion und der Bologna-Prozess. Über die These einer Konvergenz der Studiensysteme in Europa und ihre Auswirkungen auf die Bildungspolitik in Deutschland, in: Wende, Wara und Georg Bollenbeck (Hrsg.): Der Bologna-Prozess und die Veränderung der Hochschullandschaft, Heidelberg: Synchron, S. 71-88.
Was zu einer "qualitativen Studienreform" gehört, die auf die Bedürfnisse der Studierenden eingeht, ein selbstbestimmtes Studium ermöglicht und die bestehenden Mängel der traditionellen Studiengänge beseitigt, wurde bereits 1998 von zahlreichen Verbänden im gemeinsamen "Eckpunktepapier für eine qualitative Studienreform" formuliert. Dieses bis heute lesenswerte Papier findet sich hier:
http://www.fzs.de/themen/studienreform/module_kreditpunkte/1151.html
Anknüpfend an die Eckpunkte wurde sechs Jahre später ein überarbeiteter Katalog vom Studierenden-Dachverband fzs verabschiedet:
http://www.fzs.de/themen/studienreform/module_kreditpunkte/1003.html
Bologna-Prozess
Zentrale Impulse für die Studienstrukturreform kamen unzweifelhaft von der europäischen Ebene, konkret resultierten sie aus dem Bologna-Prozess, der 1999 begann. Erstes Ziel der 46 teilnehmenden Staaten war die Schaffung eines europäischen Hochschulraums bis zum Jahr 2010. Einen sehr guten Überblick über die Motive der europäischen BildungsministerInnen, die Ziele der Bologna-Erklärung und weiterer Dokumente, die Diskussion über diese Ziele und deren Umsetzung in Deutschland sowie die Entwicklung des Prozesses bis zum "Halbzeittreffen" in Bergen im Jahr 2005 bietet die Studie "Alma mater bolognese" von Andreas Keller.
Andreas Keller (2004): Alma mater bolognese. Perspektiven eines Europäischen Hochschulraums im Rahmen des Bologna-Prozesses, herausgegeben von den GEW-Landesverbänden Berlin, Brandenburg, Hessen und Niedersachsen, Frankfurt/Main, online verfügbar unter: http://www2.bdwi.de/uploads/alma_mater_bolognese.pdf (letzter Zugriff: 07.11.2009).
Zum zehnjährigen "Jubiläum" der Bologna-Erklärung sind mehrere "Bologna-Bilanzen" erschienen. In seinem Bericht "Das neue Studieren" berichtet Martin Winter ausführlich über die Risiken und Nebenwirkungen der Studienstrukturreform und legt hierbei einen besonderen Fokus auf die konkreten Veränderungen bei der realen Studiensituation vieler Studierender, die von hoher Arbeits- und Prüfungsbelastung und vielfältigen organisatorischen Defiziten gekennzeichnet ist. Demgegenüber haben Ulf Banscherus, Annerose Gulbins, Klemens Himpele und Sonja Staack in ihrem Bericht stärker die "vergebenen Chancen" des Bologna-Prozesses beleuchtet, indem sie die Umsetzung der europäischen Ziele im Bereich der sozialen Dimension, der Förderung der Berufsqualifizierung und des lebenslangen Lernens sowie bei der Studierendenmobilität ausführlich beschrieben und international vergleichend analysiert haben. Ihr Bericht enthält auch konkrete Vorschläge für eine qualitative Studienreform.
Martin Winter (2009): Das neue Studieren. Chancen, Risiken, Nebenwirkungen der Studienstrukturreform. Zwischenbilanz zum Bologna-Prozess in Deutschland, HoF-Arbeitsbericht 1/2009, Wittenberg: Institut für Hochschulforschung; online verfügbar unter: http://www.hof.uni-halle.de/dateien/ab_1_2009.pdf (letzter Zugriff: 07.11.2009).
Ulf Banscherus / Annerose Gulbins / Klemens Himpele / Sonja Staack (2009): Der Bologna-Prozess zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die europäischen Ziele und ihre Umsetzung in Deutschland, Bericht im Auftrag der Max-Träger-Stiftung, Frankfurt/Main, online verfügbar unter: http://gew.de/Binaries/Binary52190/090903_Bologna-Endfassung_final-WEB.pdf (letzter Zugriff: 07.11.2009).
Wolfgang Lieb, einer der beiden Herausgeber der NachDenkSeiten, hat sich anlässlich einer Antwort der Bundesregierung zu einer Kleinen Anfrage der Linksfraktion zur Bologna-Reform geäußert. Er betont dabei, dass er nicht der Bologna-Erklärung "die Schuld für das Desaster bei der Umstellung auf Bachelor/Master-Studiengänge in die Schuhe schieben" will. Denn ein europäischer Hochschulraum könne nach wie vor ein sinnvolles Ziel sein. Lieb betont in seinem Beitrag vielmehr die politischen Rahmenbedingungen, die die Frage, wie ›Bologna‹ umgesetzt wird, maßgeblich bestimmen. So werde oft übersehen, "dass der Bologna-Prozess in starkem Maße von der im Jahr 2000 auf dem Frühjahrsgipfel der Staats- und Regierungschefs beschlossenen sog. Lissabon Strategie überlagert wurde. Dort wurde das Ziel vorgegeben bis 2010 ›die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.‹ Anders als in anderen europäischen Ländern hat sich in Deutschland eher Lissabon als Bologna durchgesetzt." Die Konsequenzen dieser Beeinflussung werden im Beitrag auf den NachDenkSeiten beleuchtet.
Lieb, Wolfgang: Bundesregierung sieht Korrekturbedarf bei der Bologna-Reform – Korrekturen allein reichen aber nicht, URL: http://www.nachdenkseiten.de/?p=4128
Hochschulsteuerung / Akkreditierung
Zusätzlich zu den Veränderungen der deutschen Hochschullandschaft, die durch die Studienstruktureform und den Bologna-Prozess resultierten, hielten mit der Hochschulreform auch neue Steuerungsmodelle Einzug in den Hochschulalltag. Dazu gehörten eine starke Orientierung an den Prinzipien des New Public Management und der betriebswirtschaftlichen Rechnungslegung, aber auch das Prinzip einer starken Exekutive, insbesondere einer starken Hochschulleitung. Andrä Wolter hat diesen Paradigmenwechsel in einem grundlegenden Aufsatz als Weg von der "academic republic" zur "managerial university" beschrieben, von der akademischen Selbstverwaltung zu einer Hochschulsteuerung, die in erster Linie ökonomischen Rationalitäten folgt.
Andrä Wolter (2007): From the Academic Republic to the Managerial University. The Implementation of New Governance Structures in German Higher Education, University Studies 35. S. 111-132, online verfügbar unter: http://www.boeckler.de/pdf/stuf_proj_leitbild_wolter_2007.pdf (letzter Zugriff: 07.11.2009).
Als eine wesentliche Äußerungsform der Entstaatlichung der Hochschulpolitik wird von vielen BeobachterInnen die Akkreditierung betrachtet, die für Bachelor- und Masterstudiengänge verpflichtend ist. Im Fokus der Kritik steht dabei nicht nur die Delegation der Qualitätssicherung an privatrechtliche Agenturen an sich, sondern auch ein Demokratiedefizit des Systems, das sich unter anderem in geringen Beteiligungsrechten der Studierenden äußert. Hinzu kommt der Vorwurf, dass das Akkreditierungssystem keineswegs in erster Linie der Qualitätssicherung diene, sondern vielmehr zur Durchsetzung der Strukturvorgaben der Kultusministerkonferenz instrumentalisiert werde. Eine gute Hilfestellung, um sich nicht im stark instrumentellen bzw. "technischen" Vokabular des Akkreditierungssystems zu verirren, bieten Falk Bretschneider und Johannes Wildt mit ihrem "Handbuch Akkreditierung von Studiengängen". Hierin werden die wichtigsten Verfahren der Qualitätssicherung und die verschiedenen Verfahrensschritte der Programmakkreditierung in eigenen Artikeln verdeutlicht. Eine stärker systemische Perspektive auf die Qualitätssicherung nimmt Peer Pasternack in seinem Buch "Qualität als Hochschulpolitik" ein, in dem er die verschiedenen Instrumente der Qualitätssicherung an Hochschulen vorstellt und auf ihre Wirkungen hinsichtlich der Hochschulsteuerung analysiert.
Falk Bretschneider / Johannes Wildt (Hrsg.) (2007): Handbuch Akkreditierung von Studiengängen. Eine Einführung für Hochschule, Politik und Berufspraxis, 2., vollständig überarbeitete Auflage, Bielefeld: W. Bertelsmann. (Hinweis: Der W. Bertelsmann-Verlag in Bielefeld gehört trotz des gleichen Namens nicht zum Bertelsmann-Konzern in Gütersloh!)
Peer Pasternack (2006): Qualität als Hochschulpolitik. Leistungsfähigkeit und Grenzen eines Policy-Ansatzes, Bonn: Lemmens.