Hintergrundtexte zum Thema Bildungsstreik und -reformDie Einflüsterer - Lobbying in der Bildungspolitik
Über den Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi)
Seit seiner Gründung 1968 engagiert sich der BdWi für eine Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung. Er bezieht auf Kongressen, in wissenschaftlichen Publikationen und politischen Stellungnahmen öffentlich Position zu Fragen von Wissenschaft, Forschung und Hochschulentwicklung. Im BdWi haben sich über tausend Natur-, Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen zusammengeschlossen. Sie alle verbindet ihr gemeinsames Interesse an einer emanzipatorischen Wissenschafts- und Bildungspolitik.
Der BdWi lebt dabei von seinen Mitgliedern: Sie finanzieren die Arbeit und engagieren sich ehrenamtlich. Ob ProfessorIn, WissenschaftlerIn oder Studierende – gemeinsam versuchen die Mitglieder des BdWi, die bildungs- und wissenschaftspolitische Debatte zu beeinflussen.
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Vorbemerkung zum Text
In der Bildungspolitik treffen – wie in so vielen Politikbereichen – eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Vorstellungen und Interessen aufeinander. Um diese durchsetzen zu können, greifen zahlreiche Akteure auf sogenanntes Lobbying zurück. Die mal geräuschlose mal brüllend laute Einflussnahme auf Politik und insbesondere Bildungspolitik soll im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen stehen.
Ob es um die grundsätzlichen gesellschaftlichen Ziele von Bildung oder um die detaillierte Ausgestaltung eines Kindertagesstättengesetzes geht, es konkurrieren verschiedene Konzepte um politische Mehrheiten. Seit Jahrhunderten schließen sich daher Menschen zusammen, um ihre Ziele mit einer Stimme deutlich mächtiger vertreten zu können. Neben Parteien, Gewerkschaften und Bürgerbewegungen gehört hierzu auch eine Vielzahl an Vereinen und Stiftungen. Sie alle versuchen, durch Kampagnen, Stellungnahmen und persönliche Kontakte oder Parlamentsarbeit Politik zu beeinflussen. Gleichzeitig finden sich auf dem politischen Parkett zahlreiche Personen, deren hauptberufliche Aufgabe es ist, Abgeordnete und Ministerien von den Konzepten des jeweiligen Arbeitgebers zu überzeugen – sei es nun eine Stiftung, ein Pharmakonzern oder ein Bauernverband.
In einem sehr lesenswerten Beitrag von 20021 hat Oliver Schöller dargelegt, wie die politische Einflussnahme von Stiftungen und Sachverständigenräten dazu beigetragen hat, das Konzept der privaten Bildungsfinanzierung, oder konkreter: Studiengebühren, wieder mehrheitsfähig zu machen. Er sieht die Umstellung des BAföGs auf eine darlehensbasierte Studienfinanzierung 1983 als faktischen Einstiegserfolg, der nach mehreren vergeblichen Reformversuchen auch im Zuge der sogenannten "geistig-moralischen Wende" der Regierungsübernahme durch Helmut Kohl zu sehen sei. Es dauerte aber bis in die zweite Hälfte der 90er Jahre, bis sich ein weitgehender Konsens durchgesetzt hatte, dass das Hochschulwesen einer grundlegenden Reform bedürfe, die den Hochschulen mehr ‚Freiheit‘ von nun als negativ bewerteter staatlicher Steuerung verschaffe. Schöller verweist darauf, dass dieser Konsens mit der Gründung einer Reihe von Sachverständigenräten einherging, welche auffallenderweise ihre Reformmodelle weitestgehend auf Fragen der Finanzierung zuspitzten. Die Idee, dass Geld ein legitimes und effektives Steuerungsinstrument darstelle und dass eine private Beteiligung (Stichwort ‚Bildungssparen') unumgänglich sei, setzte sich durch.
Schöller verweist auf die Redundanz des Diskurses, welche auch durch personelle Verflechtungen zwischen einzelnen Arbeitsgruppen bedingt sei. Er unterstreicht, dass die Befürworter privater Bildungsfinanzierung sich zumeist weniger quantitative als qualitative Veränderungen erhofften (‚Kundenmentalität', ‚Wettbewerb', ‚Innovationen'). Die von den Reformern zunächst verbreitete Vorstellung, dass durch private Bildungsfinanzierung mehr soziale Gerechtigkeit im Bildungsbereich herstellbar sei, werde dabei von dezidiert neoliberalen Reformern nicht propagiert: "Der naive Gedanke, dass private Finanzierungsmodelle im Bildungswesen geeignet sind, die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten zu korrigieren, kommt bezeichnenderweise bei explizit neoliberal argumentierenden VertreterInnen gar nicht erst auf." Eine Ausdifferenzierung, die soziale Unterschiede reproduziere, werde im Gegenteil bewusst in Kauf genommen.2
Fußnoten
1 Oliver Schöller, Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht. Bildungspolitische Einflussnahmen von Stiftungen und Sachverständigenräten, in: BdWi/fzs/GEW (Hg.), Studienheft 1: Bildungsfinanzierung, Marburg 2002.
2 vgl. dazu auch den Text ‚Elite' von Morus Markard: https://www.studis-online.de/hochschulpolitik/bildungsstreik/elite.php
Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht - Bildungspolitische Einflussnahme von Stiftungen und Sachverständigenräten
Seit Beginn der 1980er Jahre gab es immer wieder vereinzelte Versuche, Modelle einer privaten Bildungsfinanzierung im bundesdeutschen Bildungswesen einzuführen. Langsam aber stetig vollzog sich die von der liberal-konservativen Bundesregierung angestrebte "geistig-moralische Wende". Die Umstellung des BAföG auf Darlehensbasis 1983 war der erste Schritt in Richtung einer Monetarisierung des Bildungssystems. Demgegenüber blieben Versuche der Etablierung einer Debatte über privatfinanzierte Studienbeitragsmodelle lange Zeit erfolglos. Zehn Jahre später entwickelte sich die Diskussion über Studiengebühren zum Dauerbrenner. So diagnostizierte Torsten Bultmann 1995 den bildungspolitischen Diskurs als ein disparates politisches Gemisch, "welches durchaus das Terrain für eine absehbare reale Einführung von Studiengebühren ebnen kann, solange sich keine politisch nachdrückliche Gegenöffentlichkeit herausbildet, welche dieses Vorhaben unter Berufung auf eine bürgerrechtlich-sozialstaatliche Bildungskonzeption prinzipiell attackiert."1
Hegemonialer Diskurs
Einflüsterer am Werk?
In der zweiten Hälfte der 90er Jahre verdichtete sich das politische Gemisch zu einem hegemonialen Diskurs. Vor dem Hintergrund eines weitreichenden gesellschaftlichen Konsenses über die Notwendigkeit einer Reform des deutschen Bildungssystems beteiligten sich Personen, Organisationen und Verbände des gesamten gesellschaftlichen Spektrums an der Debatte mit dem Ziel einer grundlegenden Transformation. Über politische Grenzen hinweg setzte sich die Einsicht durch, das deutsche Bildungssystem kranke an strukturellen Blockaden und bedürfe daher eines grundlegenden Umbaus. So gelte es, die Bildungsinstitutionen "aus der Umarmung des Staates" zu befreien. Als neues Steuerungsinstrument sollte vermittelt über einen Globalhaushalt die Ordnungsmacht des Geldes staatliche Regulationsmechanismen ersetzen und auf diese Weise die Autonomie der Bildungseinrichtungen stärken. Erst einmal herausgebrochen aus dem Prokrustesbett vermeintlicher "staatlicher Überregulierung", meinte man, dem auf diese Weise freigesetzten "Rohstoff Bildung" eine neue Form geben zu können.
Einen institutionellen Ausdruck fanden die Aktivitäten in der Gründung zahlreicher Bildungskommissionen. Den Auftakt machte 1992 die Bildungskommission des Landes Nordrhein-Westfalen, die 1995 ihren Bericht vorlegte.2 Ein Jahr später beschäftigte sich die Hochschulrektorenkonferenz intensiv mit der Finanzierung des deutschen Hochschulwesens und konstatierte erhebliche Defizite.3 Im Sommer 1997 wurde von Seiten der Gewerkschaften der Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung ins Leben gerufen.4 Wie eine Initialzündung wirkte kurz darauf die Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, in der dieser zu einem "Aufbruch in der Bildungspolitik" aufgerufen hatte. Die Bertelsmann Stiftung gründete – nicht zuletzt in Reaktion darauf – 1998 unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten den Initiativkreis Bildung, der seine Ergebnisse ein Jahr später vorstellte.5 Etwa zur selben Zeit legten der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und das Centrum für Hochschulentwicklung ihre Vorschläge zur Bildungsfinanzierung im Hochschulbereich vor.6 Im Frühjahr 2001 schaltete sich auch die Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung in die Debatte ein.7 Zuletzt erstellte die gewerkschaftlich dominierte Initiative Netzwerk Europäische Lernprozesse (NELP) ein Bildungsmanifest.8
Auffallend ist, dass der Bildungsdiskurs immer mehr auf den Aspekt der Bildungsfinanzierung verengt wurde. Entweder erarbeiteten die Bildungskommissionen ausschließlich Finanzierungskonzepte, oder ein verändertes System der Bildungsfinanzierung stand doch zumindest am Anfang aller Überlegungen und beeinflusste wesentlich die daran orientierten Reformvorschläge, wie etwa im Falle des Sachverständigenrates Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung. Anfang der 90er Jahre diskutierte demgegenüber die Bildungskommission NRW ihre Vorstellungen einer grundlegenden Bildungsreform noch in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext, den es zu gestalten galt, wobei sie sich an innovativen pädagogischen Konzepten orientierte. Die Finanzierungsfrage spielte damals noch eine untergeordnete Rolle. Dies änderte sich nachfolgend. Schon die Hochschulrektorenkonferenz reagierte mit ihrer Untersuchung der Hochschulfinanzierung nach eigener Aussage auf einen "gesellschaftlichen Rechtfertigungsdruck". In Anbetracht schrumpfender Haushaltsetats müsse das Bildungssystem zeigen, dass es die Ressourcen der öffentlichen Hand effektiv einzusetzen verstehe. In dem Maße, wie dieser Blickwinkel übernommen wurde, dominierten Finanzierungskonzepte die bildungspolitischen Reformdebatten; oder anders gesagt: Spezifisch installierte Geldkreisläufe wurden als Vehikel der Steuerung inhaltlicher Abläufe von allen Kommisionen akzeptiert.
Ihre Konzepte verinnerlichen das "Nullwachstumsparadigma" künftiger Bildungsausgaben, d.h. sie gehen vom Finanzierungsvorbehalt der öffentlichen Hand aufgrund leerer Haushaltskassen aus. Es ist wohl diese zentrale und an keiner Stelle hinterfragte Prämisse, die zu einer eigentümlichen Homogenität aller zur Zeit diskutierten Bildungsreformvorschläge führt. Mit dieser Prämisse verbieten sich diese selbst, die Finanzknappheit des Bildungswesens im Kontext gesamtgesellschaftlicher Reichtumsverteilung zu diskutieren. Aus dieser Sicht allerdings bleibt dann nur die Möglichkeit, die Finanzierung wachsender gesellschaftlicher Bildungsansprüche a) über eine administrative Verknappung und Beschleunigung von Bildungszeiten und b) durch eine Einführung privater Eigenbeteiligung abzusichern. Daraus erklärt sich das von allen Bildungskommissionen einhellig empfohlene Bildungssparmodell, demzufolge zukünftige LernbürgerInnen ihre individuelle Bildungsbiographie über private Bildungskonten finanzieren. Das Ziel ist eine stärkere Ökonomisierung des Bildungswesens. Durch ihre In-Wertsetzung wird Bildung zum knappen Gut auf dem "freien Bildungsmarkt".
Bildung sparen durch Bildungssparen
Als strukturbildende Idee gilt dabei das "Bildungssparen". Indem diese explizit an das altbekannte Modell des Bausparens anknüpft, wirkt der Gedanke zunächst ebenso schlicht wie bestechend. In Zukunft sollen Eltern nicht nur Bausparverträge anlegen, sondern darüber hinaus "Bildungskonten" für ihre Kinder eröffnen. Auf diese zahlen der Staat und die Eltern jeweils Anteile ein, wobei sich der Umfang öffentlicher Subventionierung an den Einkommens- und Vermögensverhältnissen orientieren soll. Über die Gesamtsumme des Kontos finanziert der "Bildungskunde" in Zukunft seine individuelle "Bildungsbiographie". Dazu tauscht er sein erspartes Geld in "Bildungsgutscheine", die er auf dem freien Markt der "Bildungsanbieter" gegen entsprechende Dienstleistungen seiner Wahl einlösen kann. Dieses Konzept der Bildungsfinanzierung soll perspektivisch für den gesamten Bildungsweg gelten, angefangen bei den vorschulischen Einrichtungen, wie Kindergärten, die schon immer teilprivatfinanziert waren, über das gesamte Schulsystem und die Hochschulen bis zur Weiterbildung. So möge man sich künftig "Lebenslanges Lernen" vorstellen.
Die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen treffen sich heute auf dem gemeinsamen Nenner, dass die zukünftige Bildungsfinanzierung neben dem staatlichen einen (stärkeren) privaten Kostenbeitrag beinhalten sollte. Das ehemalige Tabu "Studiengebühren" wurde gebrochen und hat sich mittlerweile verkehrt zu einem weitreichenden gesellschaftlichen Konsens. Mehr noch, was mit Studiengebühren ursprünglich für den Hochschulbereich diskutiert wurde, wird nun auf den Schulbereich (Sekundarstufe II) ausgedehnt. Zwar sind die Bildungskommissionen von Böll- und Böckler-Stiftung darauf bedacht, das Wort "Studiengebühren" nicht zu verwenden, auch um sich auf diese Weise abzugrenzen etwa von der Bertelsmann Stiftung, die unverhohlen die Orientierung am us-amerikanischen Bildungssystem propagiert. Aber schon bei dem von allen einhellig befürworteten Bildungssparmodell handelt es sich freilich um einen privaten Finanzierungsbeitrag und damit um Studiengebühren. Ebenso bleibt es unverständlich, wenn sich einzelne Vertreter des Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung über den Hinweis empören, dass ihre Empfehlungen auf die Wiedereinführung von Schulgeld mindestens in der Oberstufe hinauslaufen. Hier handelt es sich offensichtlich um persönliche Schamgrenzen, die zumindest verbal nicht überschritten werden dürfen, während sie faktisch schon längst zur Disposition stehen.
Zur Frage, wie sich ein hegemonialer Bildungsdiskurs durchsetzt, gab die Vorsitzende der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung, Sybille Volkholz, einige Hinweise, als am 23. März 2001 in Berlin deren Finanzierungsvorschläge der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Der Enttäuschung darüber, dass die Böll-Stiftung sich hier beschränkt, die Empfehlungen anderer Bildungskommissionen – explizit die der Böckler-Stiftung und des Bertelsmann-Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) - zusammenzufassen, begegnete Frau Volkholz mit dem Kommentar: "Es wurde schon alles gesagt, aber noch nicht von allen". Zweifellos handelt es sich um einen wichtigen zivilgesellschaftlichen Beitrag, wenn eine bedeutende Parteienstiftung die Wiederholung des immer Gleichen betreibt, um einen öffentlichen Diskurs zu speisen und auf diese Weise politischen Zielen Nachdruck zu verleihen. Die Böll-Stiftung alleine freilich stände damit auf verlorenem Posten, weshalb es darum gehen müsse, neue "Bündnisse" zu schließen, wie die Kommission gleich zu Anfang ihrer Empfehlungen betont. Daraus erklären sich teilweise die personellen und institutionellen Verflechtungen zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen. So konnte Volkholz auf wertvolle Erfahrung zurückgreifen, die sie zuvor als Mitglied des Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung gemacht hatte. Der dortige Vorsitzende Dieter Wunder assistierte einerseits als Mitglied der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung bei der Zusammenfassung der eigenen Empfehlungen. Neben Böckler- und Böll-Stiftung unterstützte Wunder überdies den Initiativkreis Bildung der Bertelsmann Stiftung, während im Gegenzug Cornelia Stern von der Bertelsmann Stiftung sowohl im Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung wie auch in der Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung teilnahm. Die Autoren des Finanzierungspapiers des Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung, Klaus Klemm und Jürgen Lüthje, schließlich beteiligten sich auch am gemeinsamen Arbeitskreis des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und des Centrums für Hochschulentwicklung.
Konditionierung der LernbürgerInnen
Die angestrebte Transformation des Bildungssystems durch einen generalisierten privaten Kostenbeitrag wird nicht allein mit den dadurch zusätzlich eingeworbenen Finanzmitteln begründet. Tatsächlich werden die Mehreinnahmen eines stärker marktregulierten Bildungswesens etwa von der Hochschulrektorenkonferenz eher gering eingeschätzt. Neben den quantitativen Effekten erwarten die Bildungskommissionen vor allem eine qualitative Veränderung im Sinne eines sich wandelnden Lernverhaltens der BildungsnachfragerInnen. Besonders anschaulich und für alle Kommissionen exemplarisch argumentiert diesbezüglich der Initiativkreis Bildung der Bertelsmann-Stiftung. Ausgehend von einer alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifenden Wirtschaftsdynamik, wird dort eine neue "Lernkultur" entworfen. Zukünftige LernbürgerInnen müssten frühzeitig in die Lage versetzt werden, den ständig wechselnden Anforderungen der beruflichen Praxis gerecht zu werden. Demgegenüber wirken die traditionell vermittelten, auf Dauer angelegten Bildungsbestände auf die anbrandende Wirtschaftsdynamik wie Wellenbrecher, vor allem störend. Die Schule der Zukunft solle sich daher auf die Vermittlung der Basis-Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen konzentrieren und anschließend flexibel auf die jeweilige Wirtschaftsnachfrage reagieren. Ergänzend fügt das gewerkschaftlich dominierte Netzwerk Europäische Lernprozesse (NELP) in seinem Bildungsmanifest hinzu: "Erzwungene Wechsel müssen sich nach dem Vorbild von ‚Wertschöpfungsketten’ in einer sinnvollen Abfolge von Bildungsereignissen – ‚Bildungsketten’ – verarbeiten lassen. Lebenslanges Lernen muss die einzelnen Glieder dieser Kette, sprich: Bildungs- und Berufserfahrungen, miteinander verknüpfen und einen Bildungsmehrwert erzeugen können." Lebenslanges Lernen meint hier das Sich-Anschmiegen an die Wechselfälle der Wirtschaftsentwicklung. Die alten Bildungseinrichtungen würden diesen neuen ökonomischen Anforderungen nicht gerecht. Gefordert werden "Unternehmerschmieden", in denen der/die Einzelne das erforderliche Rüstzeug erwirbt, um im internationalen Wettbewerbskampf zu bestehen.
Bildung wird hier, so Andreas Keller, "einseitig als abhängige Variable der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung verstanden und Bildungspolitik auf einen Teilaspekt von Wirtschafts- und Standortpolitik reduziert. Aus dem Recht auf Bildung ist eine Qualifizierungspflicht jeder und jedes einzelnen geworden. Jedes Individuum soll für die Produktion und laufende Reproduktion seines Arbeitsvermögens selbst verantwortlich sein".9 Autonom und verantwortlich sind Bildungssubjekte demnach, wenn sie sich kostenbewusst verhalten. Dabei sind die Grenzen zwischen marktförmiger Selbstregulierung und Sozialdisziplinierung fließend, wenn etwa marktkonformes Verhalten in Zukunft "belohnt" und marktwidriges "bestraft" werden soll. Der autoritäre Klang sozialdisziplinärer Maßnahmen wird vor allem von denjenigen angeschlagen, die sonst den zivilgesellschaftlichen Diskurs pflegen. In Anbetracht knapper Finanzmittel fordern sowohl die Stiftung der Grünen Partei wie auch die Gewerkschaftsstiftung von den BildungskonsumentInnen eine "Rechenschaftspflicht" über ihre Bildungsaktivitäten. Auf diese Weise wird ein Mentalitätswechsel bei allen Beteiligten angestrebt, der sie in Zukunft dazu anhalten soll, ihre Ansprüche "nachhaltig" an den begrenzten ökonomischen Ressourcen auszurichten.
Soziale Differenzierung
Weder die Ökonomisierung des Bildungssystems noch die Konditionierung der LernbürgerInnen zu Kunden, die sich nach einem strikten Kosten-Nutzen-Kalkül am Bildungsmarkt orientieren, sollen zu einer Klassifizierung der BildungsnachfragerInnen nach Einkommensgruppen führen. Im Gegenteil, die immer wieder beklagte soziale Selektion des bestehenden Bildungssystems und die Benachteiligung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten soll vielmehr durch die Transparenz eines einheitlichen Bildungsmarktes überwunden werden. Dabei steht ausgerechnet das Modell des privaten Bausparens Pate für ein Bildungsfinanzierungsmodell, dass die bestehenden Privilegien der Mittelschichten aufheben und den bis heute benachteiligten unteren Einkommensschichten zugute kommen soll. Den Vorteil sehen die Bildungskommissionen in der "selbstbestimmten" individuellen Verfügung über Bildungskonten, die eine bis heute ungerechte gesamtgesellschaftliche (staatliche) Verteilung der Bildungskosten kompensieren soll.
Diese Argumentation muss mit Blick auf die sozialen Effekte des Bausparens überraschen. Die Bildung von privatem Wohneigentum wurde in der Nachkriegszeit von staatlicher Seite zunächst massiv unterstützt. Das Bausparen und der damit zumeist angestrebte Eigenheimbau wurden in einem nie wieder erreichten Ausmaß durch die öffentliche Hand gefördert. Vereinzelt profitierten davon auch untere Einkommensschichten. Aber schon seit den 60er Jahren können sich diese den Traum vom Eigenheim nur durch umfangreiche Selbsthilfemaßnahmen realisieren. Daher handelt es sich bei dem Bausparmodell bis heute überwiegend um ein Mittelschichtphänomen. In Anbetracht einer stabilen (Wohn-)Eigentumsquote von 50% der Bevölkerung bleibt unverständlich, warum sich sowohl der Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung wie auch die Bildungskommisssion der Heinrich-Böll-Stiftung von der Anwendung dieses Modells im Bildungsbereich eine Korrektur der sozialen Schieflage zugunsten der unteren Einkommensschichten erwarten. Denn legt man das Bausparmodell zugrunde, dann muss bei über 50% der Bevölkerung davon ausgegangen werden, dass sie das System des Bildungssparens nicht erfolgreich nutzen können und folglich auf andere Finanzierungsquellen angewiesen sein werden.
Dabei drückt sich im Bereich des Bausparwesens nur eine im Gesellschaftssystem strukturell begründete ungleiche Reichtumsverteilung aus. Der Armutsbericht der Bundesregierung kommt zu dem Ergebnis, dass die Bevölkerungsgruppe der reichsten 20% über 68,9% der von in Haushalten vorhandenen Ersparnisse verfügen. Diese Ungleichverteilung erklärt sich vor allem daraus, dass mit steigendem Erwerbseinkommen die Sparfähigkeit überproportional zunimmt. Dementsprechend verteilen sich auf die unteren 60% der Bevölkerung nur ein Zehntel dieser Geldmittel. Damit ist die gesellschaftliche Mehrheit, wenn überhaupt, nur zu einem bescheidenen Sparverhalten in der Lage. Solange sich diese strukturelle Diskrepanz nicht ändert, ist auch nicht damit zu rechnen, dass ein wie immer geartetes Sparmodell im Bildungsbereich zu mehr Gerechtigkeit beiträgt. Eine realistischere Einschätzung der sozialen Folgen privater Finanzierungsmodelle im Bildungswesen treffen Stifterverband und CHE. Diese empfehlen zusätzlich zur Finanzierung über Bildungssparkonten ein staatlich organisiertes Darlehenssystem zur Unterstützung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten. Aber selbst bei der Berücksichtigung eines Darlehenssystems mit einkommensabhängiger Rückzahlung müsse man im Falle sozial benachteiligter Gruppen mit "Abschreckungswirkungen" aufgrund der zu erwartenden Rückzahlungsverpflichtungen rechnen. Bezogen auf den Hochschulbereich schlagen Stifterverband und CHE daher vor, zehn bis zwanzig Prozent der Studienplätze gebührenfrei zu gestalten, um auf diese Weise eine soziale Selektion zu vermeiden. Anders gesagt: Der naive Gedanke, dass private Finanzierungsmodelle im Bildungswesen geeignet sind, die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten zu korrigieren, kommt bezeichnenderweise bei explizit neoliberal argumentierenden VertreterInnen gar nicht erst auf. Vielmehr wird deutlich, dass es bei der Einführung privater Kostenbeiträge im Bildungssystem zu einer über Finanztitel regulierten sozialen Selektion käme. "Einfacher gesagt: Bildung würde wieder zum Klassenprivileg werden".10
Besonders pointiert brachte dies der Wirtschaftswissenschaftler Birger Priddat zum Ausdruck, der maßgeblich an dem Bildungsmanifest des gewerkschaftsnahen Netzwerk Europäische Lernprozesse mitgewirkt hat. Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit im Bildungssystem erscheint ihm vor allem als Reformhindernis, "da es jetzt nicht mehr primär darum geht, jedem den Zugang zum Bildungswesen zu erlauben, sondern um die Qualität, die dieses Bildungswesen nicht mehr erbringt. Die Kosten des freien Zugangs sind zu hoch geworden für den Preis der Vernachlässigung einer Qualität, die den freien Zugang erst rechtfertigt. Es geht um fehlende Differenzierung".11 Insofern wird auch verständlich, warum im Zusammenhang mit Finanzierungskonzepten, die darauf zielen, individuelle Begabungen besonders zu fördern und persönliche Leistungen speziell zu honorieren, unbefangen neue Elitekonzepte diskutiert werden.
Entdemokratisierung: Markt statt Politik
Von einer Ökonomisierung des Bildungssystems erwarten sich die BildungsexpertInnen aber nicht nur die Beseitigung sozialer Ungleichheiten, darüber hinaus spekulieren sie bei der Vermarktung des Bildungssystems auf eine neue Entwicklungsdynamik. Die Bildungskommissionen beklagen einhellig die durch staatliche Überregulierung verkrusteten Strukturen im Bildungswesen. Diese schränken ihrer Meinung nach die Handlungskompetenz aller am Bildungssystem Beteiligten zu sehr ein. Die individuelle Entfaltung des einzelnen Bildungskunden werde ebenso behindert wie die Freisetzung von schlummernden Innovationspotentialen der Bildungseinrichtungen. Die Etablierung eines Bildungsmarktes soll dazu beitragen, die heute noch wirksamen Ketten, in die das Bildungssystem gelegt wurde, zu sprengen. Die wesentlichen Aspekte einer marktkonformen Neustrukturierung des Bildungswesens hat der Leiter des Centrums für Hochschulentwicklung, Detlef Müller-Böling, jüngst noch einmal am Beispiel der "entfesselten Hochschule" prägnant zusammengefasst.12 Die solchermaßen befreite Hochschule skizziert er als autonomes Dienstleistungsunternehmen, das auf nationalen und internationalen Bildungsmärkten im Wettbewerb mit anderen AnbieterInnen profilierte Wissensproduktion betreibt. Zu diesem Zweck werden die ehemals politischen Steuerungsmechanismen einseitig durch Verfahren ökonomischer Selbstregulierung ersetzt. Dementsprechend sind die neuen Bildungseinrichtungen Müller-Böling folgend vor allem autonom, wissenschaftlich, wettbewerblich, wirtschaftlich, international und natürlich virtuell. Über die politische Verfassung der entfesselten Hochschule erfahren wir hingegen nichts. Dies ist im Rahmen eines reinen Marktmodells nur konsequent. Die Frage etwa, ob es sich bei der entfesselten Hochschule um eine demokratische Einrichtung handelt, stellt sich unter Marktbedingungen nicht.
Diese Tendenz einer Entpolitisierung im Bildungssektor zeichnet alle politisch relevanten Bildungsreformkonzepte aus. Zwar betonen die hier besprochenen Bildungskommissionen die existentielle Bedeutung von Bildung für ein demokratisches Gemeinwesen, ohne sich allerdings Gedanken über die politische Organisation des Bildungssystems zu machen. Bildung besitzt aber für ein demokratisches Gesellschaftssystem keinen Wert an sich, sie wirkt nicht automatisch als Bollwerk gegen antidemokratische Einstellungen. Vielmehr widerspricht die Einführung privater Finanzierungsmodelle im Bildungswesen öffentlichen und kommunikativen Verfahren demokratisch organisierter Gesellschaften, indem diese Modelle individuelle Handlungsstrategien einzelner BildungsnachfragerInnen befördern, sich im Wettbewerb gegenüber Konkurrenten durchzusetzen. Wird Bildung zukünftig im Sinne der vorgestellten Finanzierungskonzepte verstärkt über marktförmige Konkurrenzverhältnisse vermittelt, die den einen "belohnen", während die andere "bestraft" wird, ist es denkbar, dass sich eine heute schon zu verzeichnende Entwicklung verstärken wird, wonach sich bei den BildungskundInnen zunehmend autoritäre Denkmuster ausprägen. Allgemein formuliert: Je mehr die Universitäten und Fachhochschulen zu der Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft beitragen und Rechtfertigungsideologien für diese Ungleichheiten entwickeln, desto stärker kommen autoritäre Strukturen in diesen Institutionen zur Geltung.13 Um einer solchen Entwicklung etwas entgegen setzen zu können, müsste der hegemoniale Diskurs über die finanztechnische Verwaltung des Bildungssystems mit einer Debatte über die Gestaltung von Bildungspolitik und damit auch über Inhalte von Bildung konfrontiert werden. Dazu gehört auch die Frage, wie das offizielle Ziel autonomer – und kritikfähiger – Persönlichkeiten, besser erreicht werden kann. Dabei bildet ein historisches Bewusstsein über die widersprüchliche Entwicklung der progressiven bundesdeutschen Bildungsreformbewegung, das sich nicht von vermeintlichen Sachzwängen irritieren lässt, eine notwendige Voraussetzung, um verloren gegangenes politisches Unterscheidungsvermögen im Bildungsbereich wiederzuerlangen. Oder in den Worten von E.A. Rauter: "Wir müssen die Lehrpläne so verändern, daß in den Schulen keine Untertanen mehr hergestellt werden können."14
Oliver Schöller arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin zur Zukunft des öffentlichen Verkehrs.
Fußnoten
1 Zur aktuellen Diskussion um Studiengebühren - Hintergründe und bildungspolitische Konzepte (Auftrag der PDS-Gruppe im Deutschen Bundestag an den BdWi Bonn). o.O. [Bonn], o.J. [1995]
2 Bildungskommission des Landes NRW: Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft. Neuwied u.a. 1995
3 Hochschulrektorenkonferenz: Zur Finanzierung der Hochschulen. Bonn 1996
4 Sachverständigenrat Bildung bei der Hans-Böckler-Stiftung: Für ein verändertes System der Bildungsfinanzierung. Düsseldorf 1998
5 Initiativkreis Bildung der Bertelsmann-Stiftung: Zukunft gewinnen – Bildung erneuern. Gütersloh 1999
6 Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft/Centrum für Hochschulentwicklung: Modell für einen Beitrag der Studierenden zur Finanzierung der Hochschulen (Studienbeitragsmodell). Essen/Gütersloh 1998
7 Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung: Bildungsfinanzierung in der Wissensgesellschaft. Berlin 2001
8 Netzwerk Europäische Lernprozesse: Manifest: Bildung für die Arbeits- und Wissensgesellschaft. Hannover 2002
9 Keller, Andreas: Hochschulreform und Hochschulrevolte. Marburg 2001, S. 2
10 Bultmann, Torsten/Weitkamp, Rolf: Hochschule in der Ökonomie. Zwischen Humboldt und Standort Deutschland. Marburg 1999
11 Priddat, Birger: Bildung und soziale Gerechtigkeit, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 8/9 2001
12 Müller-Böling, Detlef: Die entfesselte Hochschule. Gütersloh 2000
13 Vgl. Keller, Carsten/Schöller, Oliver: Autoritäre Bildung. Bildungsreform im Zeichen von Standortwettbewerb und neuen Eliten, in: Bittlingmayer, Uwe H./Eickelpasch, Rolf/Kastner, Jens/ Rademacher, Claudia (Hrsg.): Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus. Opladen 2002
14 Zur Erinnerung an E.A. Rauters Buch "Wie eine Meinung in einem Kopf entsteht", München 1971, und meinen Deutschlehrer, der mir frühzeitig zu seiner Lektüre verhalf. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die aktualisierte und überarbeitete Zusammenfassung einer Studie, die der Autor für die PDS-Bundestagsfraktion erstellt hat. Die ausführliche Dokumentation mit einer vollständigen Literaturliste kann dort bezogen werden.
Kommentierte Literaturliste
Lobbyismus und Think-Tanks
Einen kurzen aber prägnanten Überblick über die Geschichte des Lobbying bietet ein Beitrag, den Deutschlandradio Kultur vor kurzem veröffentlichte und in dem verschiedene Perspektiven auf die Arbeit von Lobbyisten zu Wort kommen:
Otto Langels, Die ‚fünfte Gewalt'. Eine kurze Geschichte des Lobbyismus in Deutschland.?Online unter:?http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/zeitreisen/1084836/
Die umgekehrte Perspektive nimmt ein Beitrag von Ulrich Müller und Dr. Dieter Plehwe ein, der 2008 in der Forum Wissenschaft erschien. Sie haben untersucht, wie Wissenschaftler als vermeintlich unbeteiligte Experten Teil von Lobbying werden können, welche Rolle dabei ‚wissenschaftliche, überparteiliche Think-Tanks' spielen und geben dabei eine Reihe hilfreicher Literaturhinweise:
Nicht öffentlichkeitsfähig. Wissenschaft als Lobby-Instrument, in: Forum Wissenschaft 2/2008.?Online verfügbar unter: http://www.bdwi.de/forum/archiv/archiv/1342605.html
Die beiden Autoren gehören zur Organisation Lobbycontrol, einem gemeinnützigen Verein, der durch Recherchen und Veröffentlichungen "über Machtstrukturen und Einflussstrategien in Deutschland und der EU aufklären will". Zu ihren expliziten Zielen gehören strengere Regeln für Lobbyismus und mehr Transparenz. Auf ihrer Homepage finden sich umfangreiche Hintergrundrecherchen zu einzelnen Lobby-Verbänden wie "Neue Soziale Marktwirtschaft", aber auch zu aktuellen Kampagnen. In der Rubrik ‚Hintergrund‘ findet sich außerdem eine sehr gute und z.T. verlinkte Literaturliste: http://www.lobbycontrol.de/blog/index.php/hintergrund/
Noam Chomsky vertritt in seinen Schriften eine Theorie kapitalistisch gleichgeschalteter Medien und bietet damit für die Debatte um Lobbying einen interessanten Anknüpfungspunkt für weitergehende Lektüre. Oliver Frommel hat 2003 eine einführende Rezension zu seinen übersetzten Texten veröffentlicht, die online verfügbar ist: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/14/14958/1.html
Lobbyismus in der Bildungspolitik
Das sicher prominenteste Beispiel eines Bildungslobbyisten ist das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE), das von der Bertelsmann-Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz gegründet wurde. Das CHE entfaltet dabei zahlreiche Initiativen, bspw. wurden Studiengebührenmodelle entwickelt, fragwürdige Umfragen veröffentlicht und auf Veranstaltungen für Studiengebühren gekämpft. ?Mit der Arbeit der Bertelsmann-Stiftung und des CHEs haben sich im Laufe der Jahre zahllose Beiträge beschäftigt, von denen schlaglichtartig einzelne hervorgehoben werden sollen.
So hat sich insbesondere der Sammelband von Jens Wernicke und Torsten Bultmann kritisch mit der Bertelsmann-Stiftung auseinandergesetzt, und dabei dem Bereich ‚Bildung' einen großen Abschnitt gewidmet:
Jens Wernicke, Torsten Bultmann (Hg.): Netzwerk der Macht – Bertelsmann. Der medial-politische Komplex aus Gütersloh, 2. Auflage, Marburg 2007.?
Das Buch ist zurzeit vergriffen und wird nachgedruckt, eine einführende Rezension findet sich hier: http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar439.html
Ein weiterführendes Interview mit einem der Herausgeber hier: http://www.nachdenkseiten.de/?p=2357
Oliver Schöller analysiert die gesellschaftspolitische Bedeutung der Stiftung und gibt dabei zahlreiche weiterführende Literaturhinweise: Oliver Schöller, "Bertelsmann geht voran!" Zur gesellschaftspolitischen Bedeutung eines deutschen Think Tank, in: Utopie kreativ 155 (2003), 803-811,?abrufbar unter: http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/155_schoeller.pdf?
Martin Bennhold hat sich in einem Beitrag mit der Rolle des CHE in den Hochschulreformen auseinandergesetzt:?
Martin Bennhold, Die Bertelsmann-Stiftung, das CHE und die Hochschulreform. Politik der ‚Reformen' als Politik der Unterwerfung, in: Ingrid Lohmann / Rainer Rilling (Hg.): Die verkaufte Bildung - Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule, Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft. Opladen 2002, 279-299. Online unter: http://www.anti-bertelsmann.de/bennhold.pdf
Seit einigen Jahren tummelt sich im Bildungsbereich auch die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), ein Zusammenschluss von Arbeitgebern und wirtschaftsnahen Institutionen, die insbesondere durch ihre "Du bist Deutschland"-Kampagne für Aufsehen sorgte. Mit den bildungspolitischen Kampagnen der INSM (insbesondere dem "Bildungsmonitor") hat sich z.B. Karsten Schuldt kritisch beschäftigt: http://bildungundgutesleben.blogsome.com/2007/08/25/mit-punkten-bildungspolitik-machen/
Das CHE und die INSM sind jedoch nur die prominentesten der zu nennenden Einrichtungen. So gab es an der TU München das Projekt "ExcellenTUM", an der TU Dresden das "Studentische Vereinsmodell", die Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) wurde aktiv und die Initiative Soziale Marktwirtschaft ebenso.
Klemens Himpele hat die Lobbyingaktivitäten aus der wirtschaftsnahen Ecke beschrieben und ihre Ziele dargestellt:
Himpele, Klemens: Der Einfluss von Lobbyorganisationen und Wirtschaft im Diskussionsfeld Studiengebühren, zu finden bei Studis-Online: https://www.studis-online.de/HoPo/Hintergrund/lobby.php
Studentische Initiativen waren immer ein beliebter Ansatz von Seiten der BefürworterInnen von Studiengebühren, da allgemein – vor allem durch zahlreiche Demonstrationen und Proteste – die Studierenden als GegnerInnen von Studiengebühren wahrgenommen wurden. Aus diesem Grund wurde mit finanzieller Unterstützung gerne auf studentische Initiativen zurückgegriffen, die freiwillig Gebühren eingehoben haben um damit bspw. eine längere Bibliotheksöffnung zu finanzieren.
Marco Unger hat sich diese Gruppen angesehen und auch eruiert, welchen Erfolg bzw. Misserfolg diese Art des Lobbyings hatte:
Unger, Marco: Kauf Dir eine Studierendengruppe! Studentische ‚Initiativen' für Studiengebühren und was daraus wurde, in: Himpele, Klemens / Bultmann, Torsten (Hg.): Studiengebühren in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. 10 Jahre Aktionsbündnis gegen Studiengebühren: Rückblick und Ausblick, Marburg 2009, S. 169 – 174.
Der Text von Marco Unger ist hier einsehbar: https://www.studis-online.de/HoPo/Hintergrund/studierende-fuer-gebuehren.php Informationen zum Buch und Bestellmöglichkeit: http://www.bdwi.de/show/1771954.html
Interessenvertretung und studentischer Lobbyismus?
Nicht nur für, auch gegen Studiengebühren wurde versucht, Einfluss zu nehmen. Das Aktionsbündnis gegen Studiengebühren (ABS) ist ein Zusammenschluss verschiedener Organisationen, um wirksam gegen Studiengebühren vorzugehen. Dabei hat das ABS immer zwischen Lobbyismus und Straßenkampf changiert. Dabei, so schreiben Karin Zennig und Frederik Dehnerdt, benötigt und verwendet das Bündnis sowohl aktionistische, als auch klassisch lobbyistische Mittel. Um erfolgreich zu sein, bedürfe es beider Instrumente.
Zennig, Karin / Dehnerdt, Frederik: Zwischen Lobbyismus, Straßenkampf und Boykott – welche Aktionsform zu welchem Zeitpunkt?, in: Himpele, Klemens / Bultmann, Torsten (Hg.): Studiengebühren in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. 10 Jahre Aktionsbündnis gegen Studiengebühren: Rückblick und Ausblick, Marburg 2009, S. 233 – 238.
Informationen zum Buch und Bestellmöglichkeit: http://www.bdwi.de/show/1771954.html
Armin Himmelrath sieht das ABS sogar als eine Antwort auf das Centrum für Hochschulentwicklung und umschreibt die Ziele des Aktionsbündnisses wie folgt: "Es ging einerseits um politische Lobbyarbeit und um das Geschäft des Strippenziehens, andererseits aber – und viel stärker – um pointierte Auftritte und Stellungnahmen in der Öffentlichkeit und damit vor allem in den Medien."
Himmelrath, Armin: Das ABS in der medialen Wahrnehmung, in: Himpele, Klemens / Bultmann, Torsten (Hg.): Studiengebühren in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. 10 Jahre Aktionsbündnis gegen Studiengebühren: Rückblick und Ausblick, Marburg 2009, S. 239 – 244.
Informationen zum Buch und Bestellmöglichkeit: http://www.bdwi.de/show/1771954.html
Abschließend sei erneut daran erinnert, dass der Zusammenschluss in Vereinen, Parteien und gewählten Selbstvertretungsorganisationen eine sehr lange und zutiefst demokratische Tradition hat. Auch diese Institutionen und Personen beeinflussen natürlich die Bildungspolitik. Hier wären beispielsweise zu nennen:
Der freie zusammenschluss der studentInnenschaften (fzs), der Dachverband der lokalen Studierendenschaften. Hier werden die Interessen der bundesweit immatrikulierten Studierenden über eine Delegiertenprinzip gebündelt und vertreten: http://www.fzs.de
Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) ist der freiwillige Zusammenschluss der deutschen Hochschulen. Wie der Name bereits deutlich macht, vertreten hier aber ebenfalls nicht alle Mitglieder der Hochschule ihre Interessen, sondern die gewählten Universitätspräsidien koordinieren hier ihre politische Arbeit: http://www.hrk.de
Die etablierteste Einrichtung der Wissenschaftsberatung stellt der Wissenschaftsrat dar, der von Bund und Ländern getragen wird und in welchem die von den großen Forschungsorganisationen vorgeschlagenen WissenschaftlerInnen Stellungnahmen und Empfehlungen verfassen: http://www.wissenschaftsrat.de
Über die Geschichte des Wissenschaftsrates hat Olaf Bartz eine umfangreiche Forschungsarbeit verfasst:
Olaf Bartz: Der Wissenschaftsrat. Entwicklungslinien der Wissenschaftspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1957–2007, Stuttgart 2007.?Die zugehörige Dissertation ist hier als pdf verfügbar: http://deposit.d-nb.de/cgi-bin/dokserv?idn=981776116
Eine Interessensvertretung der UniversitätsprofessorInnen ist der Deutsche Hochschulverband (DHV), der sich 1950 wiedergegründet hat: http://www.dhv.de
Als Interessenvertretung professoraler Vorrechte wurde 1970 der "Bund Freiheit der Wissenschaft" (BFW) gegründet, dessen Gründung aus dem Kampf gegen die Demokratisierung der Hochschulen durch die Einführung paritätischer Universitätsgremien folgte. Die Gründungsmitglieder des BFW – der prominenteste: Wilhelm Hennis - rekrutierten sich zumeist aus dem Unterzeichnerkreis des sogenannten "Marburger Manifests", das 1968 in der FAZ erschienen war und sich gegen die Drittelparität an den Hochschulen wandte. http://www.bund-freiheit-der-wissenschaft.de
Die Gründungsgeschichte des BFW wurde 1984 in einer Dissertation beschrieben, welche deutliche Sympathien für den Verband erkennen lässt: Theißen, Johannes T., Die Rolle der Interessenverbände im Hochschulbereich unter besonderer Berücksichtigung von "Bund Freiheit der Wissenschaft" und "Bund demokratischer Wissenschaftler", Diss. Bonn 1984.
Als explizites Gegengewicht zum BFW verstand sich der 1968 bzw. 1972 gegründete Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi), zu dessen Gründungsmitgliedern neben Jürgen Habermas auch Wolfgang Abendroth gehörte. Er ist bis heute bildungspolitisch aktiv und trägt die aktuelle Textreihe, zu der diese Literaturliste gehört. (http://www.bdwi.de)
Die Geschichte und Wirkung verschiedener Interessensvertretungen und Lobbygruppen im Hochschulbereich kann in der einschlägigen Dissertationsschrift von Andreas Keller nachgelesen werden:
Andreas Keller, Von der Ordinarienuniversität zur Hochschulrevolte. Selbstverwaltung und Mitbestimmung in der Ordinarienuniversität, der Gruppenuniversität und der Hochschule des 21. Jahrhunderts, Marburg 2000.
Für eine schnellere Lektüre: Andreas Keller, Von der Ordinarienuniversität zur Gruppenhochschule: Interessengruppen im Hochschulsystem. In: Barbara Nohr (Hg.): Kritischer Ratgeber Wissenschaft Studium Hochschulpolitik, Marburg 2000 (Reihe Hochschule, Bd. 3). S. 187-197.